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Europäische Anfänge – Vom Schuman-Plan zur EG (1950 – 1957)

Diesen Beitrag habe ich am 8. Juli 2011 im Zuge der Arbeit als Arbeitsgruppenleiter Geschichte der EUROPA-UNION Heilbronn geschrieben.

Jedes Jahr am 9. Mai feiern die Bürger Europas den Europatag. Erinnert wird dabei an den
9. Mai 1950, als der damalige französische Außenminister Robert Schuman einer erstaunten Öffentlichkeit in Paris jenen Plan vorstellte, der später als „Schuman-Plan“ in die Geschichte eingehen sollte.

„Die französische Regierung schlägt vor, die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohle- und Stahlproduktion unter eine gemeinsame Oberste Aufsichtsbehörde zu stellen, in einer Organisation, die den anderen europäischen Ländern zum Beitritt offen steht.“ (1)

Bereits ein knappes Jahr später, am 18. April 1951, unterzeichneten Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg in Paris den Vertrag über die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS) – auch Montanunion genannt – der zum Ausgangspunkt des europäischen Integrationsprozesses wurde.

Die politische Vorgeschichte und die unterschiedlichen Vorüberlegungen zu diesem weitsichtigen Schritt werden in Geschichtswerken dargestellt – einige dieser Werke sind im Literaturverzeichnis aufgelistet. Es gab immer wieder Überlegungen, wie die Epoche der europäischen Nationalstaaten, die dem Kontinent in großer Regelmäßigkeit Kriege und Zerstörung gebracht hatte, überwunden werden könnte. Ein paar dieser Überlegungen sollen hier genannt werden:

- Als älteste auf den Zusammenschluss Europas gerichtete Bewegung gilt die Anfang der 20er
Jahre des letzten Jahrhunderts von dem österreichischen Schriftsteller und
Politiker Nikolaus Graf von Coudenhove-Kalergi (1894 – 1972) (2) unter dem Eindruck der
Schrecken des Ersten Weltkriegs gegründete Paneuropa-Union. Ihr Ziel war die
Vereinigung Europas bis hin zur Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa“, um den
Frieden in Europa dauerhaft zu bewahren sowie Europas Weltgeltung zu sichern. In der
Gegenwart steht die deutsche Paneuropa-Union der CSU und den Vertriebenenverbänden
nahe. „Sie unterscheidet sich von anderen rechtskonservativen Vereinigungen in der
Verurteilung des Nationalismus, woraus sich ergibt, dass die Interessen der Vertriebenen am
besten im Rahmen der europäischen Einigung zu vertreten seien.“ (3)

- Zu den Vordenkern der europäischen Vereinigung zählt auch der sozialistische französische
Politiker und zeitweilige französische Ministerpräsident Aristide Briand (1862 – 1932). An-
lässlich der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund (1926) sagte er: „Zwischen
Deutschland und Frankreich ist es Schluss mit den schmerzhaften und blutigen Zusammen-
treffen, mit denen alle Seiten der Geschichte befleckt sind. Es ist Schluss mit den
langen Trauerschleiern über Leiden, die niemals nachlassen werden. Keine Kriege
mehr, keine brutalen und blutigen Lösungen mehr für unsere Meinungsverschieden-
heiten …“ (4)
Um 1929/1930 veröffentlichte Aristide Briand, der 1926 zusammen mit dem deutschen
Außenminister Gustav Stresemann den Friedensnobelpreis erhalten hatte, eine „Denk-
Schrift über die Einrichtung einer Europäischen Union“. Aber derartige Gedanken blieben
einer kleinen Gruppe von interessierten Intellektuellen vorbehalten, denn in Europa
standen die Zeichen auf Sturm. (5)

- Weggefegt von diesem Sturm, der für alle Länder Europas 1945 so schrecklich enden
sollte, wurde auch die Forderung im Heidelberger Programm der SPD von 1925: „Sie
(die SPD) tritt ein für die aus wirtschaftlichen Ursachen zwingend gewordene Schaffung
der europäischen Wirtschaftseinheit, für die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa,
um damit zur Interessensolidarität der Völker aller Kontinente zu gelangen.“ (6)

- Weggefegt durch die Entwicklungen nach Kriegsende wurden auch die Überlegungen, die
Willy Brandt (1913 – 1992) im norwegischen Exil angestellt hatte. Einer seiner Zeitungs-
artikel (1939) war mit „Der Traum von Europas Vereinigten Staaten“ überschrieben. „Um
die Selbständigkeit der Nationen mit der Rücksichtnahme auf eine internationale Ge-
meinschaft in Einklang zu bringen, müssen jedoch die einzelnen Staaten „auf einen Teil
ihrer nationalen Souveränität zu Gunsten der internationalen Organisation“ verzichten“. (7)
Brandt wollte das Ziel einer demokratischen, föderativen Neuordnung Europas über den
Zwischenschritt von „regionalen Zusammenschlüssen“ erreichen, etwa in Mitteleuropa,
im Norden, auf dem Balkan und zwischen den Donaustaaten. Doch „die weitere Ent-
wicklung des Weltkrieges ließ viele Pläne und Ideen obsolet werden.“ (8)

Manche mögen sagen, all diese Politiker, Schriftsteller und europäischen Denker seien ihrer Zeit voraus gewesen. Doch man könnte auch anders formulieren: Es gab zu viele Leute in allen Staaten, die ihrer Zeit hinterher waren. Nationalismus, gesteigert zu nationaler Überheblichkeit, Großmachtstreben, Hass und Menschenverachtung hatten Europa – wieder einmal – in den Abgrund geführt. „Erst nach dem Zweiten Weltkrieg entfaltete Briands Vorstoß zur europäischen Einigung nachhaltige Wirkung.“ (9)

In seiner berühmt gewordenen „Züricher Rede“ vom 19. September 1946 nannte Winston Churchill (1874 – 1955) als ersten Schritt bei der Neugründung der europäischen Familie die Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland. Er sprach von einem Heilmittel, das innerhalb weniger Jahre ganz Europa frei und glücklich machen könnte. „Dieses Mittel besteht in der Erneuerung der europäischen Völkerfamilie … Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten.“

Auch andere weitsichtige Leute dachten kurz nach Kriegsende über ein integriertes Europa nach. Wenige Tage nach Churchills Züricher Rede verabschiedeten Vertreter aus 14 europäischen Ländern und der USA am 21. September 1946 im schweizerischen Hertenstein zwölf Thesen, die heute als „Hertensteiner Programm“ bekannt sind. „Ein auf föderativer Grundlage errichtete, europäische Gemeinschaft ist ein notwendiger und wesentlicher Bestandteil jeder wirklichen Weltunion“ lautet die 1. These. Und in These 4 ist verankert, was auch über 65 Jahre nach Hertenstein noch immer heiß diskutiert wird: „Die Mitglieder der Europäischen Union übertragen einen Teil ihrer wirtschaftlichen, politischen und militärischen Souveränitätsrechte an die von ihnen gebildete Föderation.“

Zu den Triebkräften der Europäischen Vereinigung ist auch der 1949 von zehn Staaten gegründete Europarat zu zählen, der sich in seinder Satzung vom 5.5.1949 zur Aufgabe gestellt hat, „eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern zum Schutze und zur Förderung der Ideale und Grundsätze die ihr gemeinsames Erbe bilden herzustellen und ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern.“ In einem Beschluss der Beratenden Versammlung vom 20.10.1949 war die Rede von einer europäischen „politischen Autorität“, mit begrenzten Funktionen aber echten Vollmachten. Doch das Ministerkomitee unterstützte diese Vorstellungen nicht. Spätestens mit dem ein Jahr später verkündeten Schuman-Plan erhielt der europäische Integrationsprozess eine andere Grundlage. Bedeutendstes Arbeitsergebnis des Europarats ist die 1950 verabschiedete und für die inzwischen 47 Mitglieder bindende Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), über deren Einhaltung der Europäische Gerichtshof in Straßburg wacht. Mit dem Vertrag von Lissabon trat auch die EU der EMRK bei.

Doch die konkreten und oft kritischen Fragen wurden insbesondere in Frankreich nach Kriegsende anders formuliert: Wie kann Deutschland so klein gehalten werden, dass es nie wieder fähig sein wird, einen Krieg zu führen? Und selbst wenn es irgendwann wieder ein Deutschland geben wird: Darf es dann gleichrangig neben Frankreich stehen? (10)
„Wer die damalige Zeit nicht miterlebt hat, wird kaum nachvollziehen können, wie sehr die europäische Politik der Nachkriegsjahre beherrscht wurde von der Angst vor einem wieder-
erstarkten Deutschland und von der Absicht, dies ein für allemal zu verhindern.“ (11)

Viele Vorstellungen und Gedankenstränge, Fragen und Gegenfragen lagen wie ein Mosaik, auf dem europäischen Tisch, überkreuzten sich oder liefen zusammen und standen letztlich Pate für die Ausformung Europas, wie wir es heute kennen. Bemerkenswert dabei war und ist: Am Anfang des Integrationsprozesses stand kein fertiger Masterplan, keine Blaupause dessen, wie das spätere Europa einmal konkret aussehen könnte. Die Gestaltung Europas war und ist ein offener politischer Prozess.

Spätestens jetzt muss Jean Monnet (1888 – 1979) genannt werden. Ende 1945 überreichte er dem französischen Staatspräsident Charles de Gaulle ein Papier, das zur Grundlage der staatlichen Wirtschaftsplanung in Frankreich wurde. Kurz danach wurde Monnet Direktor des neu eingerichteten Planungsamtes – die französische Planification war geboren.

Ein weiterer Mosaikstein in der Entwicklung Europas war das European Recovery Program (ERP), der Marshall Plan, jenes Projekt für den Wiederaufbau Europas, das der amerikanische Außenminister George C. Marshall am 5. Juni 1947 in einer Rede an der Harvard Universität vorstellte. „Der Marshall-Plan war ein Wirtschaftsprogramm, aber die von ihm abgewendete Krise war politischer Natur“ schreibt Tony Judt (12). „Der eigentliche Gewinn des Marshall-Plans war psychologischer Natur. Man könnte fast sagen, dass er den Europäern zu einem positiveren Selbstbild verhalf. Sie gewannen die Kraft, sich ein für allemal von Chauvinismus und autoritären Lösungen zu verabschieden. Eine gemeinsame Wirtschaftspolitik schien nun normal …“ (13), denn der Marshall-Plan zwang die Europäer, gemeinsam zu planen und ihren Investitionsbedarf zu schätzen. „Sie mussten nicht nur mit den Vereinigten Staaten, sondern auch mit den anderen europäischen Staaten verhandeln, da ein möglichst rascher Aufbau von multilateralen Wirtschaftsbeziehungen angestrebt war“ (16). Zudem wurden übernationale Institutionen geschaffen, wie etwa die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa (OEEC) und die Europäische Zahlungsunion – gewissermaßen Training- und Erfahrungsfelder für Politiker und Verwaltungsbeamte, die sie später in den europäischen Institutionen gut gebrauchen konnten.

War es nach dieser Vorgeschichte, nach diesen Vorerfahrungen verwunderlich, dass es nur ein knappes Jahr brauchte bis der von Jean Monnet ausgearbeitete Schuman-Plan am 18.4.1951 von den 6 Gründerstaaten der Montanunion unterzeichnet wurde? Jean Monnet – später „Vater Europas“ genannt – war von 1952 – 1954 der erste Präsident der Hohen Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS).
„Die Motive der sechs Staaten, diesen Vertrag zu unterschreiben, mögen unterschiedlich gewesen sein, das Ergebnis war von historischer Bedeutung. Dass ehemalige Feinde wenige Jahre nach Kriegsende eine solche Gemeinschaft gründen, ist in der Weltgeschichte ohne Beispiel.“ (15)

Dass diese europäische Dynamik nicht ungebrochen weiterlaufen konnte, muss rückblickend akzeptiert werden. Vor allem, dass der 1950 von Frankreich vorgeschlagene Plan einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) vier Jahre später in der französischen Nationalversammlung scheiterte, war ein Rückschlag im europäischen Integrations-
prozess. Zwei Männer – wiederum Jean Monnet und der belgische Außenminister Paul Henri Spaak (1899 – 1972) warfen das Rad der Entwicklung wieder an. Am 25. März 1957 wurden in Rom die Verträge über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) feierlich unterzeichnet.


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  • Ergänzung: Die Inflation ist stärker als vor dem Euro?

    Nein. Seit 25 Jahren gibt es den Euro. Das Eurosystem (EZB + Nationale Zentralbanken) haben das Inflationsziel zwischen 1999 und 2020 im Durschnitt deutlich besser erreicht als es davor der Fall war. Die Phase der jetzigen Inflation in Folge der Corona-Krise und der Lieferengpässe und der Energiekrise hat die Preise weltweit 2021, 2022 getrieben. Die Inflation sinkt seit Ende 2022 kontinuierlich und nähert sich wieder den 2 % an.
    Darüber hinaus hat die gemeinsame Währung Europa Stabilität in diversen Krisen gegeben.
    Die gemeinsame Währung stützt den Binnenmarkt und hat Deutschland geholfen, starke Exportleistungen zu erzielen.

  • Zum Protokoll des Gesprächskreises „Europa jetzt!“ würde ich gerne hinzufügen, dass wir Teilnehmer auch darüber debattiert haben, wie „selbstverständlich“ Europa gerade für uns jüngeren geworden ist. Viele von uns kennen es gar nicht anders. Reisen ohne Grenzen, zahlen in Euro, keine Zollgebühren beim Onlineshopping, anders kennen wir es fast nicht. Es gilt, diese Freiheiten aufzuzeigen um das Interesse an Europa zu wecken.
    Ebenso war sich der Großteil der Gruppe einig, dass wir keine Angst haben, sondern Bedenken und Unsicherheit empfinden, wenn wir die aktuellen Entwicklungen beobachten.

    • Wie wir feststellen durften ist die Halbwertszeit solcher Runden nicht ausreichend, um ein Forum nur annähernd zu füllen. Wo die Unverbindlichkeit zum Prinzip erhoben wurde, muss man tatsächlich über ganz neue Kommunikationskanäle nachdenken.