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Vertiefung der wirtschaftlichen Integration (1957 – 1986)

Diesen Beitrag habe ich am 19. September 2011 im Zuge der Arbeit als Arbeitsgruppenleiter Geschichte der EUROPA-UNION Heilbronn geschrieben.

(EG, Zollunion, Beitritt früherer EFTA-Staaten, Schengener Abkommen, Einheitliche Europäische Akte)

Mit dem Vertrag über die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS) war in Westeuropa ein Prozess in Gang gekommen, der die Europäische Integration noch immer vorantreibt – manchmal dynamisch und zukunftsorientiert, manchmal aber auch unbefriedigend langsam. Dieser europäische Integrationsprozess kam immer dann voran, wenn weitsichtige und über die Grenzen des eigenen Landes hinaus denkende Politiker sich in der jeweiligen Situation auf einen europäischen Nenner einigen konnten. Die europäische Integration ist aufgebaut auf eine große Zahl von Kompromissen; kein Politiker, kein Land konnte die eigenen Vorstellungen lupenrein durchsetzen und strebte dies i.d.R. auch nicht an.

Schon zu Beginn des Integrationsprozesses sahen die Politiker der Mitgliedsländer, auch die deutschen Politiker, die Notwendigkeit, die Europaidee im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit zu verankern. Tony Judt berichtet, Konrad Adenauer habe am 4.2.1952 seinen Kabinettskollegen bei der Diskussion des Schuman-Plans erklärt, man müsse den Menschen eine neue Ideologie geben und diese nur eine europäische sein könne. (1) Der Europagedanke eine Ideologie? Adenauer würde diesen Begriff heute wahrscheinlich nicht mehr verwenden und eher von einer europäischen Vision reden. „Eine gemeinsame Vision für die Europäische Union war niemals so notwendig wie heuten – und selten so weit entfernt“, beklagt die Jean-Monnet-Professorin Vivien A. Schmidt 60 Jahre später (2).

Tony Judt berichtet weiter, für die intellektuellen und politischen Eliten habe sich diese Neuorientierung nach Kriegsende als sinnvoll erwiesen, „doch den kleinen Leuten ging es nicht um das neue Europa, sie wollten überleben und vorankommen.“ In der Bundesrepublik Deutschland war man dabei, die Grundlagen für eine Entwicklung zu legen, die später als „Wirtschaftswunder“ beschrieben wurde. „Arbeiten, Sparen, Vorankommen, Anschaffen, Konsumieren – das war der auch von der Politik nachdrücklich propagierte Lebensinhalt der meisten Westdeutschen“, schreibt Judt.

Europa stand nicht im Blickfeld der breiten Öffentlichkeit, war stets „weit weg“ und vermeintlich eine sehr abstrakte Veranstaltung. Aus welchen Gründen auch immer gelang es nicht, den Zusammenhang zwischen dem Vorankommen der Menschen und dem europäischen Integrationsprozess in der breiten Öffentlichkeit zu verankern. Europa wurde und wird wenig, im Laufe der Zeit sogar überwiegend negativ, wahrgenommen. „Europa“ als Parole tut’s nicht“, beklagte bereits 1972 Herbert Wehner. „Wir müssen uns bemühen, die nur im Rahmen der Gemeinschaft lösbaren lebenswichtigen Probleme so rationell wie es denkbar ist, zum Mittelpunkt parlamentarischer Aktivitäten zu machen und die Menschen mit den zur Lösung führenden Wegen vertraut machen.“ (3)

Der europäische Integrationsprozess läuft mit Höhen und Tiefen. Ein besonderer Tiefpunkt war erreicht, als die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) am 30.8.1954 in der französischen Nationalversammlung scheiterte. Ausgerechnet Frankreich, das 1950 die Schaffung einer europäischen Armee vorgeschlagen hatte, lehnte ab; die anderen 6 Staaten hatten bereits zugestimmt. Heute würde man von einer Krise sprechen. Doch gerade in der Krise entwickelte sich Europa mit besonderer Tatkraft.

Anfang Juni 1955 trafen sich die EGKS-Außenminister auf Initiative der Benelux-Staaten zu einer Konferenz in Messina auf Sizilien; später wird gesagt, die Konferenz sei vom „Geist von Messina“ beflügelt worden. Die 6 Staaten einigten sich auf eine Resolution mit dem Ziel, den Europäischen Binnenmarkt und die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) zu gründen. Ein Ausschuss unter Leitung des Belgiers Paul-Henri Spaak legte 1956 einen Bericht vor, der zur Grundlage der am 25. März 1957 in Rom feierlich unterzeichneten „Römischen Verträge“ wurde. Es ging um die vier Kernelemente der Europäischen Integration: Aufbau einer Zollunion mit gemeinsamem Außenzoll; Errichtung eines Gemeinsamen Marktes; freier Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital und enge Zusammenarbeit bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie.
Darüber hinaus beschlossen die sechs Unterzeichner die Gründung einer gemeinsamen parlamentarischen Versammlung, der Vorläuferin des heutigen Europäischen Parlaments; die Einrichtung eines gemeinsamen Gerichtshofs und eines gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialausschusses. Die Zusammenlegung der Kommission und der Ministerräte erfolgte 1965.

Mit den „Römischen Verträgen“ wurde ein mächtiger Schritt in Richtung Europa getan. Damit gab es für den europäischen Integrationsprozess konkrete Zielvorgaben – die Schwerpunkte lagen im Bereich der Wirtschaft - die umzusetzen waren. Und es gab dabei immer wieder ein europäisches Auf und Ab. Jacques Delors, der sich als Präsident der EG-Kommission (1985 – 1994) große Verdienste erwarb, bezeichnete die Zeit nach dem Inkrafttreten der „Römischen Verträge“ als äußerst produktiv, „weil die sechs Mitgliedsstaaten sich auf Regelungen verständigt hatten, die die Zölle schon vor der im Vertrag festgelegten Fristen senkten.“ (4)

Betrachtet man das Vertragswerk jedoch im Lichte der Griechenland- und Eurokrise von 2010/11, so zeigen sich dessen Schwachpunkte. „Immerhin … trat die EWG in außenwirtschaftlichen Verhandlungen mit einer Stimme auf. Das gab der Gesamtheit der Mitgliedsstaaten eine weitaus stärkere Verhandlungsposition, als es jedem Einzelnen für sich möglich gewesen wäre“, schreibt Gerhard Brunn (5). Doch die Vorstellung der Kommission, dass nach Abschaffung der inneren Zollgrenzen die Staaten wirtschaftspolitisch miteinander verbunden werden sollten, war nicht zu erreichen. „Alle Mitgliedsstaaten betrieben weiterhin eine nationale Wirtschaftspolitik nach den bei ihnen gängigen Ordnungsvorstellungen.“ (6).
Ein Mangel, der solange zu verkraften war, als es nur um den Handel und um Wirtschaftsbeziehungen ging. Doch spätesten mit der Einführung der gemeinsamen Währung hätten die frühren Vorstellungen der Kommission für eine koordinierte Wirtschaftspolitik wieder aufgegriffen werden müssen.

Darüber hinaus war vielen Europäern klar: Die „Römischen Verträge“ konnten nicht das Ende des europäischen Integrationsprozesses sein. Europa musste auch über den Bereich des Wirtschaftlichen hinaus gestaltet werden: als soziales Europa und als demokratisches Europa; die Stellung des Europäischen Parlaments kam ins Blickfeld. Hans Apel (1932 – 2011) schrieb 1972 sehr weitsichtig: „Wird die EWG auf die Dauer nicht von einer noch weitergehenden politischen Einigung begleitet, dann wird sie auf halbem Wege stehen bleiben.“ (7)

Doch wie sollte diese politische Einigung aussehen? Schon früh stellte sich auch die Frage, wer soll in die Gemeinschaft der Sechs aufgenommen werden und wer nicht? So scheiterte der Aufnahmeantrag Großbritanniens zweimal am Veto von Charles de Gaulle.

Die gegensätzlichen Begriffe eines „Europas der Vaterländer“ und eines „Europäischen Bundesstaates“ beschreiben die oft diametral gegenläufigen Vorstellungen in der Gemeinschaft. Der französische Staatspräsident de Gaulle wurde immer häufiger zum Bremsklotz der Integrationsbemühungen; man könnte ihn als einen schwierigen Europäer beschreiben. De Gaulle sah seine Hauptaufgabe darin, die Stellung Frankreichs in der Welt zu festigen und auszubauen. „Soweit das Zusammengehen der westeuropäischen Staaten diesem Ziel nicht schadete oder ihm gar nützte, war de Gaulle auch Europäer. Aber seine Vorstellung von Europa hatte wenig mit der von Monnet und anderen „Gründungsvätern“ gemein. Vereinigte Staaten von Europa mit weitreichenden Kompetenzen für Parlament und Kommission lehnte er ab. Für ihn kam nur ein „Europa der Vaterländer“ in Frage, ein Staatenbund, in dem die Mitglieder zwar möglichst eng zusammenarbeiten sollten, aber souverän bleiben.“ (8)

Diese Diskussionen spiegeln sich auch auf der örtlichen Heilbronner Ebene wider. Am 11. August 1965 fand im Heilbronner Ratskeller ein Round-Table-Gespräch mit den Bundestagsabgeordneten Dr. Karl Mommer (SPD), Adolf Mauk (FDP) und dem Heilbronner Stadtrat Reinhold Fyrnys (CDU) statt. Die Heilbronner Stimme berichtete darüber mit der Überschrift „Charles de Gaulle ist nicht Europa“ (9). Mitte Mai 1969 fand die Landeskonferenz der Europa-Union in Heilbronn statt. In seinem Referat vermerkte Dr. Karl Mommer (SPD), das Jahr 1969 könne vielleicht einmal als Geburtsjahr einer neuen Phase in der Geschichte der Europabewegung gefeiert werden. Mit dem Rücktritt de Gaulles habe ein Mann die politische Szene verlassen, der durch seine orthodoxe und starre Haltung einen Bremsschuh für die europäische Vereinigung darstellte. (10)

Im Auf und Ab des europäischen Integrationsprozesses – bereits Jean Monnet hatte erklärt, die Vereinigten Staaten von Europa ließen sich nicht in einem großen Wurf schaffen, wie es Idealisten erträumten. Sie müssten Schritt für Schritt entstehen (11) – ist die sonderbare und wechselhafte Verflochtenheit Deutschlands nicht zu übersehen. Geschichte wiederhole sich zwar nicht, erklären die Historiker. Aber im Verlauf der Geschichte wiederholen sich gleiche und ähnliche Problemstellungen, stellen sich gleiche und ähnliche Fragen. Im Nachkriegs-Europa etwa diese: Was wird aus Deutschland? Wie kann verhindert werden, dass nationale Überheblichkeit und Verachtung anderer Kulturen den Kontinent erneut ins Unglück stürzen?

Klaus Harpprecht, einer der Altmeister des Journalismus in Deutschland erinnert an die unmittelbare Nachkriegszeit: „Auch die Jüngeren sollten sich deutlich machen, …. Dass die Einbindung des deutschen Kolosses, so schwach er damals gewesen sein mag, das Grundmotiv des europäischen Zusammenschlusses war (dies und der gemeinsame Schutz gegen die Übermacht der Sowjetunion). Die produktive Einbindung ist Europa und vor allem den Deutschen zum Glück geraten“ (12).

Als in Deutschland viele Jahre später die neue Ostpolitik entwickelt wurde, jene Politik der kleinen Schritte unter der Überschrift „Wandel durch Annäherung“, wurde im Westen wieder nach der künftigen Stellung unseres Landes gefragt. Europa durchlebte seinerzeit eine dramatische Phase. „Wenn es gut stünde um Europa, hätten wir uns heute hier nicht getroffen“, sagte der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt bei der Konferenz der Staats- und Regierungschefs der EWG am 1./2.12.1969 in Den Haag. „Wenn unsere Gemeinschaft bereits mit einer Stimme zu sprechen hätte, dann wäre unser Hauptthema die Außenpolitik: die Frage einer europäischen Friedensordnung, die Verhandlungen mit den Staaten Osteuropas, unsere Interessen angesichts des Konfliktes im Nahen Osten.“ Brandt sprach damals von der Suche der Bundesrepublik nach Verständigung mit dem Osten, in Zusammenarbeit und Abstimmung mit den westlichen Partnern und betonte fast beschwörend: „Die Verbindung, die wir miteinander eingegangen sind, soll unauflöslich sein und immer enger werden.“ (13) Hier war sie wieder, die Koppelung zwischen Fortschritten in der „Deutschen Frage“ und dem Fortgang der europäischen Integration.

Diese Koppelung sollte zwanzig Jahre später noch einmal wirksam werden. In der Phase großer Umbrüche in Europa, als 1989/9= Deutschland auf dem Weg zur Wiedervereinigung war, ging es erneut darum, eine Reihe tief sitzender Bedenken der westlichen Partner auszuräumen. Das Gespenst eines „Vierten Reichs“ geisterte durch die Medien verschiedener Länder (14). Da tauchte sie wieder auf, jene Furcht vor dem mit künftig 82 Mio. Einwohnern größten und wirtschaftlich stärksten Land in der Gemeinschaft, das nun tatsächlich zum „Koloss“ werden sollte.

Margaret Thatcher beschreibt in ihren Memoiren die gemeinsamen Überlegungen mit Frankreichs Francoise Mitterand „wie wir den deutschen Moloch in die Schranken weisen könnten“ (15). Mitterand hoffte dabei auf die Unterstützung der Sowjetunion: „Ich brauche gar nichts zu tun, um es aufzuhalten; die Sowjets werden es für mich tun. Sie werden dieses größere Deutschland niemals vor ihrer Haustür dulden.“ (16) Als jedoch diese Erwartungen trogen, änderten die Franzosen ihre Taktik: „Die Deutschen können ihre Einheit haben, doch nicht gratis und franco“. Es müsse vollkommen außer Zweifel stehen, dass das vergrößerte Deutschland keine eigenen Wege gehe, und schon gar nicht in Richtung seiner alten mitteleuropäischen Interessensgebiete. Kohl müsse sich darauf festlegen, das Europa-Projekt unter deutsch-französischer Ägide weiterzuverfolgen, und Deutschland müsse in eine „immer engere“ Union eingebunden werden – deren Bedingungen, insbesondere die einer gemeinsamen europäischen Währung in einem neuen Vertrag festzulegen sei (17). Neben der Furcht vor dem „deutschen Moloch“ war auch der bewährte europapolitische Ansatz wieder da: Die Einbindung Deutschlands in die europäische Gemeinschaft. Nicht allein zur Kontrolle sondern vor allem zum Nutzen aller – nicht zuletzt zum Nutzen des wiedervereinigten Deutschland, in dessen neue Bundesländer in großem Umfang Investitionszuschüsse aus Brüssel flossen. So wurde die spätere gemeinsame europäische Währung, der Euro, gewissermaßen das Beiprodukt der deutschen Wiedervereinigung.
In einem Zeitungsbeitrag zum Tag der deutschen Einheit 2011 erinnerte Wolfgang Schäuble, der 1990 die Einigungsverhandlungen mit der DDR geführt hatte, an die Bedenken der westlichen Partner und an die Bedeutung der europäischen Integration für unser Land. „Ohne unsere Einbettung in die Europäische Union wäre die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands unendlich schwieriger geworden – wenn nicht unmöglich.“ (18)

Der Weg zum Vertrag von Maastricht, der am 7.2.1992 unterschrieben wurde und am 1.11.1993 in Kraft trat, war damit bereits während des Prozesses der Wiedervereinigung vorgezeichnet. Und man kann eine interessante Parallele ziehen: Helmut Kohl stand 1989/90 vor einer ähnlichen Aufgabe wie Willy Brandt 1969/70 als es um die neue Ostpolitik ging. Beide Kanzler mussten ihren europäischen Partnern glaubhaft versichern, dass es keine „deutschen Irrwege“ geben werde. Kohl wurde, zusammen mit Francoise Mitterand und Jacques Delors zur treibenden Kraft im europäischen Integrationsprozess.

Maastricht – nach den großen Umbrüchen in Europa verabschiedet – entstand nicht über Nacht und aus dem Nichts. Der Vertrag von Maastricht gründete auf Überlegungen und Entscheidungen aus den Jahren zuvor. Zu nennen sind vor allem die weitsichtigen Vorarbeiten von Jacques Delors. Dieser war von 1985 – 1994 Kommissionspräsident. Unter seiner Leitung machte die europäische Integration große Fortschritte. Seine Präsidentschaft beendete 25 Jahre Euroskeptizismus („Eurosklerose“) und Stagnation. (19) Das von Delors initiierte Weißbuch der Kommission von 1985 beginnt mit dem Satz: „Ist es vermessen, den Beschluss anzukündigen und dann auch durchzuführen, bis 1992 alle innergemeinschaftlichen Grenzen aufzuheben?“ (20) Die „Einheitliche Europäische Akte“, auch als Vertrag von Luxemburg“ bekannt, trat am 1.7.1987 in Kraft. Jacques Delors hat ihn als seinen Lieblingsvertrag bezeichnet. In 282 Richtlinien wurde die beschleunigte Harmonisierung und die Vollendung des Binnenmarktes eingeleitet. Die Zuständigkeiten der EWG wurde auf die Bereiche Forschung und Entwicklung, Umwelt, Verkehr, Sozialpolitik, Arbeitsrechtspolitik und Gleichberechtigung ausgedehnt und führte die „Europäische Politische Zusammenarbeit“ mit dem Ziel einer gemeinsamen Außenpolitik ein. (21) Der Delors-Bericht vom Juni 1989 – entstanden und veröffentlicht noch vor der „Wende“ in Osteuropa – enthielt einen Drei-Stufen-Plan zur Entwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU), deren erste Stufe der Europäische Rat zum 1.7.1990 in Kraft setzte. Delors sah in der Währungsunion einen entscheidenden Schritt hin zur politischen Union und er stand damit nicht allein. Hans-Dietrich Gentscher konkretisierte 1988 seine Vorstellung in einer Denkschrift; Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt veröffentlichten ein gemeinsames Strategiepapier und auch CDU und SPD sprachen sich dafür aus. Der Vertrag von Maastricht als der nächste wichtige Integrationsschritt lag gewissermaßen in der Luft. Für den deutschen Verfassungsrichter Peter Michael Huber war jener Vertrag ein „Quantensprung“ (23); damit wurde die Europäische Währungsunion mit einer Europäischen Zentralbank beschlossen.

Rückblickend ist zu fragen, ob die Bürger seinerzeit realisierten, was sich in Europa tat? Wurden sie von Politik und Medien genügend informiert? Wurde Europa überzeugend genug erklärt? Oder wurde womöglich bereits damals versäumt, die Bürger nach Europa mitzunehmen und damit der Grundstein gelegt für jene diffuse Europamüdigkeit, die heute eine emotionsfreie öffentliche Diskussion so schwierig macht?

Der Vertrag von Maastricht wurde am 7.2.1992 beschlossen und trat am 1.11.1993 in Kraft. Was macht diesen Vertrag so besonders und so gewichtig, dass sich das Bundesverfassungs-
gericht bereits 1993 damit beschäftigen musste? Wichtig war und ist: Die Zeit für Europa war reif! In kurzen Worten beschreibt das Europa-Lexikon die damalige Weltlage: „Das Ende des Kalten Krieges und die Wiedervereinigung Deutschlands trugen dazu bei, dass sich die Staats- und Regierungschefs der EG auf eine Stärkung der internationalen Rolle der Gemeinschaft verständigten“ (24) Maastricht fasste die bisherigen drei Europäischen Gemeinschaften – EWG, EGKS, EURATOM – in der Europäischen Union zusammen. Brunn (25) beschreibt die wesentlichen Neuerungen:

- die Einführung einer gemeinsamen Währung bis spätestens 1.1.1999;
- eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP);
- die Zusammenarbeit in der Justiz- und Innenpolitik;
- die Übertragung von neuen Kompetenzen an die Gemeinschaft;
- die Stärkung der demokratischen Legitimation der europäischen Institutionen.

In einem besonderen Abschnitt seines Buches beschreibt Brunn unter der Überschrift „Die Ratifizierungskrise“ (26) ein Phänomen, das den europäischen Integrationsprozess immer mehr verzögern sollte: „Der Maastricht Vertrag war ohne besondere Anteilnahme der Bevölkerung der Mitgliedsstaaten ausgehandelt und von der europäischen öffentlichen Meinung im Großen und Ganzen wohlwollend aufgenommen worden. Die Europapolitiker gingen deshalb von der stillschweigenden Zustimmung der Mehrheit in den Mitgliedsstaaten aus …“. So genannte Euroskeptiker, tatsächlich oft Gegner der europäischen Integration hatten inzwischen Europa-Entscheidungen als Möglichkeit entdeckt, nationale Stimmungswellen zu erzeugen und/oder Europa als Hebel für die jeweilige Innenpolitik zu benutzen. Eine Entwicklung, die schließlich 2005 bei Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden den Entwurf einer Europäischen Verfassung scheitern ließ.

Schon im Vorfeld des Maastricht-Vertrags gab es ähnliche Probleme. In Dänemark wurde erst in einer zweiten Volksabstimmung ein positives Votum erreicht. Vor der anstehenden Volksabstimmung in Frankreich zeigte die Kampagne der Gegner, die „gegen den angeblich drohenden Verlust französischer Selbstbestimmung und das „undemokratische, technokratische Brüssel“ zu Felde zogen, beträchtliche Wirkung. Der Vertrag erreichte mit 51 Prozent der Stimmen eine denkbar knappe Mehrheit. In Großbritannien gab es – trotz der Sonderregelungen, die der konservative Premier John Major in Brüssel ausgehandelt hatte – starke Widerstände in Majors eigener Partei, nicht zuletzt seitens seiner Vorgängerin Margaret Thatcher. Erst im Juli 1993 passierte der Vertrag das britische Unterhaus. In Deutschland landete der Maastricht-Vertrag vor dem Bundesverfassungsgericht. Dieses entschied im Oktober 1993, dass der Vertrag mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

Am 1.11.1993, ein knappes Jahr nach dem Beschluss der Staats- und Regierungschefs, trat der Vertrag von Maastricht in Kraft. Im April 1992 hatte Helmut Kohl noch die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa in Aussicht stellen können. Nach der Ratifizierungskrise war dieser Traum für eine nicht absehbare Zeit. Ausgeträumt. (27)

Quellennachweis

(1) Judt, Tony: „Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart“; Büchergilde
Gutenberg, 2005; S- 309
(2) Schmidt, Vivien A.: „Die EU – eine erloschene Vision“ in „Neue Gesellschaft/
Frankfurter Hefte“ Nr. 7/8 – 2001; S. 28
(3) Wehner, Herbert: Themenheft „Europa 1972“ der Zeitschrift „Die Neue Gesellschaft“,
Heft 4 – April 1972; S. 249
(4) Delors, Jacques: „Erinnerungen eines Europäers“ ; Parthas Verlag GmbH, Berlin
2004; S. 219
(5) Brunn, Gerhard: „Die Europäische Einigung von 1945 bis heute“; Reclam
Stuttgart, 2002; S. 164
(6) Brunn, Gerhard, a.a.O.; S. 163
(7) Apel, Hans: Themenheft „Europa 1972“ der Zeitschrift „Die Neue Gesellschaft“,
Heft 4 – April 1972; S. 280
(8) Mai, Manfred: „Europäische Geschichte“; Büchergilde Gutenberg, 2007; S. 186
(9) Tageszeitung Heilbronner Stimme, 12.8.1965
(10) Tageszeitung Heilbronner Stimme, 16.6.1969
(11) Mai, Manfred, a.a.O. S. 183/84
(12) Harpprecht, Klaus (* 1927); „Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Nr. 7/8-2011;
Themenheft „Ach Europa“, S. 8
(13) Wilkens, Andreas (Hg.): „Wir sind auf dem richtigen Weg – Willy Brandt und die
europäische Einigung“; Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH,
Bonn (2010); S. 451/52
(14) Mai, Manfred, a.a.O. S. 194
(15) Judt, Tony, a.a.O. S. 734
(16) Judt, Tony, a.a.O. S. 734
(17) Judt, Tony, a.a.O. S- 735
(18) Schäuble, Wolfgang: “Welt am Sonntag” Nr. 40, 2.10.2011, S. 4
(19) Wikipedia: „Jacques Delors“; Stand: 11.9.2011
(20) Wikipedia; a.a.O. Stand: 11.9.2011
(21) Hüttmann/Wehling: “Das Europalexikon”, Verlag J.H.W. Dietz Nachf.
Bonn (2009), S. 80
(22) Brunn, Gerhard, a.a.O. S. 261
(23) Huber, Peter Michael, Bundesverfassungsrichter; Interview mit der „Süddeutschen
Zeitung“ am 19.9.2011
(24) Hüttmann/Wehling, a.a.O. S. 333
(25) Brunn, Gerhard, a.a.O. S. 271
(26) Brunn, Gerhard, a.a.O. S. 272
(27) Brunn, Gerhard, a.a.O. S. 275

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  • Ergänzung: Die Inflation ist stärker als vor dem Euro?

    Nein. Seit 25 Jahren gibt es den Euro. Das Eurosystem (EZB + Nationale Zentralbanken) haben das Inflationsziel zwischen 1999 und 2020 im Durschnitt deutlich besser erreicht als es davor der Fall war. Die Phase der jetzigen Inflation in Folge der Corona-Krise und der Lieferengpässe und der Energiekrise hat die Preise weltweit 2021, 2022 getrieben. Die Inflation sinkt seit Ende 2022 kontinuierlich und nähert sich wieder den 2 % an.
    Darüber hinaus hat die gemeinsame Währung Europa Stabilität in diversen Krisen gegeben.
    Die gemeinsame Währung stützt den Binnenmarkt und hat Deutschland geholfen, starke Exportleistungen zu erzielen.

  • Zum Protokoll des Gesprächskreises „Europa jetzt!“ würde ich gerne hinzufügen, dass wir Teilnehmer auch darüber debattiert haben, wie „selbstverständlich“ Europa gerade für uns jüngeren geworden ist. Viele von uns kennen es gar nicht anders. Reisen ohne Grenzen, zahlen in Euro, keine Zollgebühren beim Onlineshopping, anders kennen wir es fast nicht. Es gilt, diese Freiheiten aufzuzeigen um das Interesse an Europa zu wecken.
    Ebenso war sich der Großteil der Gruppe einig, dass wir keine Angst haben, sondern Bedenken und Unsicherheit empfinden, wenn wir die aktuellen Entwicklungen beobachten.

    • Wie wir feststellen durften ist die Halbwertszeit solcher Runden nicht ausreichend, um ein Forum nur annähernd zu füllen. Wo die Unverbindlichkeit zum Prinzip erhoben wurde, muss man tatsächlich über ganz neue Kommunikationskanäle nachdenken.