Um in den Foren mitdiskutieren zu können, müssen Sie angemeldet sein. Entweder nutzen Sie dazu das IndieWeb (Web-Sign-in) oder Sie lassen sich von mir für dieses Blog (E-Mail) registrieren. In beiden Fällen gehen Sie dann über die Anmeldung.

Bitte , um Beiträge und Themen zu erstellen.

Eine neue Verfassung für Europa oder weitreichende Änderungen der bestehenden Verträge?

(6. September 2020)

Eine neue Verfassung für Europa oder weitreichende Änderungen der bestehenden Verträge? Das europäische Krisenparadox: Motor der Integration oder der „Sog der Technokratie“.

Die politischen Voraussetzungen für die Umsetzung von grundlegenden Reformen der EU scheinen derzeit ungünstig; umso mehr schätze ich jede Initiative von europäischen Föderalisten und aus der Zivilgesellschaft diesen Prozess (wieder-) aufzunehmen.

Wichtig ist mir daran zu erinnern, dass das Projekt eines Europäischen Verfassungsvertrags bereits 2004 weit vorangeschritten war. Am 29. Oktober 2004 unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Rom den Vertrag über die Europäische Verfassung. Sie fasste die bisherigen Europäischen Verträge zusammen und fügte neue Elemente ein. Die Verfassung sollte bis zum 1. November 2006 von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ratifiziert werden. Dies geschah nach den jeweiligen nationalen Vorschriften entweder durch die Parlamente oder durch Volksabstimmungen. In Deutschland erfolgte dies mit der erforderlichen verfassungsändernden Mehrheit von jeweils Zweidritteln in Bundestag und Bundesrat.
In Frankreich und den Niederlanden lehnten die Bevölkerungen in Volksabstimmungen die Verfassung ab. Daraufhin wurde der Ratifizierungsprozess im Juni 2005 von den Staats- und Regierungschefs der EU bis auf weiteres ausgesetzt.
Nach langen Verhandlungen unter deutscher Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 einigten sich die Staats- und Regierungschefs im Juni 2007 in Brüssel auf einen Reformvertrag, den Vertrag von Lissabon, der am 1. Dezember 2009 in Kraft trat und die wesentlichen Elemente der Verfassung enthält.

Die nachfolgenden Krisen – die Eurokrise, die Ukrainekrise, die Flüchtlingskrise, die Brexit-Krise und die Corona-Krise haben seit Mitte der 2000er Jahre gleichzeitig eine tief greifende Demokratie- und Vertrauenskrise vieler Bürger*innen in die EU ausgelöst.

Alle institutionellen Reformen, mit denen die bestehenden Fehlkonstruktionen und Mängel der EU nachhaltig verbessert werden könnten und die eine Änderung der bestehenden Verträge verlangen, scheinen politisch blockiert.
Prof. Edgar Grange hat in einem Vortrag „Das neue Europa und seine Krisen, Auswege aus den Entscheidungsfallen“ im Jahr 2018 diese Situation prägnant beschrieben.
https://www.pw-portal.de/die-krise-der-europaeischen-union/40796-das-neue-europa-und-seine-krisen

Die EU-Kommission hat 2017 ein Weißbuch zur Zukunft Europas und weitere Reflexionspapiere zur sozialen Dimension, zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion, zur Zukunft der EU Finanzen, zur Verteidigung, und zur Globalisierung veröffentlicht.
https://ec.europa.eu/info/strategy/priorities-2019-2024/new-push-european-democracy/conference-future-europe_en

Sie wollte damit eine „breite Debatte“ initiieren, die „den ganzen Kontinent miteinbezieht, darunter das Europäische Parlament, die nationalen Parlamente, die Regionen und Kommunen und die gesamte Zivilgesellschaft“ (EU-Kommission 2017, S. 3).

Ende 2019 kündigten das Europäische Parlament und die europäische Kommission eine Konferenz zur Zukunft Europas an, die in den kommenden zwei Jahren neue Antworten für die Zukunft der Europäischen Demokratie formulieren und die nächsten Schritte der europäischen Integration vorzeichnen soll. Das Parlament möchte, dass Bürger jeden Hintergrunds, Vertreter der Zivilgesellschaft und Interessenvertreter auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene in die Festlegung der Prioritäten der EU einbezogen werden. Im Einklang mit den Anliegen der Bürger soll dies in einem „von unten nach oben gerichteten, transparenten, integrativen, partizipativen und ausgewogenen Ansatz“ geschehen.

Ein solcher zentraler Diskussionsprozess ist bislang offensichtlich - auch bedingt durch die Corona Krise – noch nicht so richtig in Gang gekommen.

Die Politisierungs und Politikverflechtungsfalle.
Wie Edgar Grange prägnant beschrieb, wird der europäische Integrationsprozess jedoch nicht nur durch Interessenkonflikte zwischen den Mitgliedstaaten blockiert, sondern auch durch die Folgen der Demokratie- und Vertrauenskrise in die Institutionen der EU.
Ein Ausdruck dieses Vertrauensverlusts ist das Erstarken neuer europaskeptischer politischer Bewegungen und Parteien, aber auch die Zunahme innerparteilicher Konflikte zu europapolitischen Themen in den etablierten Parteien.
Diese Politisierung hat den Entscheidungsspielraum politischen Entscheidungsträger jedoch nicht erweitert, sondern zunehmend eingeschränkt: Die Europapolitik war und ist in die „Politisierungs-Falle“ geraten:
Jede weitergehende Vertragsreform drohte – und droht noch immer – am Veto der Wähler*innen (insbesondere in nationalen Referenden) zu scheitern, so wie das bereits mit dem Verfassungsvertrag 2005 der Fall war. Aus diesen Gründen sehen die von der EU-Kommission vorgelegten Reformszenarien auch keine Änderung der bestehenden Verträge vor. Ziel der Kommission waren Reformen der EU ohne eine weitere Politisierung des Europathemas in den Mitgliedstaaten.
Und dennoch wird Europa - gerade wegen solcher politischer Blockaden seit einigen Jahren grundlegend verändert. Wie es Edgar Grange beschreibt, haben es die Handlungszwänge der Krisen und ihre Folgen nicht zugelassen, dass einfach nichts getan wird.
Durch die Krisen wurden die europäischen Institutionen und die Regierungen der Mitgliedstaaten immer wieder zu weitreichenden Entscheidungen und folgenreichen institutionellen Reformen gezwungen. Aber weil der Weg zu Vertragsreformen politisch blockiert ist, hat sich Europa auf andere Weise weiterentwickelt, es geriet in den „Sog der Technokratie“ (Habermas 2013).
Aber gerade durch die verschiedenen Krisenbewältigungspolitiken und die durch sie ausgelösten Umwälzungen wurde ein schleichender, informeller Umbau der EU in Gang gesetzt, durch den sie sich insgesamt grundlegend verändert hat und weiter verändern wird.
Häufig wird dies als das europäische Krisen Paradox beschrieben: Demnach würde das europäische Projekt durch Krisen nicht geschwächt, sondern sei aus jeder gestärkt herausgegangen.
Gerade die Konstruktionsmängel von Verträgen seien immer wieder Anlass für neue Integrationsschritte gewesen. Ein bestes Beispiel dafür liefert der jüngste EU Ratsgipfel auf dem grundlegende Vereinbarungen über den mehrjährigen EU Haushalt und das Sondervermögen des „Corana-Wiederaufbaufonds“ und deren Finanzierung getroffen wurden.

Zivilgesellschaftliches Engagement.
Die großen pro-europäischen und europaweiten Bürgerbewegungen wie die Europa Union und die europäischen Föderalisten sind allerdings nicht in dieser „Politisierungs und Politikverflechtungsfalle“ gefangen und sind nicht daran gehindert, weithin an ihren Zielen eines föderalen europäischen Bundestaates und einer einheitlichen integrierten Verfassung zu arbeiten - auch um die fehlende Motivation von oben durch Aktivitäten von unten, aus der Zivilgesellschaft zu erzeugen. (Habermas 2011, „zur Verfassung Europas“ S.128“)

Ich denke, dass es keinen Sinn macht dabei von Grund auf neu zu beginnen.
Vielmehr bietet es sich an, den bereits 2004 ausgehandelten Verfassungsentwurf als Diskussions-Grundlage zu nehmen und um den 2020 bestehenden „acquis communautaire“ zu erweitern.
Dieser sollte mit den in den multiplen Krisen gefundenen Lösungen aktualisiert werden und für weitere Entwicklungen geöffnet werden.

Der Verfassungsentwurf gliedert sich in moderner Weise in eine Präambel, den Teil I. Grundsätze, Teil II. Charta der Grundrechte, Teil III. die einzelnen Politikbereiche und Teil IV. die Übergangs- und Schlussbestimmungen und Protokolle.

Der erste Teil der Verfassung regelte die Grundsätze der Europäischen Union mit Definitionen, die Ziele der Union, ihre Zuständigkeiten, politischen Organe und Symbole sowie die Grundsätze ihrer Finanzierung und die Regelungen zu Beitritt und Austritt aus der Union.

Im zweiten Teil wurden die Grundrechte für die Bürger der Europäischen Union festgeschrieben, die sich an der Europäischen Menschenrechtskonvention orientieren.

Durch den dritten Teil des Verfassungsvertrages sollten die Regeln der bisherigen Verträge ersetzt werden, wobei der Konvent außer der Einarbeitung inhaltlicher Neuerungen auch die bestehenden Paragraphen redaktionell anpasste und neu strukturierte, um den Text verständlicher zu machen. Dieser Teil regelte vor allem die Abläufe und Details der in Teil I festgelegten Grundsätze. Insofern wäre Teil III für die alltägliche Praxis der EU-Aktivitäten entscheidend gewesen.

Teil IV des Verfassungsvertrages regelte Übergangs- und Schlussbestimmungen, etwa das Verfahren bei künftigen Verfassungsänderungen.

Die dem Verfassungstext nachfolgenden fünfunddreißig Protokolle sollten ausdrücklich Teil der Verfassung sein und enthielten u.a. wichtige Regelungen zur Sicherung der Subsidiarität wie Klage- und Einspruchsrechte der nationalen Parlamente oder Machtfragen wie die Stimmenverteilung in Rat und Parlament.

Ich denke, dass diese Ansätze „von unten“ wieder aufgegriffen werden sollten.
Angesichts des großen Umfangs und des großen Themenspektrums des neuen Verfassungsentwurfs wird dies allerdings keine „triviale“ interne Fleißarbeit werden und darf sich nicht nur in allgemeinen politischen Floskeln ausdrücken.
Diese Arbeit erfordert einige Kapazitäten und bedarf der Zusammenarbeit mit allen europäischen Föderalisten und der Unterstützung durch externe Einrichtungen.
https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ALL/?uri=OJ:C:2004:310:TOC

Mit den Ergebnissen dieser Zusammenarbeit würden wir dann für die bevorstehenden Konferenzen zur Zukunft Europas strukturierte, zielgerichtete und produktive Beiträge leisten und gleichzeitig Werbung für unser Anliegen eines föderalen europäischen Bundesstaates mit einer einheitlichen integrierten Verfassung machen können.

Heinrich Kümmerle hat auf diesen Beitrag reagiert.
Heinrich Kümmerle

(11. September 2020)

Dem fundierten Forumsbeitrag von Peter Schulze vom 6.9. 20 entnehme ich zwei wesentliche Aussagen:

  • Schulze plädiert zum einen für einen europäischen Bundesstaat auf der Grundlage einer einheitlichen föderalen Verfassung. Hierzu hat er gewiss die wesentlichen Bewegungen und Verfechter der europäischen Integration hinter sich. Wir haben das „Europa der Vaterländer“, dessen Grundlage ein vertraglich geregelter Binnenmarkt ist, längst hinter uns gelassen.
  • Schulze plädiert zum Zweiten dafür – so verstehe ich einige seiner Aussagen – das europäische Projekt immer dort, wo es eine Möglichkeit dazu gibt, zu reformieren und voranzubringen. Er schreibt: „Ich denke, dass es keinen Sinn macht, dabei (mit der Verfassung für Europa) von Grund auf neu zu beginnen.“ Er führt weiter aus, dass das europäische Projekt durch Krisen nicht geschwächt sondern auch gestärkt wurde und schreibt von einem „schleichenden informellen“ Umbau der EU.

Die Frage, ob es eine genauen Fahrplan für die Reihenfolge der Einzelschritte – gewissermaßen ein genaues Rezept zur Erreichung eines europäischen Bundesstaates geben kann, vermag ich nicht zu beantworten. In Veranstaltungen und Diskussionen über die Zukunft Europas habe ich diese Frage des Öfteren gestellt und unterschiedliche Antworten erhalten. Im Grunde wird es um das Erkennen von Möglichkeiten und Chancen, um das richtige Wort zur richtigen Zeit und am richtigen Ort gehen. Das in Artikel 2 EUV genannte Ziel der „Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ wird in pragmatischen Schritten, manchmal vielleicht sogar unerwartet zu verwirklichen sein.

Wichtig wird dabei sein, den Integrationsprozess nicht einschlafen zu lassen, sich nicht zufrieden auf dem erreichten Status einzurichten, wie dies in den letzten Jahren den Anschein hatte. Verschiedene Krisen, und auch die Reden von Emmanuel Macron haben Anstöße gegeben. Ich setze große Hoffnungen in die Konferenz zur Zukunft Europas, die noch in diesem Jahr stattfinden soll. Wird es dort Initiativen geben, um die Mitwirkungsmöglichkeiten des EU-Parlaments auszuweiten, etwa durch die Einräumung des Initiativrechts bei der Gesetzgebung? Wird es Anstöße geben, um die Entscheidungswege der Europäischen Union für die Bürgerinnen und Bürger transparenter zu machen, etwa beim Rat, der bisher hinter verschlossenen Türen tagt?

Noch vor dem Einstieg in das Verfassungsprojekt gibt es eine ganze Reihe von Möglichkeiten, um den europäischen Integrationsprozess voranzubringen. Die Ansätze liegen sowohl im Politisch-Programmatischen als auch im Bereich der EU-Strukturen. Schulze verweist auf die Ergebnisse des jüngsten Ratsgipfels. Im Rahmen des Corona-Wiederaufbaufonds und des mehrjährigen Finanzrahmens wird die EU nicht nur große Fördersummen auswerfen, sie soll auch eigene Einnahmequellen (z.B. über eine Plastiksteuer) erhalten. Was läge näher, als dafür den schon lange diskutierten EU-Finanzminister zu installieren? Was läge näher, als mit diesen Investitionsmitteln die einheitliche Finanz- und Wirtschaftspolitik voranzubringen, über die seit der Einführung des Euro diskutiert wird? Zur Bewältigung der Corona-Folgen werden für die Mitgliedsländer Kredite, u.a. zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, bereitgestellt. Was läge näher, als damit in ein dauerhaftes System der Absicherung gegen Arbeitslosigkeit einzusteigen?

Die Wahlen in den Vereinigten Staaten am 3. November d.J. können – sollte der bisherige Präsident wieder gewählt werden – die EU veranlassen, sehr rasch eine einheitliche europäische Außenpolitik zu entwickeln, da sonst die Gefahr besteht, von dem sprunghaft agierenden Donald Trump in zweifelhafte Eskapaden gegen Russland und China hineinmanövriert zu werden.

Der Brand und die Zerstörung des Flüchtlingslagers Moria auf der griechischen Insel Lesbos belegt geradezu plastisch das Scheitern der EU-Flüchtlings- und Asylpolitik. Ein Bericht der Regionalzeitung Heilbronner Stimme vom 10.9. trägt die Überschrift: „Katastrophe mit Ansage“. In einem Kommentar nennt der EU-Korrespondent der Zeitung dazu Ross und Reiter: „Wer Schuldige sucht, sollte sie auch benennen: Die Kaltblütigkeit mit der die Regierungen im Osten der Union die Flüchtlinge nutzten, um vor der Islamisierung des Abendlandes zu warnen, blockierte jede solidarische Lösung. Dort sitzen die Schuldigen“ (Detlef Drewes: „Ein Symbol“, Heilbronner Stimme, 10.9.20). Dies trifft gewiss zu; eine Reihe osteuropäischer Mitgliedsstaaten verschloss sich mit nationalistischen und ideologischen Begründungen dem Anruf, Empathie mit den betroffenen Menschen und Solidarität mit den betroffenen Mittelmeerländern zu zeigen. Doch auch andere EU-Mitglieder haben sich lange und gut mit den Dublin-Regeln arrangiert. Die Kommission wird am 30.9. ihre lang erwarteten Vorschläge zur Asyl- und Migrationspolitik vorlegen. Wird daraus eine Chance zur Vertiefung der europäischen Integration erwachsen?

Es macht Sinn, über die Notwendigkeit einer föderalen Verfassung für einen europäischen Bundesstaat zu diskutieren. Man sollte jedoch nicht vergessen, dass es neben dem Verfassungsprojekt weitere Arbeitsfelder für „europäische Lösungen“ gibt. Die Gefahr, dass eine EU-Verfassung erneut am „Nein“ der Bürgerinnen und Bürger eines oder mehrerer Mitgliedstaaten scheitern könnte, hat auch Peter Schulze angesprochen. Dies wäre eine Katastrophe für das Projekt Europa.

Andrew Duff hat mich gestern auf seinen Beitrag „Five Surgical Strikes on the Treaties of the European Union“ aufmerksam gemacht, den er bereits am 11. April 2023 in den European Papers veröffentlicht hat. 

Andrew Duff ist weiterhin einer der wichtigsten Impulsgeber in Europa, leider aber nicht bereit, sich hier direkt in eine Diskussion einzumischen. Er macht aber gerne darauf aufmerksam, dass man seinen Beitrag kommentieren kann. Dies darf man sehr gerne auch hier machen.

Ich teile Duffs negative Meinung, dass seitens der derzeitigen europäischen Entscheider wenig bis gar nichts unternommen wird. „Beyond the Parliament, there has been no official preparation for a Convention.“ oder gar „But although the Parliament is well within its rights to take the Council before the European Court of Justice for failure to act, it does not do so.“

Wie ich es bereits an anderer Stelle geschrieben habe, Angela Merkel und Emmanuel Macron haben Ursula von der Leyen genau deswegen als Präsidentin inthronisiert, damit sich Europa nicht weiter in Richtung europäischer Bundesstaat entwickelt -- vdL ist ein Garant für Stillstand und Rückschritt, beides schön verpackt und mit Fönfrisur, genau so wie es die meisten Europäer lieben. Und auch die aktuelle dt. Regierung, deren Entscheider allesamt noch aus der Merkel-Dynastie stammen, werden außer billigen Verlautbarungen nichts in Richtung eines geeinten Europas unternehmen -- wer sägt denn schon am eigenen Ast?

Da es keinen Verfassungskonvent geben wird, schlägt Duff wenigstens vor „to amend some key articles in order to strengthen the democratic legitimacy of the EU, to make its decision making more agile, and to enhance its capacity to act.“

Er schlägt diesbezüglich Änderungen im Wahlrecht, in der Entscheidungsfindung („If an emerging democratic polity like the Union is to be well governed, constitutional change should be accepted as a normal and, indeed, regular occurrence.“), bei der Passerelle-Regelung und eine neue Kompetenzverteilung innerhalb der EU vor.

Neu für mich, dass er die politisch völlig unseriösen „privilegierten Partnerschaften“ -- was immer die auch sein mögen -- in eine „Affiliate Membership“ umwandeln möchte -- wohl als eine Art Hintertür für das Vereinigte Königreich?! 

Andrew Duffs Vorschläge stammen allesamt aus der Schmiede eines langjährigen und sehr erfahrenen EU-Parlamentariers und sind wohl in Gänze nur von Fachleuten richtig zu verstehen oder gar zu bewerten.

Ich persönlich halte weiterhin einen Verfassungskonvent für die einzig richtige Lösung und das fortwährende Herumdoktern an den Verträgen nur für eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für die Berufspolitik, Beamtenapparate und Beraterstäbe. Gestehe aber gerne zu, lieber das als gar keine Fortschritte in Europa!

Die „Affiliate Membership“ ist m. E. eine spannende Idee. 
 
Die EU braucht dringend ein abgestuftes System. Denn sonst sie die Westbalkan-Staaten nicht in angemessener Zeit aufnehmen, ebensowenig die Ukraine, Moldawien, Georgien. Und eine Hintertür für Großbritannien? Warum nicht. Für entscheidend halte ich, dass ein Kern voranschreitet und eine neue Integrationstiefe schafft. Ist das erfolgreich, entsteht eine neue Gravitationskraft, an der es lange schon fehlt.
 
Reform einzelner Vertragsbestimmungen? Ebenso schwierig wie ein Konvent. Warum also nicht gleich ein Konvent. 
 
Wichtig wäre, dass erst mal ein Kern sich wiederfindet. Wo steht Italien? Ist die Republik dem Weg zu einem autoritären Präsidialsystem? Was kommt in Frankreich nach Macron? Und ist Deutschland mit seinem Atomausstieg noch anschlussfähig in Europa? Denn es geht seinen Weg hier solitär.
 
Diese Beobachtungen und Anmerkungen in aller Kürze. 
Heinrich Kümmerle hat auf diesen Beitrag reagiert.
Heinrich Kümmerle

Die spanischen Föderalisten haben auf ihrem VI. UEF ESP Kongress in Bilbao am 3. und 4. März 2023 die folgende Resolution beschlossen. Diese wurde heute von Alejandro Peinado Garcia an alle UEF Verbände zur Kenntnisnahme übermittelt. Ich meine, dass diese Resolution ganz gut zur hiesigen Diskussion passt.

THE EUROPEAN UNION MUST BE MORE FEDERAL

On March 3 and 4, 2023, the IV Congress and General Assembly of UEF Spain was held in Bilbao, in which a group of European citizens commemorated the 75th anniversary of the European Congress held in The Hague in 1948, only three years after the end of World War II. The Hague Congress was convened at the initiative of federalist groups of civil society, and clearly indicated the political objective of the Unity of Europe, which has since been developed with a federal approach to this day, albeit incompletely. Spain was represented in this event, among others, by political leaders from exile, such as Salvador de Madariaga and Indalecio Prieto, and also with observers as the Lehendakari Aguirre and Javier de Landaburu.

The second objective of the Bilbao meeting was to reflect on the future of the European Union and the Reforms that it has to address in a new dramatic moment: the war in Ukraine and the resulting geostrategic changes. Just as we were recovering from the pandemic, new challenges have appeared such as inflation and a new economic and social crisis; the need to advance the digitalisation and decarbonisation of our energy system; the deterioration of the quality of democracy and the rule of law; the lack of a common tax system; the development of new social policies and the migratory challenge.

Alarm bells are ringing across Europe with the emergence of extremist and ultranationalist political forces, which may weaken European integration at a time when more Europe is needed.

With these reflections, the federalists of Spain and Europe, we intend to collaborate with the preparatory work of the Spanish Presidency of the Council of the EU that will begin on July 1, 2023. The main conclusion of the UEF Spain Congress is that the European Union has to continue advancing in a more federal way.

The first European urgency is to put an end to the Russian invasion of Ukraine. It is a war against European values, and therefore also our war. The European Union must continue to support the Ukrainian government with all the necessary political, humanitarian, economic and military resources, in cooperation with our allies, as well as welcoming refugees.

Federal advances make their way with difficulties and contradictions. For example, the European Central Bank is a federal institution for the eurozone, but the Eurogroup is intergovernmental. The monetary union wants to be federal but it cannot be without the creation of a powerful Treasury and the implementation of common fiscal and social policies . Important steps have recently been taken with the issue of European debt, the approval of the Recovery Plan and the launch of the Next Generation Fund, as well as the provision of new own fiscal resources. The Recovery Plan must become a permanent instrument; and the European Parliament must be involved in the design and decision-making.

But we have an institutional problem which blocks us and we must overcome, it is the sterile rule of unanimity in the Council which prevents the EU from adopting the right and timely responses.

Following the adoption of the conclusions of the Conference on the Future of Europe on 9 May 2022, a Convention on the reform of the Treaties needs to be convened, as called for by the European Parliament in June 2022. From UEF Spain we will continue working to achieve the European federation and reduce the space given to intergovernmental agreements, because we must not let governments decide only among themselves the reform of the Treaties, we propose a Convention so that the voice of citizens and civil society is heard, together with the Commission and the European Parliament, national parliaments and consultative institutions such as the Committee of the Regions and the Economic and Social Committee.

The Convention shall enshrine a majority rule and ending unanimity among States on many issues, such as foreign policy, security and defence; taxation; social policy; immigration and asylum policy. The principle of primacy of Europen Law must be strengthened over the law of Member States.

The institutions of the European Union must be proactive towards the Member States in order to improve the quality of the democratic system and the rule of law. The European values of Article 2 must be protected even by sanctions to Member States, which cannot currently be applied because of the unanimity rule.

The European Parliament must have the right of legislative initiative and parliamentary scrutiny in all areas, including on the EU's own resources. We demand that the Council reaches an agreement with the European Parliament to adopt the pan-European constituency with transnational lists for the next European elections in 2024, and to strengthen European political parties, their presence and symbols in election campaigns. In order to bring the European political system closer to the public, it is essential to open a debate and accountability also at national level. National parliaments must dedicate parliamentary sessions to the debate on European policy, in which the Commission and the European Parliament participate.

Foreign and security policy must include defence competences, and the responsibilities of the High Representative, who should be called the European Ministry of Foreign Affairs, must be increased.

Further institutional reforms are also needed to give the EU new powers. In this way, new policies can be promoted. The pandemic has taught us that it is necessary to move forward to the European Health Union, with new responsibilities for federal coordination and collaboration in public health.

A more open policy for the admission of immigrants is needed, taking into account the protection of human rights and the guarantee of fair treatment of all persons. The right to family reunification, and guardianship for non-accompanied minors, must also be protected. The European Union and the Member States must guarantee international protection to asylum seekers, and put in place a system of sharing and solidarity.

The European Union's policies must be strengthened to deal with the climate emergency, to reduce emissions and to bring about carbon neutrality. To develop the European Green Deal, it will be necessary to have new funds available for the European budget to facilitate the energy transition, which must be socially fair.

It is imperativeto complete the Banking Union with a federal system of deposit guarantee funds. It is alarming that disparities between Member States in corporate taxation persist, causing serious strains on the functioningof the internal market.

At the same level as the four fundamental freedoms of the internal market (free movement of goods, persons, services and capital), it is necessary to constitutionalize the European Pillar of Social Rights and implement the European Social Charter in these two aspects. The Charter guarantees throughout Europe the right to housing, health, education, employment, social and legal protection, mobility, and prohibits any form of discrimination. The quality of the European labour and facilitate labour mobility between Member States. European social dialogue and collective negotiation should be promoted; and also the creation of a guaranteed minimum income system, a minimum wage system and unemployment insurance in the EU.

To face these enormous challenges with confidence, the European Union must improve its governance model and strengthen its links with citizens. The New Ventotene Manifesto adopted on August 29, 2022 by the Spinelli Group and other federal sections and activists, constitutes the roadmap that federalists share, since it is time to move towards a Federal Europe. The Spanish Presidency of the European Union in the second half of 2023 must play a very active role in developing the federalist agenda.

In Bilbao on March 4, 2023

 


Seitenaufrufe: 3.437 | Heute: 35 | Zählung seit 22.10.2023
  • Ergänzung: Die Inflation ist stärker als vor dem Euro?

    Nein. Seit 25 Jahren gibt es den Euro. Das Eurosystem (EZB + Nationale Zentralbanken) haben das Inflationsziel zwischen 1999 und 2020 im Durschnitt deutlich besser erreicht als es davor der Fall war. Die Phase der jetzigen Inflation in Folge der Corona-Krise und der Lieferengpässe und der Energiekrise hat die Preise weltweit 2021, 2022 getrieben. Die Inflation sinkt seit Ende 2022 kontinuierlich und nähert sich wieder den 2 % an.
    Darüber hinaus hat die gemeinsame Währung Europa Stabilität in diversen Krisen gegeben.
    Die gemeinsame Währung stützt den Binnenmarkt und hat Deutschland geholfen, starke Exportleistungen zu erzielen.

  • Zum Protokoll des Gesprächskreises „Europa jetzt!“ würde ich gerne hinzufügen, dass wir Teilnehmer auch darüber debattiert haben, wie „selbstverständlich“ Europa gerade für uns jüngeren geworden ist. Viele von uns kennen es gar nicht anders. Reisen ohne Grenzen, zahlen in Euro, keine Zollgebühren beim Onlineshopping, anders kennen wir es fast nicht. Es gilt, diese Freiheiten aufzuzeigen um das Interesse an Europa zu wecken.
    Ebenso war sich der Großteil der Gruppe einig, dass wir keine Angst haben, sondern Bedenken und Unsicherheit empfinden, wenn wir die aktuellen Entwicklungen beobachten.

    • Wie wir feststellen durften ist die Halbwertszeit solcher Runden nicht ausreichend, um ein Forum nur annähernd zu füllen. Wo die Unverbindlichkeit zum Prinzip erhoben wurde, muss man tatsächlich über ganz neue Kommunikationskanäle nachdenken.