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Die Europäische Integration kommt voran (1986 – 2002)

Diesen Beitrag habe ich am 7. März 2012 im Zuge der Arbeit als Arbeitsgruppenleiter Geschichte der EUROPA-UNION Heilbronn geschrieben.

Die Sehnsucht nach dauerhaftem Frieden in Europa war eine wesentliche Triebfeder des europäischen Integrationsprozesses. Jürgen Habermas schrieb von der „Befriedung kriegerischer Nationen“ (1) Aber auch das Misstrauen und die Furcht vor einem größer werdenden Deutschland trieben diesen Prozess voran: „Auch wenn wir noch nicht herausgefunden hatten, wie wir den deutschen Moloch in die Schranken weisen konnten, so hatten wir doch offenbar den Willen dazu“, schrieb Margaret Thatcher über ein Treffen mit Francois Mitterand im Vorfeld der deutschen Wiedervereinigung (2). Bundeskanzler Helmut Kohl beteuerte seinerzeit, die deutsche Wiedervereinigung solle nicht auf Kosten des europäischen Integrationsprozesses gehen, sondern ihn stärken (3).

Die Vorgeschichte und die wesentlichen Inhalte des am 1.11.1993 in Kraft getretenen Vertrags von Maastricht wurden in der Einleitung zum vorherigen Kapitel dargestellt und sollen hier nicht wiederholt werden. Beschrieben wurden auch die Schwierigkeiten in einer Reihe von Ländern bei der Ratifizierung des Vertrags, durch den die Europäische Gemeinschaft (EG) zur Europäischen Union (EU) weiterentwickelt wurde. Mit Maastricht wurden nationale Rechte und Zuständigkeiten auf die Union übertragen, die weit über das bisher gemeinschaftlich geregelte Feld der Wirtschaft hinausgingen.

Gerhard Brunn beschreibt die Entwicklungslinien in jener Zeit: „In den neunziger Jahren musste sich die Europäische Union in einer Welt, die sich in voller Bewegung befand und in der die USA auf allen Gebieten die unumstrittene Führungsrolle innehatten, behaupten. „Globalisierung“ wurde zum Leitbegriff dieser Jahre, in der die weltweite Mobilität von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Menschen sich unaufhörlich intensivierte“ (4)
Allerdings hatte die EU, die angetreten war mit dem Versprechen, die einzelnen Länder seien weniger in der Lage, den Herausforderungen der globalisierten Welt zu begegnen, dass man daher gemeinsam handeln müssen, in den Augen vieler Menschen dieses Versprechen nicht gehalten. Viele übernahmen allzu gerne das Bild von der unbeweglichen Bürokratie in Brüssel, und in der Tat bot die EU immer wieder das Bild uneiniger Länder und Politiker, die mehr die Stimmungen im eigenen Land im Auge hatten und weniger europäisch dachten. In der Mitte der neunziger Jahre gingen „die schönen Tage des herzlichen Einvernehmens zwischen Frankreich und Deutschland, zwischen Mitterand und Kohl zu Ende. Damit geriet auch der Antriebsmotor der weiteren Europäischen Entwicklung ins Stocken“ (5).

Doch die Entwicklungen in Europa und in der Welt wartete nicht, bis sich die EU wieder sortiert hatte. Von 1958 bis 1986 hatten die Römischen Verträge – sieht man von geringen Änderungen ab – gehalten. Innerhalb von nur eineinhalb Jahrzehnten gab es in Europa aber tief greifende Veränderung. Zu nennen ist der große Erweiterungsprozess und mit diesem zusammenhängend die Debatten um die Verfasstheit der Union. Mit der Einführung der gemeinsamen Währung, dem Euro, wurde die Gemeinschaft vor gewaltige Herausforderungen gestellt. Doch es wäre falsch, den Europäischen Integrationsprozess der neunziger Jahre ausschließlich negativ zu bewerten.

Heute ist schon fast vergessen und zur europäischen Selbstverständlichkeit geworden, dass durch das 1985 vereinbarte „Schengener Abkommen“ die Personenkontrollen zwischen zunächst fünf Staaten wegfielen. Brunn bezeichnet das „Schengener Abkommen“ als „Musterbeispiel für eine erfolgreiche Integrationsstrategie, mit der eine Avantgarde durch die überzeugenden Ergebnisse ihres isolierten Vorgehens, die zögernde Gemeinschaft insgesamt für eine vertiefte Integration gewinnen kann (6). Weitere Staaten stießen später dazu und mit dem Amsterdamer Vertrag von 1997 wurde „Schengen“ insgesamt verbindlich. Wie wichtig die offenen Grenzen innerhalb der EU bewertet werden zeigte sich, als im Sommer 2011 Dänemark – begründet mit der Verbrechensbekämpfung aber tatsächlich aus innenpolitischen Gründen – die Grenzkontrollen wieder einführte. Dass nach den Wahlen die neue dänische Regierung die Kontrollen wieder abschaffte, wurde nicht zuletzt in Deutschland begrüßt.

Gegenwärtig (Stand: März 2012) gilt das Schengener Abkommen in 26 europäischen Ländern; darunter sind auch Norwegen, die Schweiz, Island und Liechtenstein, die der EU nicht angehören. Die Aufnahme von Bulgarien und Rumänien in den Schengen-Raum scheiterte bei der Sitzung des Europäischen Rates in Brüssel am 1.3.2012 am Widerstand der Niederlande (7).

Das britische Beitrittsdrama

Am 25.3.1957 unterzeichneten die Vertreter von sechs europäischen Staaten in einer feierlichen Veranstaltung im Konservatorenpalast in Rom ein Vertragswerk, das als die „Römischen Verträge“ in die Geschichte Europas eingehen sollte. Zum 1.1.1958 war die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) Wirklichkeit geworden. Erst 15 Jahre später, 1973, stieß Großbritannien – zusammen mit Dänemark und Irland – zur „Gemeinschaft der Sechs“; 1981 kam Griechenland hinzu und 1986 Spanien und Portugal. Oberflächlich betrachtet könnte man meinen, die Erweiterung der Gemeinschaft sei der am wenigsten komplizierte Bereich des europäischen Integrationsprozesses. Dass dem nicht so ist, zeigt die komplizierte Beziehungsgeschichte zwischen Großbritannien und der EWG. Großbritannien brachte zum einen seine Geschichte als ehemalige Weltmacht mit, seit Ende des Zweiten Weltkriegs zwar im Niedergang befindlich aber immer noch mit engen und besonderen Beziehungen zu den Mitgliedern des Commonwealth. Der Wirtschaftsmacht Großbritannien lag aber auch daran, durch die gemeinsamen Außenzölle der EWG nicht vom Kontinent ausgeschlossen zu sein. Doch es gab nicht nur wirtschaftliche Aspekte; die Frage war auch, was – über das Wirtschaftliche hinaus – aus dieser jungen EWG werden sollte. Die Londoner Vorstellungen kreisten immer wieder um den Begriff einer „großen Freihandelszone“, die eine reine Wirtschaftsorganisation sein sollte. London legte im November 1956 ein entsprechendes Konzept vor; die Verhandlungen darüber begannen erst ein Jahr später, nach der Ratifizierung der Römischen Verträge. Der französische Präsident Charles de Gaulle – heute würde man ihn vielleicht einen Europa-Skeptiker nennen – nutzte die britischen Vorschläge in der ihm eigenen Weise: Einerseits kämpfte er als Verfechter eine Europas souveräner Vaterländer gegen eine weitere europäische Integration; andererseits beendete er 1958 die weiteren Verhandlungen der EWG und Großbritanniens über die „große Freihandelszone“. De Gaulle befürchtete, dass Großbritannien in einer solchen Konstruktion eine starke Führungsrolle zufallen würde. Die Folge war, dass sieben Länder – parallel zur EWG - eine kleine europäische Freihandelszone gründeten; das Abkommen der European Free Trade Association (EFTA) trat am 3.5.1960 in Kraft. Aus unterschiedlichen Gründen wandten sich die EFTA-Staaten gegen die Einschränkung ihrer wirtschaftspolitischen Souveränität. „Großbritannien spielte in dieser Gruppe die Rolle eines Riesen unter Zwergen; außerdem gedachte London mit der Trumpfkarte EFTA seine Verhandlungsposition gegenüber der EWG zu verbessern. Als Trumpf konnte die EFTA in den folgenden Jahren nicht dienen. Die EWG nahm sie nicht ernst“ (8)

Die Erwartungen des Industrielandes Großbritannien erfüllten sich nicht. Die wirtschaftlichen Interessen der EFTA-Staaten waren zu verschieden. Im Juli 1961 stellte London den Antrag auf EWG-Aufnahme, der im Januar 1963 von de Gaulle blockiert wurde. Im Mai 1967 stellten die Briten erneut einen Antrag – ein halbes Jahr später kam erneut das „Non“ de Gaulles. Erst nach dessen Rücktritt 1969 kamen die Beitrittsverhandlungen voran. „Doch als Großbritannien, Dänemark und Irland 1973 schließlich aufgenommen wurden, konnten sie – anders als britische Politiker gehofft hatten – die Strukturen der Europäischen Gemeinschaft nicht mehr beeinflussen“ (9). Die Gemeinschaft hatte nun neun Mitglieder. Über den EFTA-Umweg und 18 Jahre nach dem Ausstieg aus den Messina-Beratungen (1955) war Großbritannien EWG-Mitglied geworden. Ob das Land und seine Bevölkerung damit in Europa angekommen war ist noch immer zweifelhaft. Die britische Premierministerin Margaret Thatcher (Amtszeit 1979 – 1990) lieferte anlässlich einer Rede vor dem Europa-Kolleg in Brügge am 8.9.1988 ein Beispiel für diese britische Distanz: Die europäische Gemeinschaft sei kein Ziel an sich. „Die grundsätzliche Vorstellung ist vielmehr, dass dieses Europa sich auf die Zusammenarbeit zwischen souveränen und unabhängigen Staaten gründen müsse.“ Damit war Thatcher in den Spuren von Charles de Gaulle angekommen, doch dieser hatte bereits 1969 mit seinem Rücktritt die europäische Bühne verlassen. Andererseits reklamierte Thatcher ein historisches Engagement ihres Landes auf dem Kontinent: Europa sei keineswegs durch die „Römischen Verträge“ geschaffen worden, sondern wesentlich älter. Seit der Magna Charta von 1215 habe Großbritannien mehr als jede andere Nation europäische Geschichte geschrieben (10). Diese rückschauende Geschichtsbetrachtung war für den europäischen Integrationsprozess nicht nur in der Thatcher-Ära belastend.

Zurück ins demokratische Europa – Die Süderweiterung

„Die Europäische Union konnte sich nicht ausschließlich auf die Probleme ihrer Vertiefung konzentrieren. Sie musste auch den Ländern antworten, die an ihre Tür klopften“ (11). Jacques Delors schrieb dies mit Blick auf die EFTA-Staaten Schweden, Norwegen, Finnland, Schweiz, Irland und Liechtenstein, die mit dem EWG-Beitritt Großbritanniens gewissermaßen
heimatlos geworden waren. Doch diese Aussage hätte er auch mit Blick auf Griechenland, Spanien und Portugal machen können. Alle drei Länder hatten ein ähnliches Schicksal durchlaufen müssen und alle drei befreiten sich Mitte der siebziger Jahre von ihren autoritären Regimes. Alle drei lagen wirtschaftlich weit zurück. Dem Wunsch auf EG-Beitritt lagen gewiss wirtschaftliche Interessen zu Grunde, aber – so schreibt Gerhard Brunn, „ihr Wunsch auf Teilhabe an der europäischen Integration ging in erster Linie darauf zurück, im Rahmen der EG politische Stabilität zu finden (12). Und dieser Wunsch ging in Erfüllung: „… nicht nur die wirtschaftlichen Fortschritte seit den achtziger Jahren sind erstaunlich, sondern auch die politischen. In allen drei Ländern sind die Demokratien inzwischen so stark verwurzelt, dass die Wiederkehr einer Diktatur oder eines autoritären Regimes in jedem der drei Länder ausgeschlossen scheint“ (13).

Der EG-Beitritt Griechenlands erfolgte zum 1.1.1981. Die Verhandlungen mit Spanien und Portugal zogen sich über weitere fünf Jahre hin und waren zeitweilig sogar unterbrochen. Es ging immer wieder um Landwirtschaftsfragen; diskutiert wurde über Fische, Obst, Gemüse und Olivenöl. Zum 1.1.1986 war der Beitritt von Spanien und Portugal perfekt.

Norderweiterung – der Rest der EFTA

Verglichen mit den Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien verliefen die Verhandlungen mit dem wesentlichen Rest der EFTA-Staaten recht problemlos. Im Mai 1992 beschlossen die EG und die EFTA-Staaten die Schaffung eines Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) – gewissermaßen als Vorstufe für den Beitritt. Allerdings verließ die Schweiz im Dezember 1992 dieses Vorfeld der europäischen Arena; die Mehrheit der Eidgenossen hatte sich in einer Volksabstimmung gegen den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum ausgesprochen. Auch bei den übrigen EG-Beitrittskandidaten gab es Volksabstimmungen: die Österreicher, die Finnen und die Schweden votierten für den Beitritt. Die Norweger lehnten am 28.11.1994 den EG-Beitritt ab. Dazu verwies Gerhard Brunn auf eine Spaltung des Landes zwischen „reich“ und „arm“. „Die armen Regionen des Nordens und die Gruppen am unteren Ende der sozialen Leiter stimmten für Nein, ebenso die Jungen und häufig die Frauen“ (14). Damit werden mit Blick auf den europäischen Integrationsprozess gleich mehrere Phänomene angesprochen, die auch in anderen Ländern erkennbar sind. Was ist zu tun, um das Projekt Europa nicht in erster Linie als ein Projekt der Eliten der jeweiligen Länder erscheinen zu lassen? Eines Tages wird Norwegen wieder einen Beitrittsantrag stellen. Es macht heute keinen Sinn, darüber zu spekulieren, wie die Verhandlungen dann laufen werden, etwa wenn die Ölreserven unter der Nordsee erschöpft sind. Und was wird auf längere Sicht aus der Schweiz?

Zum 1.1.1995 wurden Österreich, Finnland und Schweden Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft.

Die große EU-Osterweiterung

Warum brach der Kommunismus 1989 so plötzlich zusammen? Tony Judt verweist auf eine besondere Spielart der „Dominotheorie“: „Sobald die kommunistische Führung in einem Lande stürzte, war ihre Legitimation in anderen fatal geschwächt. Die Glaubwürdigkeit des Kommunismus beruhte teilweise auf seiner Behauptung, die Notwendigkeit zu verkörpern, das logische Produkt des historischen Fortschritts, eine Tatsache des politischen Lebens, eine unvermeidliche Gegebenheit der modernen Landschaft zu sein“ (15).
Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama rief 1992 – gestützt auf eine moderne Variante der Hegelschen Dialektik -- in seinem berühmt gewordenen Buch „Das Ende der Geschichte“ aus (16). Doch die Geschichte ging weiter – auch in Europa.

Der ehemalige Ostblock zerbrach in viele kleine Stücke. Im Laufe der neunziger Jahre verschwanden vier überkommene Staaten von der europäischen Landkarte (die UdSSR, die Tschechoslowakei, Jugoslawien und die sechs westlichen Republiken der Sowjetunion), während 14 andere neu entstanden oder wieder entstanden (17). Die aktuelle Frage war nicht nur: Warum? Sondern vor allem: Was soll aus den wieder entstandenen kleinen Staaten werden? Welche Bedeutung auf ihre Entwicklung hatte die Perspektive, eines Tages wieder nach Europa zurückzukehren? Für viele Menschen dort war das Gegenteil von „Kommunismus“ nicht „Kapitalismus“ sondern „Europa“, jenes neue Gebilde „Europäische Gemeinschaft“, gestützt auf bewusst europäische Werte, mit denen sich Osteuropäer ohne Mühe identifizieren konnten (18).

Der frühere Kommissionspräsident Jacques Delors nimmt einen anderen Blickwinkel. Sehr einfühlsam beschreibt er für die künftigen EU-Mitglieder das Spannungsverhältnis zwischen der wieder gewonnenen Souveränität auf der einen Seite und den Perspektiven der Integration in die Union: „Wir sollten verstehen, dass sie in dem Augenblick, als sie dem Kommunismus entkommen sind, die Notwendigkeit verspürten, ihren Willen zum Zusammenleben auf nationaler Ebene bekräftigen und so zur Würde ihrer Nation zurückfinden wollten. Im gleichen Augenblick laden wir sie nun ein, diese Souveränität zu teilen und einen Teil an die Union abzutreten! Wir können getrost einräumen, dass das nicht immer leicht ist“ (19).

Die Verhältnisse und die Ausgangssituation war jedoch von Land zu Land verschieden: „Mit der Idee, auf irgendeine Weise nach Europa zurückzukehren, ließen sich … die Gefühle der Menschen in der Tschechoslowakei eher mobilisieren, als in Rumänien, wo der Wusch, einen Diktator zu stürzen und Essen auf den Tisch zu bekommen, Vorrang hatte“ (20).

Auf dem EU-Gipfel am 21./22.6.1993 in Kopenhagen wurde die Osterweiterung zur offiziellen Politik der Gemeinschaft erhoben. Dabei wurden die Kriterien festgelegt, die die Beitrittskandidaten zu erfüllen hatten: „Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muss der Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als Garantie für eine demokratische Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben …“ (21).
Etwas flexibel wurde beschrieben, wo die Granzen für die Aufnahme neuer Mitglieder für die Gemeinschaft zu ziehen sind: „Die Fähigkeit der Union, neue Mitglieder aufzunehmen, dabei jedoch die Stoßkraft der europäischen Integration zu erhalten, stellt ebenfalls einen … wichtigen Gesichtspunkt dar“ (22).

Tony Judt schreibt von einer Eigendynamik des Erweiterungsprozesses, „ungeachtet aller weiterhin bestehenden Befürchtungen zahlreicher alter Mitgliedsstaaten und eines verbreiteten Mangels an Begeisterung, den die Bevölkerungen dieser Länder in Meinungsumfragen bekundeten“ (23). Will heißen, die Erweiterung der Gemeinschaft und die Vertiefung der europäischen Integration liefen mehr oder weniger gegen die breite Volksmeinung. Europa war – und ist auch noch heute – nicht genügend demokratisch verwurzelt. Nur so lässt sich erklären, dass etwa Fragen wie die Dolmetscherkosten im Europäischen Parlament oder die europäischen Amtssprachen zu öffentlichen Aufregern werden können.

Mit jedem Beitrittskandidaten wurde getrennt verhandelt. Die dafür zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kommission, unter Leitung des von 1999 – 2004 für die Erweiterung zuständigen Kommissars Günter Verheugen, hatten ein immenses Arbeitspensum zu erledigen.

Am 1.5.2004 wurden Polen, Tschechien, Ungarn, die Slowakei, Slowenien, Litauen, Lettland, Estland, Malta und der griechische Teil Zyperns in die EU aufgenommen; am 1.1.2007 kamen Bulgarien und Rumänien hinzu. In den 27 EU-Staaten leben nun rd. 500 Mio. Menschen.

Wer noch auf der Warteliste steht

Den offiziellen Status eines Beitrittskandidaten haben folgende Staaten erhalten:

Kroatien: seit 18.6.2004. In einem Referendum haben am 22.1.2012 über 60 Prozent der Kroaten für den EU-Beitritt gestimmt (24).

Island: Die offiziellen Beitrittsverhandlungen laufen seit 27.7.2010 (24)

Türkei: Beitrittskandidat seit 11.12.1999; die Beitrittsverhandlungen laufen seit 3.10.2005.
Grundlage dafür war das Ankara-Abkommen zwischen der Türkei und der EWG vom 12.9.1963, das der Türkei die Möglichkeit eines späteren Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum eröffnete (25).
Die EU-Mitgliedschaft der Türkei wird sowohl auf der politischen Ebene als auch in der breiten Öffentlichkeit in Europa höchst kontrovers diskutiert. Grob gesprochen sind insbesondere Konservative gegen die türkische EU-Mitgliedschaft, Liberale und Sozialdemokraten eher dafür. In Deutschland haben sich jedoch auch Politiker der CDU, für den EU-Beitritt der Türkei ausgesprochen (26).

Als Beitrittskandidaten ohne laufende Verhandlungen werden gegenwärtig geführt:

Mazedonien: Beitrittskandidat seit 17.12.2005 (24).

Montenegro: Kandidatenstatus seit 17.12.2010 (24).

Serbien: Beitrittskandidat seit 1.3.2012 (24).

Albanien hat die EU-Mitgliedschaft am 28.4.2009 beantragt (24).

Darüber hinaus gibt es eine Reihe möglicher künftiger Beitrittskandidaten und Staaten, die den EU-Beitritt noch nicht beantragt haben. Ein weiteres Wachsen der Europäischen Union ist zu erwarten.

Quellen- und Literaturverzeichnis

(1) Habermas, Jürgen: „Zur Verfassung Europas“; Edition Suhrkamp (2011), S. 10
(2) Thatcher, Margaret; zitiert in Judt, Tony „Geschichte Europas von 1945 bis zur
Gegenwart“; Büchergilde Gutenberg (2005), S. 734
(3) Mai, Manfred: „Europäische Geschichte“; Büchergilde Gutenberg (2007), S. 194
(4) Brunn, Gerhard: „Die Europäische Einigung von 1945 bis heute“; Philipp Reclam
Stuttgart (2002), S. 280
(5) Brunn, Gerhard, a.a.O. S. 281
(6) Brunn, Gerhard, a.a.O. S., 285
(7) Sueddeutsche.de, 1.2.12: „Serbien erhält EU-Kandidatenstatus“
(8) Brunn, Gerhard, a.a.O. S. 136
(9) Judt, Tony: „Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart“; Büchergilde Gutenberg
(2005), S. 344
(10) Delors, Jacques: „Erinnerungen eines Europäers“ Parthos Verlag Berlin (2004), S. 399
(11) Delors, Jacques, a.a.O. S. 425
(12) Brunn, Gerhard, a.a.O. S. 245
(13) Brunn, Gerhard, a.a.O. S. 250
(14) Brunn, Gerhard, a.a.O. S. 288
(15) Judt, Tony, a.a.O. S. 722
(16) Wikipedia: “Francis Fukuyama”, Stand 12.2.12
(17) Judt, Tony, a.a.O. S. 731
(18) Judt, Tony, a.a.O. S. 725
(19) Delors, Jacques, a.a.O. S. 511
(20) Judt, Tony, a.a.O. S. 726
(21) Brunn, Gerhard, a.a.O. S. 404
(22) Brunn, Gerhard, a.a.O. S. 404/405
(23) Judt, Tony, a.a.O. S. 835
(24) Wikipedia: “Beitrittskandidaten für die Europäische Union”; Stand 5.3.12
(25) Wikipedia: „Assoziierungsabkommen EWG-Türkei“; Stand 8.12.11 und
„Beitrittskandidaten für die Europäische Union“, a.a.O.
(26) Polenz, Ruprecht: „Besser für Beide – Die Türkei gehört in die EU“,
Edition Körber-Stiftung Hamburg, (2010)

Heinrich Kümmerle hat auf diesen Beitrag reagiert.
Heinrich Kümmerle

Seitenaufrufe: 3.685 | Heute: 142 | Zählung seit 22.10.2023
  • Ergänzung: Die Inflation ist stärker als vor dem Euro?

    Nein. Seit 25 Jahren gibt es den Euro. Das Eurosystem (EZB + Nationale Zentralbanken) haben das Inflationsziel zwischen 1999 und 2020 im Durschnitt deutlich besser erreicht als es davor der Fall war. Die Phase der jetzigen Inflation in Folge der Corona-Krise und der Lieferengpässe und der Energiekrise hat die Preise weltweit 2021, 2022 getrieben. Die Inflation sinkt seit Ende 2022 kontinuierlich und nähert sich wieder den 2 % an.
    Darüber hinaus hat die gemeinsame Währung Europa Stabilität in diversen Krisen gegeben.
    Die gemeinsame Währung stützt den Binnenmarkt und hat Deutschland geholfen, starke Exportleistungen zu erzielen.

  • Zum Protokoll des Gesprächskreises „Europa jetzt!“ würde ich gerne hinzufügen, dass wir Teilnehmer auch darüber debattiert haben, wie „selbstverständlich“ Europa gerade für uns jüngeren geworden ist. Viele von uns kennen es gar nicht anders. Reisen ohne Grenzen, zahlen in Euro, keine Zollgebühren beim Onlineshopping, anders kennen wir es fast nicht. Es gilt, diese Freiheiten aufzuzeigen um das Interesse an Europa zu wecken.
    Ebenso war sich der Großteil der Gruppe einig, dass wir keine Angst haben, sondern Bedenken und Unsicherheit empfinden, wenn wir die aktuellen Entwicklungen beobachten.

    • Wie wir feststellen durften ist die Halbwertszeit solcher Runden nicht ausreichend, um ein Forum nur annähernd zu füllen. Wo die Unverbindlichkeit zum Prinzip erhoben wurde, muss man tatsächlich über ganz neue Kommunikationskanäle nachdenken.