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Die Zukunft der Europäischen Union – Eine neue Verfassung, schrittweise Weiterentwicklung, oder was sonst?

(22. August 2020)

Am 13.8.20 berichtete die Süddeutsche Zeitung unter der Überschrift „Europas Schicksal treibt ihn um“ über die Sorgen des Milliardärs und Philanthropen George Soros um die Zukunft Europas. Der vor kurzem 90 Jahre alt gewordene und in Ungarn geborne Soros warnt davor, dass die Europäische Union auseinander driftet. Soros fördert mit seiner Stiftung den Aufbau offener Gesellschaften, vor allem in Osteuropa. Sein Geburtsland Ungarn hat ihm dies nicht gedankt: Die Central European University in Budapest musste schließen, obwohl der ungarische Regierungschef Viktor Orban mit einem Soros-Stipendium in Oxford studieren konnte.

Doch nicht nur George Soros, auch viele andere Europäer und europäischen Organisationen treibt die Sorge um die Zukunft Europas um. Die meisten sind sich darüber einig, dass der europäische Integrationsprozess wieder in Fahrt kommen muss. Es darf in Europa keinen selbstgefälligen Stillstand geben. Die in Artikel 1 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) abgedruckte und fast unscheinbare Formulierung über die „Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ muss stärker in den Vordergrund treten. Der in Artikel 2 EUV aufgeführte Wertekatalog der Europäischen Union und die für alle Mitgliedstaaten verbindliche Charta der Grundrechte der EU machen deutlich, dass die Union seit ihren Anfängen weit mehr geworden ist also eine Freihandelszone, deren Erfolg oder Misserfolg an den Bilanzen der Wirtschaftsunternehmen in den 27 Mitgliedstaaten abzulesen ist. Allerdings haben die langwierigen Diskussionen um den Rechtsstaatsmechanismus während und nach dem jüngsten Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs gezeigt, dass der inzwischen erreichte Stand der Integration noch nicht selbstverständlich geworden ist.

Es klingt merkwürdig, wie sich die Regierungen in Warschau und Budapest gegen den Vorwurf der Verletzung der EU-Werte zur Wehr setzen; dessen Berechtigung schon in mehreren Verfahren vor dem EuGH bestätigt wurde. Polen und Ungarn reagieren darauf ähnlich wie China, wenn es um Hongkong geht: Man pocht auf die eigene Souveränität und verwahrt sich gegen die Einmischung in die „inneren Angelegenheiten“. Doch es gibt dabei einen wesentlichen Unterschied: Polen und Ungarn haben die Einhaltung der europäischen Werte beim EU-Beitritt unterschrieben und zugesichert. Christian Moos, der Generalsekretär der Europa-Union Deutschland stellt dazu in Nr. 3/2020 der Europa-Union-Zeitschrift „Europa aktiv“ fest: „Auf welchen Wegen und Umwegen wir schlussendlich das ersehnte Ziel eines europäischen Bundesstaats erreichen, ist von nachrangiger Bedeutung. Seine freiheitliche Verfasstheit darf nicht in Zweifel stehen.“
In Sachen Rechtsstaatlichkeit richten sich nun alle Augen auf das Europäische Parlament, das den Beschlüssen des Rats noch zustimmen muss und m.E. zurecht bereits Änderungen und Ergänzungen angemahnt hat. Doch auf welchen „Wegen und Umwegen“ kann das Ziel eines europäischen Bundesstaats erreicht werden?

Javier Giner, ein Vorstandsmitglied der mir bisher nicht bekannten Federal Alliance of European Federalists (FAEF) hat dem Forum des Kreisverbands Heilbronn der Europa-Union den Entwurf einer Europäischen Bundesverfassung übermittelt, den seine Organisation ausgearbeitet hat. Die Kernforderung der FAEF ist im Internet zu finden und lautet: „Errichtung der Vereinigten Staaten von Europa auf der Grundlage eine föderalen Verfassung.“ Diese Ausarbeitung verdient Respekt und fordert – wie viele andere Aussagen und Ausarbeitungen zur Zukunft der EU – dazu heraus, sich intensiv mit dem Europäischen Projekt zu beschäftigen. Die FAEF hat die Gefahr des Scheiterns der neuen Verfassung erkannt, die dann besonders groß ist, wenn sie gleichzeitig in allen 27 Mitgliedstaaten eingeführt werden soll. Noch ist in unguter Erinnerung, wie die im Konvent ausgearbeitete Verfassung 2005 am „Nein“ der Wählerinnen und Wähler in Frankreich und in den Niederlanden gescheitert ist. Die neue Verfassung soll daher nach Auffassung der FAEF – gewissermaßen mit einer „Koalition der Willigen“ – über Artikel 20 EUV umgesetzt werden.

Auf die Darstellung von Details des Verfassungsentwurfs soll hier verzichtet werden; dies würde meinen Beitrag sprengen. Allerdings ist die Frage, welche Möglichkeiten in Artikel 20 EUV stecken interessant. Sie kann aber selbst einen zwar überzeugten aber im Europa-Vertragsrecht nicht bewanderten Europäer rasch in Verlegenheit bringen. Es geht in Artikel 20 EUV um die „Verstärkte Zusammenarbeit“ von mindesten neun Mitgliedstaaten mit dem Ziel, „die Verwirklichung der Ziele der Union zu fördern, ihre Interessen zu schützen und ihren Integrationsprozess zu stärken.“

Bisher ging ich davon aus, dass dieser EUV-Artikel vor allem ein Weg sein kann, in einzelnen Politikfeldern voranzukommen, in denen keine gemeinsame Lösung aller Mitglieder zu erreichen ist. Beispielhaft sei die Migrations- und Flüchtlingspolitik genannt. Für mich stellt sich die Grundsatzfrage: Erreicht man eine Stärkung des Integrationsprozesses, wenn neun oder auch mehr – jedoch nicht alle – EU-Mitgliedstaaten auf einer neuen und völlig anderen Rechtsgrundlage operieren als die anderen, nämlich auf einer föderalen Verfassung, mit anderen Organen, und anderen Entscheidungswegen während die übrigen Mitglieder sich nach wie vor auf den Lissabon-Vertrag stützen?

In Artikel 20 Abs. 4 wird beschrieben, welche Folgen solche unterschiedlichen Rechtsgrundlagen haben können. Abs. 4 lautet: „An die im Rahmen einer Verstärkten Zusammenarbeit erlassenen Rechtsakte sind nur die an dieser Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten gebunden. Sie gelten nicht als Besitzstand, der von beitrittswilligen Staaten angenommen werden muss.“ Eine Folge kann also sein, dass innerhalb der EU, im Grundsätzlichen, im Fundament der Union, unterschiedliches Recht entsteht. Arbeiten mindestens neun Mitglieder in einem Einzelfeld, etwa in der Migrations- und Flüchtlingspolitik zusammen, so sind an die dabei erlassenen Rechtsakte nur die beteiligten Mitglieder gebunden; die übrigen sind nicht berührt. Läuft aber die „Verstärkte Zusammenarbeit“ im Bereich der Rechtsgrundlage, beim Verfasst-Sein der Union, dann fürchte ich ein Auseinanderdriften der Mitgliedstaaten im Fundament des europäischen Hauses. Die eingangs zitierte Warnung von George Soros könnte dann eine ganz neue Dimension erhalten.
Vor kurzem wurde das Verfahren der „Verstärkten Zusammenarbeit“ nach Artikel 20 EUV in einer Veröffentlichung als Mittel der Flexibilisierung beschrieben (Ulrich Brasche: „Ever closer Union? – Wie sich die EU produktiv weiterentwickeln kann“; in „Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) – Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung, Nr. 23-25/2020, 2.6.2020). In der Abhandlung wird festgestellt, dass dieser Weg bisher nur bei wenigen Themen begangen wird; z.B. beim europäischen Patentrecht, beim Scheidungsrecht internationaler Paare, bei der Europäischen Staatsanwaltschaft und bei der ständigen strukturierten Zusammenarbeit in Militärprojekten. Im Anschluss daran folgt eine bedeutsame Feststellung zum Effekt des Weges über Artikel 20 EUV: „Doch auch die Einigung nach diesem Verfahren benötigt viel Zeit.“

Der Gesamttitel der zitierten APuZ-Ausgabe lautet: „Europäische Baustellen“. Eine Reihe von Autoren stellt sich den immer wieder aktuellen Fragen „Wie lässt sich die Union weiterentwickeln? Wie kann verhindert werden, dass andere dem britischen Beispiel folgen? Und wie geht man mit Mitgliedstaaten um, die sich in Fragen der gemeinsamen europäischen Werte wie der Rechtsstaatlichkeit schon innerhalb der Union von ihr entfernen?“ Johannes Piepenbrink schreibt im Editiorial: „Wenn es nach Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen geht, könnte er (der „Green Deal“) sich gerade in der jetzigen Krise als Chance erweisen.“ Trotz aller Ungeduld über die Langsamkeit des europäischen Integrationsprozesses sehe auch ich in der aktuellen Corona-Krise die Chance für einen neuen Anstoß. Die EU erschien in jüngster Zeit lernfähig und hat die Pandemie als Chance begriffen. Anders als bei der Finanzkrise und dem Austeritätsrezept der „schwäbischen Hausfrau“. das außerhalb der EU umgesetzt wurde, arbeiteten in der Corona-Krise – für viele Europäer überraschend – Frankreich und Deutschland zusammen und erreichten einen „europäischer Keynesianismus“, wie er Jacques Delors vorgeschwebt haben mag.

Mario Telò, Professor für Internationale Beziehungen an der Université libre de Bruxelles und der Universität LUISS in Rom, stellt in diesem Zusammenhang die Frage, ob der große Schritt vorwärts in Richtung eines geeinten Europas aber letztlich auch eine realistische Perspektive hat? (Mario Telò: „Ein Schritt vorwärts und zwei zurück – Die europäische Erzählung muss radikal erneuert werden“; in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Nr. 7/8-2020, S. 38). Frankreich und Deutschland haben „A“ gesagt, eigentlich müssten sie nun auch „B“ sagen bei der Weiterentwicklung Europas. Eine Perspektive könnte sein, mit einem EU-Finanzminister eine gemeinsame EU-Finanz- und Wirtschaftspolitik anzustoßen. Weitere Anstöße können aus dem Parlament kommen und schließlich: Was wird die nun auf Herbst verschobene „Konferenz zur Zukunft Europas“ bringen? Gelingt ein Durchbruch, etwas in der Sozial- und Kulturpolitik, damit die Bürgerinnen und Bürger noch mehr als bisher spüren: Dies ist unser Europa?

Heinrich Kümmerle hat auf diesen Beitrag reagiert.
Heinrich Kümmerle

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  • Ergänzung: Die Inflation ist stärker als vor dem Euro?

    Nein. Seit 25 Jahren gibt es den Euro. Das Eurosystem (EZB + Nationale Zentralbanken) haben das Inflationsziel zwischen 1999 und 2020 im Durschnitt deutlich besser erreicht als es davor der Fall war. Die Phase der jetzigen Inflation in Folge der Corona-Krise und der Lieferengpässe und der Energiekrise hat die Preise weltweit 2021, 2022 getrieben. Die Inflation sinkt seit Ende 2022 kontinuierlich und nähert sich wieder den 2 % an.
    Darüber hinaus hat die gemeinsame Währung Europa Stabilität in diversen Krisen gegeben.
    Die gemeinsame Währung stützt den Binnenmarkt und hat Deutschland geholfen, starke Exportleistungen zu erzielen.

  • Zum Protokoll des Gesprächskreises „Europa jetzt!“ würde ich gerne hinzufügen, dass wir Teilnehmer auch darüber debattiert haben, wie „selbstverständlich“ Europa gerade für uns jüngeren geworden ist. Viele von uns kennen es gar nicht anders. Reisen ohne Grenzen, zahlen in Euro, keine Zollgebühren beim Onlineshopping, anders kennen wir es fast nicht. Es gilt, diese Freiheiten aufzuzeigen um das Interesse an Europa zu wecken.
    Ebenso war sich der Großteil der Gruppe einig, dass wir keine Angst haben, sondern Bedenken und Unsicherheit empfinden, wenn wir die aktuellen Entwicklungen beobachten.

    • Wie wir feststellen durften ist die Halbwertszeit solcher Runden nicht ausreichend, um ein Forum nur annähernd zu füllen. Wo die Unverbindlichkeit zum Prinzip erhoben wurde, muss man tatsächlich über ganz neue Kommunikationskanäle nachdenken.