Europatage

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Beitragsfoto: Mädchen mit Europaflagge | © Shutterstock

Seit 31 Jahren ist es der erste Europatag, an dem meine bessere Hälfte und ich nicht mit der Ausrichtung des Treffpunkts Europa beschäftigt sind; deshalb war das Aufstehen heute Morgen auch sehr ungewohnt, und wir konnten beide auch eine gewisse Leere verspüren. Auch wenn wir heute durch einige Videokonferenzen gebunden sind, so regt dieses Fehlen eines Fests der Völkerverständigung doch verstärkt zum Nachdenken an.

Deshalb schreibe ich auch heute zwischen den Konferenzen, die sich alle sehr unterschiedlich mit dem Thema „Europatag“ auseinandersetzen, über die Europatage der beiden heutigen Europas, nämlich dem Europarat und der Europäischen Union. Um das Ganze nicht zu überfrachten, lasse ich dabei die NATO (4. April) und die Vereinten Nationen (24. Oktober) aus dem Spiel.

Die regelmäßigen Leser meines Blogs werden feststellen, dass das Thema „Europatag“ von mir seit inzwischen 15 Jahren aus den unterschiedlichsten Blickrichtungen heraus betrachtet wird; der erste entsprechende Beitrag dürfte wohl aus dem Jahr 2006 stammen.

Der erste richtige, weil auch von der gesamten Bürgerschaft Europas wahrgenommene Europatag war dabei der 5. Mai, der sich auf die Gründung des Europarats in Straßburg am 5. Mai 1949 bezog. Ursprünglich wurde der Europatag aber von der europäischen Gemeindeorganisation auf den zweiten Mittwoch im März festgelegt und war nie sehr populär.

Mit der vom französischen Außenminister Robert Schuman am 9. Mai 1950 gehaltenen Rede, die die heutige Europäische Union initiierte, kam ein weiterer Tag hinzu, der ebenfalls und mit voller Berechtigung als Europatag gefeiert werden konnte.

1965 einigten sich dann die Vertreter von Europarat und den damaligen Europäischen Gemeinschaften, die mit dem „Fusionsvertrag“ 1965 entstanden, auf den 5. Mai als gemeinsamen Europatag der beiden Europas. Die damalige Begründung war sehr einfach, da sie dem Europatag des größeren Europas den Vortritt gab.

Über 20 Jahre hinweg wurde der 5. Mai dann in ganz Europa als Europatag begannen, konnte dabei meines Wissens aber nie den Status eines Feiertages erlangen.

Als 1985 Bundespräsident Richard von Weizsäcker den 8. Mai 1945 ganz offiziell auch für Deutschland nicht nur als Tag der Kapitulation und Niederlage, sondern auch als Tag der Befreiung Deutschlands von der Nazi-Herrschaft anerkannte, kam es in Europa zu einer weiteren fundamentalen Veränderung, die im ersten Vertrag von Schengen resultierte, mehrheitlich die Europäer dazu bewegte, die Römischen Verträge ändern zu wollen und zudem den 9. Mai als neuen Europatag festlegte, der dann erstmals 1986 als solcher offiziell begangen wurde.

Für mich gehört aber auch der Beginn der Perestroika, die Michail Gorbatschow 1986 einleitete, dazu, denn 40 Jahre nach Kriegsende in Europa hatte Europa insgesamt mit der Rede Weizsäckers eine ganz neue Qualität erreicht und begann die letzten totalitären Gedankengänge abzuschütteln.

Eingedenk der Tatsache, dass gestern und heute am 9. Mai 2020 viele Europäer dem Kriegsende und dem Verlust an Menschen in Europa gedenken, rufe ich uns allen in Erinnerung, dass zwar am 8. Mai der Zweite Weltkrieg in Europa endete, aber mit Hiroschima am 6. August 1945 und Nagasaki am 9. August 1945 eine ganz neue Qualität erreichte und erst mit der Kapitulation Japans am 2. September 1945 so langsam weltweit mit insgesamt über 55 Millionen Toten sein Ende nahm; und dennoch kam es auch noch danach zu weiteren Vertreibungen, Umsiedlungen, Mord und Totschlag. In Europa alleine waren davon u. a. Deutsche, Polen, Kosaken und Juden betroffen.

Eins ist aber gewiss, man kann den 9. Mai als Europatag nicht ohne den 8. Mai, dem Ende des Nazi-Terrors in Europa, gedenken. Das hatten nicht nur Konrad Adenauer, Jean Monnet und Robert Schuman erkannt, sondern auch Richard von Weizsäcker, der am 8. Mai 1985 eine für Europa wegweisende Rede hielt, aus der heraus auch Michail Gorbatschow die richtigen Konsequenzen zog.

Interessant ist es weiterhin, dass selbst der 9. Mai bis heute in Europa kein Feiertag ist und, wenn man die jüngsten Entwicklungen in der Europäischen Union betrachtet, wohl so schnell nicht werden wird.

Die beiden Europatage vertreten dabei bis heute zwei unterschiedliche Modelle Europas, und die Versuche von bekennenden Europäern, diese beiden Tage gar in einer Europawoche zusammenzuführen, was übrigens eine sehr europäische Lösung wäre, ist nur in manchen Orten Europas erfolgreich, so wie bis heute in Heilbronn, wo man seit Jahren versucht, den Treffpunkt Europa mit weiteren Aktionen zu verknüpfen, wie z. B. einem Empfang des Oberbürgermeisters für Heilbronner mit Zuzugsgeschichte, Informationsständen, Preisausschreiben, Europa-Rallyes oder einer Kundgebung für Europa! auf dem Kiliansplatz und somit die Europawoche möglichst für alle Unionsbürger mit Leben erfüllt.

Wir alle sollten uns gerade heute an diesem besonderen Europatag überlegen, was für ein Europa wir eigentlich haben möchten; und, dass es ohne ein gemeinsames Europa geht ist dabei außer Frage.

Ganz plakativ kann man die Frage wie folgt formulieren. Wollen wir ein Europa des 5. Mai, also einen möglichst losen Staatenbund, der sich, wenn überhaupt, nur auf Minimallösungen einigt und diese dann auch nur bei gutem Wetter in nationale Maßnahmen um- und bei erstbester Gelegenheit wieder aussetzt?

Oder wollen wir ein Europa des 9. Mai, das sich seiner Verantwortung (8. Mai) bewusst ist, also einen europäischen Bundesstaat?

Dass die bisher erreichte „Zwitterlösung“, die weder Fisch noch Fleisch ist, nicht funktioniert und auch nicht funktionieren kann, sehen wir angesichts der gerade heute aktuellen Herausforderungen, wie Pandemien, Erderwärmung, verstärkte Migration und Überalterung unserer Gesellschaften.

Und die ewige Behauptung der Institutionalisten unter uns Europäern, dass man letztendlich und ganz folgerichtig den europäischen Bundesstaat in kleinen Schritten erreicht, kann nach über 70 Jahren, wo sich bereits die meisten Menschen nicht mehr daran erinnern können, warum man damals überhaupt losgelaufen ist, immer weniger überzeugen.

Dafür werden die uralten Mahnungen der Konstitutionalisten unter uns Europäern immer lauter, die besagen, dass wir Unionsbürger mit oder auch ohne unsere Volksvertreter die Initiative zurück gewinnen und der Demokratie wie auch Europa und damit allen Menschen zu ihrem ureigenen Recht verhelfen müssen, denn ansonsten gewinnen erneut die Nationalisten und in deren Fahrwassern die Totalitaristen bis hin zu den Rassisten.

Der heutige 9. Mai lädt deshalb dazu ein, nicht nur diesen Tag als gesamteuropäischen Feiertag, sondern auch dazu, um von unseren Volksvertretern einen europäischen Konvent zu fordern, bei dem die Zivilgesellschaft maßgeblich mit beteiligt wird. Darüber hinaus müssen wir Europäer heute wieder einmal – nach 1945 und 1985 – unsere eigene Verantwortung anerkennen und allen antieuropäischen Bestrebungen eine klare Absage erteilen!

Jean Asselborn, der dienstälteste EU Außenminister, hat voll und ganz recht, die innereuropäischen Grenzen müssen heute am 9. Mai 2020 endlich fallen – und ich füge hinzu, dies auch für immer!

Die ewiggestrigen Seehofers dieser Welt zerstören nämlich in wenigen Wochen mehr als alle vernunftbegabten Politiker zusammen in Jahrzehnten aufbauen können!

Und was Konrad Adenauer wie auch Richard von Weizsäcker mit großen Mühen bereits aufgebaut haben, schmeißen unsere derzeitigen Akteure mit ihren Hintern wieder ein.

„For the idea of humanity, when purged of all sentimentality, has the very serious consequence that in one form or another men must assume responsibility for all crimes committed by men and that all nations share the onus of evil committed by all others. Shame at being a human being is the purely individual and still non-political expression of this insight.“

Hannah Arendt, Organized Guilt and Universal Responsibility (1948)

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