Das Rechtsstaatsurteil des EuGH

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Beitragsbild: Polnische & Ungarische Flagge | © Shutterstock

Ähnlich wie mein früheres Papier „Ungewohnte Selbstzweifel in Amerika — Europa muss dynamischer werden“ vom 24. Februar 2022 überschattet die Ukraine-Krise, die Putin inzwischen zum völkerrechtswidrigen Krieg ausgeweitet hat, auch meine heutige Darstellung. Vom Ausgangspunkt dieses Papiers, dem EuGH-Urteil vom 16.02.2022 gegen Polen und Ungarn, gibt es eine direkte Verbindungslinie zu Putins Krieg. Wie lässt sich das EuGH-Urteil, das den Schutz der Europäischen Werte gemäß Artikel 2 EUV zum Ziel hat, umsetzen in einer Zeit, in der Putins Krieg eine Zeitenwende in Europa herbeigeführt hat? Werden Polen und Ungarn die Chancen erkennen, die in der neuen Geschlossenheit von NATO und EU stecken und wieder lernen, europäisch zu denken und zu handeln? Noch ist alles offen.

Das Rechtsstaatsurteil des EuGH – Putins Überfall auf die Ukraine – Die Zeitenwende birgt eine Chance für die „Rechtsstaats-Sünder“

Endlich! War meine erste Reaktion. Endlich erhält die Europäische Union ein Werkzeug, um ihren Wertekatalog zu schützen. Der EuGH hat dazu  am 16.02.2022 klare Aussagen gemacht: „Da die Achtung der gemeinsamen Werte somit eine Voraussetzung für den Genuss all jener Rechte ist, die sich aus der Anwendung der Verträge auf einen Mitgliedstaat ergeben, muss die Union auch in der Lage sein, diese Werte im Rahmen der ihr übertragenen Aufgaben zu verteidigen.“ Wenn die Gefahr bestehe, dass ein Mitgliedstaat das Geld der EU nicht in ihrem Sinne verwende, seien auch die wirtschaftlichen Interessen der EU beeinträchtigt. Und wenn es hier einen „echten Zusammenhang“ gebe, dürfe sie die Auszahlung an entsprechende Bedingungen koppeln (sueddeutsche.de, 16.02.2022:  „EU darf Polen und Ungarn Zahlungen kürzen“). 

Polen und Ungarn sind keine Unschuldslämmer sondern beim EuGH schon so etwas wie Stammkunden.  Allein dass sie gegen den Rechtsstaatsmechanismus beim höchsten europäischen Gericht geklagt haben, empfand ich als „kühn“. Doch ihre Regierungen wollten wohl auch der eigenen Bevölkerung demonstrieren, dass sie „hart gekämpft“ haben, denn am Ende geht es um sehr viel Geld aus Brüssel. 

Nach dem EuGH-Urteil ist nun die Kommission am Zug und muss die Leitlinien zur Umsetzung der vom Gericht bestätigten Verordnung über die Konditionalität der Rechtsstaatlichkeit erlassen. Das Parlament wird sicher darüber wachen, dass dieser oder jener Regierungschef im Rat nicht versucht, das neue Instrument gleich wieder zu entschärfen um den „Rechtsstaats-Sündern“ eine Goldene Brücke zu bauen. Diese Gefahr besteht, denn mit Putins Krieg hat sich das europäische Staatenmosaik, die europäische Sicherheitsarchitektur und die Stellung und das Gewicht einzelner Mitgliedstaaten verändert. Zum einen sind Deutschland und Frankreich noch mehr gefordert, eine Führungsrolle in der EU zu übernehmen. Die osteuropäischen Mitgliedstaaten sehen sich noch mehr als bisher in ihren Warnungen über Putins Ziele bestätigt. Über die Auswirkungen der europäischen Zeitenwende auf die praktische Umsetzung des neuen Rechtsstaatsmechanismus soll an anderer Stelle dieses Papiers die Rede sein. 

Der EuGH erklärt den Rechtsstaatsmechanismus in vollem Umfang für legal

Am Tag der Urteilsverkündung – dem 16.02.2022 – hat der EuGH eine dreiseitige Pressemitteilung (Nr. 28/22) veröffentlicht und darin zunächst die die Entwicklungen und Hintergründe dargestellt, die zur Entscheidung des Gerichts geführt haben. Die Pressemitteilung ist eine wahre Fundgrube für überzeugte Europäer. Darin werden die an sich trockenen juristischen Zusammenhänge in europäisches Denken und in praktische europäische Politik übersetzt:

„In den beiden Rechtssachen haben sich Ungarn und Polen gegenseitig unterstützt, während Belgien, Dänemark, Deutschland, Irland, Spanien, Frankreich, Luxemburg, die Niederlande, Finnland, Schweden und die Kommission als Streithelfer zur Unterstützung des Parlaments und des Rates aufgetreten sind.“ (Schon diese Aufzählung zeigt, wie sehr sich Polen und Ungarn in der Wertediskussion in der EU isoliert haben). 

„Auf Antrag des Parlaments hat der Gerichtshof diese Rechtssachen im beschleunigten Verfahren behandelt. Außerdem sind die Rechtssachen an das Plenum des Gerichtshofs verwiesen worden, weil sie ein Frage von grundsätzlicher Bedeutung aufwerfen, nämlich inwieweit die Union nach den Verträgen die Möglichkeit hat, ihren Haushalt und ihre finanziellen Interessen davor zu schützen, dass in den Mitgliedstaaten gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit verstoßen wird.“

Pressemitteilung des EuGH (Nr. 28/22)

Das Ziel der allgemeinen Konditionalitätsregelung ist vordergründig, „den Unionshaushalt vor Beeinträchtigungen zu schützen, die sich hinreichend unmittelbar aus Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit ergeben, und liegt  nicht etwa darin, derartige Verstöße als solche zu ahnden.“ Letztlich ging es bei der Entscheidung des EuGH um den Schutz der in Artikel 2 EUV verankerten Werte der Europäischen Union. Der Schutz des EU-Haushalts und der darin enthaltenen Zuschussgelder sind das Instrument, um den Schutz der Werte in der Praxis zu gewährleisten.

„Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten darauf beruht, dass diese die gemeinsamen Werte achten, auf die sich die Union gründet. Diese Werte haben die Mitgliedstaaten festgelegt, und sie sind ihnen gemeinsam. Sie geben der Union als Rechtsgemeinschaft der Mitgliedstaaten schlechthin ihr Gepräge. Zu ihnen zählen Rechtsstaatlichkeit und Solidarität. Da die Achtung der gemeinsamen Werte somit eine Voraussetzung für den Genuss all jener Rechte ist, die sich aus der Anwendung der Verträge auf einen Mitgliedstaat ergeben, muss die Union auch in der Lage sein, diese Werte im Rahmen der ihr übertragenen Aufgaben zu verteidigen.“

Pressemitteilung des EuGH (Nr. 28/22)

Eine wichtige Feststellung – sie mag vor allem an die ungarische Regierung und Viktor Orban gerichtet sein, der zielstrebig dabei ist, Ungarn in eine illiberale Demokratie umzubauen: Die Verpflichtung zur Achtung der Werte lässt sich nicht auf den Zeitpunkt des Beitritts zur Union beschränken, der ein Beitrittskandidat danach wieder entsagen kann. Es klingt wie eine Selbstverständlichkeit: Die Beachtung und der Schutz der Werte der EU sind eine Dauerverpflichtung für die Organe und die Mitgliedstaaten. Es ist gut und sinnvoll, dass dies vom EuGH ausdrücklich ausformuliert wurde.

In einem weiteren Abschnitt der Entscheidung erteilte der EuGH den Regierungen in Warschau und Budapest geradezu eine Lektion zu der Frage, wie Rechtsstaatlichkeit und der konkrete Inhalt der EU-Werte zu definieren sind: „… soweit Ungarn und Polen vorgebracht haben, es liege ein Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit vor – insbesondere insofern, als die Verordnung weder den Begriff „Rechtsstaatlichkeit“ noch die dazugehörigen Grundsätze definiere –, dass die in der Verordnung als Bestandteile dieses Begriffs angeführte Grundsätze in der Rechtssprechung des Gerichtshofs umfänglich konkretisiert worden sind, dass diese Grundsätze ihren Ursprung in gemeinsamen Werten haben, die auch von den Mitgliedstaaten in ihren eigenen Rechtsordnungen anerkannt und angewandt werden, und dass sie auf einem Verständnis von „Rechtsstaatlichkeit“ basieren, das die Mitgliedstaaten teilen und dem sie sich im Sinne eines ihren Verfassungstraditionen gemeinsamen Wertes anschließen. Infolgedessen befindet der Gerichtshof, dass die Mitgliedstaaten in der Lage sind, den Wesensgehalt jedes dieser Grundsätze sowie die aus ihnen folgenden Erfordernisse hinreichend genau zu bestimmen.“ 

Und schließlich der entscheidende Schlusssatz des Urteils: „Unter diesen Umständen weist der Gerichtshof die Klage Ungarns und Polens in vollem Umfang ab.“ (alle Zitate aus: Pressemitteilung Nr. 28/22 des EuGH).

Das Urteil ist ganz klar. Der neue Rechtsstaatsmechanismus kann umgesetzt werden“, meldet tagesschau.de am 16.02.2022 („Rechtsstaatsmechanismus ist rechtens“). Ähnlich formuliert auch Thomas Kirchner in einem Kommentar in der Süddeutschen Zeitung

„Politisch sendet dieses Urteil ein unmissverständliches Signal: Die EU lässt sich nicht auf der Nase herumtanzen von Regierungen, die essenzielle gemeinsame Werte missachten; Richter nach Gusto auswählen und disziplinieren oder freie Medien drangsalieren. Sie hat nun Waffen in der Hand, sie muss sich die Tricks und Täuschungsmanöver nicht mehr gefallen lassen, mit denen etwa Polen seit Jahren seine Absichten verschleiert und auf Zeit spielt. Bestehen können wird die EU nur als wehrbare Gemeinschaft. Nach außen fehlt dazu viel, nach innen ist sie auf dem richtigen Weg.“ 

sueddeutsche.de, 16.2.22: „Volle Waffenkammer“, Kommentar von Thomas Kirchner 

Doch Kirchner ist misstrauisch hinsichtlich der Umsetzung des Urteils:

 „Am Ziel ist sie (die EU) aber noch nicht. Das beweist die Reaktion der EU-Kommission. Sie will das Urteil erst „sorgfältig analysieren“, bevor sie sich daranmacht, Richtlinien für die Umsetzung des neuen Mechanismus zu erarbeiten. Als hätten diese nicht längst vorbereitet werden können, schließlich war abzusehen, wie Luxemburg entscheiden würde. Im EU-Parlament, wo sich Kommissionschefin von der Leyen bei einer Debatte zum Thema am Mittwoch nicht blicken ließ, ist man zu Recht empört. Die Kommission mag dafür taktische Gründe haben, etwa die bevorstehenden Wahlen in Ungarn, aber es kann nicht sein, dass ihr Zögern in Rechtsstaatsfragen wie eine Methode erscheint.“ 

sueddeutsche.de, 16.2.22: „Volle Waffenkammer“, Kommentar von Thomas Kirchner 

Eine bemerkenswerte Warnung, die nach der europäischen Zeitenwende durch Putins Krieg gegen die Ukraine eine besondere Bedeutung gewinnt. 

Das EuGH-Urteil wurde weit über Europa hinaus beachtet. In der New York Times wird auf den gleichen Stolperstein bei der Umsetzung verwiesen: „Der Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung macht das Urteil politisch explosiv. In wenigen Wochen wird in Ungarn gewählt, und die EU bemüht sich, angesichts der russischen Aggression gegen die Ukraine (den heißen Krieg hatte Putin zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung noch nicht vom Zaun gebrochen) die Reihen zu schließen …” (nytimes.com, 16.002.2022: „Top European Court Rules E.U. Can Freeze Aid to Poland and Hungary“). Der NYT-Bericht zitiert Daniel Freund, MdEP der Grünen, mit der Aussage: „Die Ukraine-Krise entzieht diesem Vorgang (der Umsetzung des EuGH-Urteils) die Aufmerksamkeit; es wird starke Bestrebungen um Einheit geben, falls die Situation in der Ukraine eskaliert.“ Diese Befürchtung ist spätestens am 24.2.2022, mit dem völkerrechtswidrigen Angriff russischer Truppen auf die Ukraine noch aktueller geworden. Die angrenzenden EU-Mitgliedstaaten, darunter auch Polen und Ungarn, sind unmittelbares Ziel der Flüchtlinge aus der Ukraine geworden und leisten bei der Aufnahme und Unterbringung Gewaltiges – dies muss gewürdigt werden.  Problematisch wird es dann, wenn sie Vorschläge öffentlich machen, die in der NATO oder EU nicht abgestimmt sind, wie etwa den Aufruf des PiS-Politikers und stellvertretenden polnischen Ministerpräsidenten Jaroslaw Kaczynski, an die NATO, eine bewaffnete Schutztruppe der NATO aufzustellen um die humanitären Transporte in die Ukraine zu schützen. Genau auf solche Alleingänge wartet Putin, um die geschlossene Front von NATO und EU aufzubrechen.

Hier zeigt sich einer der Verbindungspunkte zwischen dem Ausgangsthema – Rechtsstaatsurteil des EuGH – und Putins Krieg, auf die ich in den nächsten Abschnitten näher eingehen werde. Es stellt sich die geradezu makabere Frage, ob ausgerechnet Wladimir Putin, der alles tut, um NATO und EU zu schwächen, dazu beitragen wird, dass  „Rechtsstaatssünder“ wie Polen und Ungarn von EU-Sanktionen verschont werden?  Putin als „Beschützer“ und „Befreier“ der vermeintlich von der Diktatur aus Brüssel Verfolgten? Eine geradezu aberwitzige Vorstellung. Es sollte in der EU einen anderen Lösungsweg aus der Rechtsstaatsproblematik geben.

Putins völkerrechtswidriger Krieg – Die Zeitenwende

In den Monaten vor der russischen Invasion in die Ukraine wurde in den Medien darüber heftig spekuliert, ob Putin es tatsächlich wagen werde, die Ukraine, das er als Brudervolk bezeichnete, mit brutaler Gewalt zu überfallen und damit 77 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa einen heißen Krieg zu entfesseln.  Für die Älteren, die das Kriegsende 1945 noch erlebt hatten und auch für die Jüngeren, die in einem gefährdeten aber doch friedlichen Kontinent aufgewachsen sind, war die Vorstellung eines Krieges gleichermaßen unvorstellbar. 

Doch echte Putin-Kenner und Kreml-Experten schlossen die Gefahr eines Krieges in Europa nicht mehr aus.  „Wenn Putin ein Großrussland anstrebt, wäre jetzt der Moment dafür“, überschrieb Sonja Zekri ihren Bericht in der Süddeutschen Zeitung (sueddeutsche.de, 21.02.2022). Immer wieder hatte der russische Präsident den Untergang Russlands als Großmacht am Ende des Kalten Krieges beklagt. Der Journalist German Lopez zitiert in der New York Times eine länger zurückliegende Aussage Putins, der den Untergang der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts“ bezeichnete und andeutete, er wolle diesen Zusammenbruch revidieren. „Putins Klagen sind weniger ideologisch begründet – er ist kein Kommunist und regiert auch nicht wie ein solcher – es geht ihm um eigene Interessen: Er will seine Macht absichern und verspricht sich von einer Ausweitung von Russlands globaler Einflusssphäre noch mehr Unterstützung zu Hause.“ (nytimes.com – The Morning, 27.02.2022:  „A war on democracies“). 

Doch darüber hinaus lässt sich Putin durchaus auch von ideologischen Vorstellungen leiten. Mikhail Zygar, russischer Journalist und Autor des Buches „All the Kremlin’s Men – Inside the Court of Vladimir Putin“ – beschreibt in einem Gastbeitrag in der New York Times die vor allem von Putins engem Freund und Berater sowie Anteilseigner der Rossiya Bank. Yuri Kovalchuk entwickelten Vorstellungen zur Wiedererlangung von Russlands Größe. Kovalchuk hat ein Doktorat in Physik, doch er sei nicht nur ein Mann der Wissenschaft sondern auch ein Ideologe, dessen Weltsicht sich zusammensetzt aus orthodox christlicher Mystik, anti-amerikanischen Verschwörungstheorien und Hedonismus. (Hedonismus: eth. Lehre der griech. Philosophie, derzufolge das höchste Ziel alles menschl. Weltverhaltens der Glückszustand der Seele ist (s.a. Epikur);  Quelle: Duden-Lexikon in 3 Bänden, Mannheim 1976).

Zygar schreibt in seinem NYT-Gastbeitrag, dass Putin – nach Aussage von Beratern – in den letzten zwei Jahren das Interesse an der Gegenwart völlig verloren habe. Wirtschaftsfragen, soziale Probleme und die Pandemie widerten ihn an. Statt dessen seien er und Kovalchuk geradezu besessen von der Vergangenheit  (nytimes.com, 10.03.2022: „How Vladimir Putin Lost Interest in the Present“).

Ähnlich schreibt auch Frank Nienhuysen in seinem Kommentar in der Süddeutschen Zeitung: „Mit Säbelrasseln versucht Russland seine selbstbewusst gewordene Nachbarschaft wieder einzufangen. Doch mit Einschüchterung lässt sich ein zerbrochenes Imperium nicht kitten.“ (sueddeutsche.de, 23.02.2022: „Putins Waffen von gestern“; Kommentar von Frank Nienhuysen).

Den Marschbefehl an seine Invasionstruppen hat er mit einer sehr selektiven Vorlesung aus der russischen und ukrainischen Geschichte begründet. Sonja Zerki zitiert dazu ein sowjetisches Sprichwort: „Die Vergangenheit ändert sich ständig.“ In einem weiteren SZ-Kommentar zitiert Paul-Anton Krüger den deutschen Bundeskanzler, der nach seinem mehrstündigen Gespräch mit Putin in Moskau sagte, dass er, Scholz, einer Generation angehöre, für die Krieg in Europa undenkbar geworden sei. „Das ist eher als moralischer Appell zu verstehen, denn als Zustandsbeschreibung“, merkt Krüger dazu an. „Denn dass Krieg und die Drohung damit in Europa längst wieder ein Mittel der Politik geworden ist, verkörpert niemand mehr als der Mann, der im Kreml neben Scholz stand: Russlands Präsident Wladimir Putin.“  (sueddeutsche.de, 20.02.2022:  „Ob es Krieg gibt, weiß nur Putin“).

Und in der Tat, beim Besuch von Olaf Scholz in Moskau am 15.02.2022 und auch beim vorherigen Besuch von Emmanuel Macron am 7.02.2022 waren die russischen Angriffspläne längst abgeschlossen. Putin hat seine beiden Besucher vorgeführt, hat nur so getan, als gebe es noch Chancen für den Frieden. Macron hat vor und nach seinem Moskau-Besuch wiederholt mit Putin telefoniert und hatte mit diesem mehr Kontakt als jeder andere westliche Regierungschef. Die Deutsche Welle berichtet, dass französische Diplomaten daraus den Schluss zogen, dass der Kreml-Chef nicht abgeneigt war, mit Paris und anderen europäischen Hauptstädten ins Gespräch zu kommen. Und das trotz seiner ursprüngliche Weigerung, mit den Europäern überhaupt zu reden und nur US-Präsident Joe Biden als Verhandlungspartner anzuerkennen (DW, 6.02.2022:  „Macrons diplomatische Offensive in Moskau“). Der Scholz-Besuch in Moskau, eine Woche später, wurde in der Tagesschau als „letzte Chance für den Frieden?“ bezeichnet – allerdings versehen mit einem Fragezeichen (tagesschau.de, 15.02.2022: „Letzte Chance für den Frieden?“).

Putin hat die NATO als Popanz aufgebaut, die vermeintliche Bedrohung Russlands durch die NATO als Vorwand für den Angriff auf die Ukraine ausgerufen, obwohl ihm Scholz und andere erklärt hatten, dass ein NATO-Beitritt der Ukraine derzeit kein Thema sei und obwohl von Seiten der NATO immer wieder erklärt wurde, nicht in den Krieg eingreifen zu wollen.

Nur wenige Tage danach, am 24.02.2022, hat Putin die Kriegsfurie entfesselt und den Marschbefehl für seine „Militärische Spezial-Operation“ gegen Drogensüchtige und Neonazis gegeben. Wer in Russland von Krieg spricht, muss damit rechnen, bestraft zu werden.

Dass Putin aber Macron und Scholz belogen hat, dürfte dazu beigetragen haben, dass NATO und EU in seltener Geschlossenheit reagiert haben. Putin selbst hat den Beweis geliefert, dass man seinen Worten nicht trauen kann. Das internationale Rating Russlands ist negativ und sieht inzwischen so aus:         

  • Im UN-Sicherheitsrat konnte Russland am 25.02.2022 eine Resolution gegen den Einmarsch in die Ukraine nur durch das eigene Veto abwenden (Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung; Kurz & Knapp: Acht Fragen zum Krieg in der Ukraine – 7.03.2022)
  • Die UN-Vollversammlung verurteilte den Einmarsch am 2.03.2022 mit 141 zu 5 Stimmen, bei 35 Enthaltungen. Eine solche Notfallsitzung wurde im 21. Jahrhundert zum ersten Mal einberufen. Insgesamt gab es seit 1950 nur 11 solche Notfallsitzungen (Quelle: wie oben).
  • Das IOC empfiehlt, russische Athleten an internationalen Wettkämpfen nicht teilnehmen zu lassen.
  • Die Fifa und die Uefa haben am 28.02.2022 Russland und Belarus von allen Vereins- und Nationalmannschaftswettbewerben ausgeschlossen. Dadurch kommt RB Leipzig in der Europa-League kampflos eine Runde weiter, da Spartak Moskau ausgeschlossen ist. Die russische Nationalmannschaft ist von den WM-Ausscheidungsspielen für Katar ausgeschlossen. Nicht nur die meisten russischen Athleten werden auf der Bühne des Weltsports nicht mehr zu sehen sein, auch die Logos der meisten Firmen und Konzerne verschwinden. (Quelle:  Heilbronner Stimme, 1.03.2022:  „Russland ist im Weltsport nicht mehr erwünscht“)
  • Der Internationale Gerichtshof in Den Haag, das höchste Gericht der Vereinten Nationen, hat am 16.03.2022 den russischen Angriff auf die Ukraine als völkerrechtswidrig verurteilt. Er müsse sofort beendet werden. Das Gericht hat jedoch keine Macht, das Urteil zu vollstrecken, es scheint auf den ersten Blick nur symbolisch zu sein. Eine Passage im Bericht der Süddeutschen Zeitung ist bemerkenswert: „Russland hat vor dem Gerichtshof argumentiert, dass die Behauptung Putins, die Ukraine verübe „Völkermord“ gegen russischstämmige Menschen, nicht wörtlich gemeint gewesen sei, jedenfalls nicht im Sinne der Völkermordkonvention von 1948“ (sueddeutsche.de, 16.03.2022: „Punkt fürs Völkerrecht“). Was für eine fadenscheinige Einlassung der Paladine Putins.

Wie immer Putins Ukraine-Abenteuer auch ausgehen mag, das Misstrauen großer Teile der Welt gegenüber der russischen Regierung wird bleiben. Putins Nachfolger werden vor einem Berg von unbeantworteten Fragen stehen. 

Am 23.02.2022, einen Tag vor der russischen Invasion – beschrieb der französische Regierungssprecher Gabriel Attal das Dilemma, in das Putin sein Land gebracht hat: Das Voranschreiten eines russischen Nationalismus, der seine Wünsche nach einem Imperium wieder finde, bedrohe die Grundprinzipien des Bestehens „unseres Europas“. „Diese Herausforderung der europäischen und internationalen Sicherheit liegt vor uns“ (Heilbronner Stimme, 24.02.2022).

Den Begriff Zeitenwende hat der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz gebraucht, um in seiner Regierungserklärung im Rahmen der Sondersitzung des Bundestags am Sonntag, 27.02.2022 zu beschreiben, welche außergewöhnlichen Folgen der von Putin ausgelöste Angriff auf das souveräne Nachbarland, die Ukraine, für Deutschland und für Europa haben wird:

„Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen – aus einem Grund: Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückungsregime infrage. Das ist menschenverachtend. Das ist völkerrechtswidrig.  Das ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen.

Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen.

Putins Krieg bedeutet eine Zäsur, auch für unsere Außenpolitik. So viel Diplomatie wie möglich, ohne naiv zu sein, dieser Anspruch bleibt. Nicht naiv zu sein, das bedeutet aber auch, kein Reden um des Redens willen.“

Olaf Scholz, Sondersitzung des Bundestags (27.02.2022)

Im Endeffekt kündigte Olaf Scholz am 27.02.2022 eine völlige Neuausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik an. Die Heilbronner Stimme bezeichnet dies als eine historische Wende (Heilbronner Stimme, 28.02.2022: „Scholz kündigt Aufrüstung an“), und Christine Tantschinez überschrieb ihren Kommentar in derselben Zeitung mit dem Begriff „Kehrtwende“: „Während Vorgängerregierungen Krisen lieber ausgesessen und auf das „Wandel durch Handel“-Mantra gehofft haben, legt die Ampel-Koalition endlich dringend nötige Kehrtwenden hin. Zum ersten Mal werden offiziell Waffen an ein von einem Aggressor bedrängtes Land geliefert“ (Heilbronner Stimme, 28.02.2022: „Kehrtwende“; Meinungskommentar von Christine Tantschinez). 

Die New York Times schreibt in einem Bericht über die Sondersitzung des Bundestags von einem fundamentalen Richtungswechsel nicht nur in der deutschen Außen- und Verteidigungspolitik sondern auch im Verhältnis zu Russland. Dabei wird der im Straßenverkehr gebräuchliche Begriff „U-Turn“ verwendet, um die Kehrtwendung plastisch zu beschreiben (nytimes.com, 27.02.2022: „In Foreign Policy U-Turn, Germany Ups Military Spending, Arms Ukraine“).

Dies sind die wesentlichen Schwerpunkte der neuen deutschen Außen- und Sicherheitspolitik:

  • „Ohne Wenn und Aber stehen wir zu unserer Bündnispflicht in der NATO“ (Olaf Scholz im Bundestag am 27.02.2022);
  • Für notwendige Investitionen, bessere Ausrüstung, modernes Einsatzgerät und mehr Personal wird ein Sondervermögen Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro eingerichtet und im Grundgesetz verankert; 
  • Entsprechend den Vereinbarungen im Rahmen der NATO wird Deutschland ab sofort jährlich mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung investieren;
  • Deutschland wird für die nukleare Teilhabe rechtzeitig einen modernen Ersatz für die veralteten Tornado-Jets beschaffen. (Inzwischen ist eine Vorentscheidung für das amerikanische Kampfflugzeug F-35 gefallen);
  • Deutschland wird umsteuern um die Importabhängigkeit von einzelnen Energielieferanten zu überwinden. Der Bundeskanzler kündigte den raschen Bau von 2 Flüssiggas-Terminals in Brunsbüttel und Wilhelmshaven an.

Bereits vor der Sondersitzung des Bundestags am 27.02.2022 hatte die Bundesregierung die Gas-Pipeline „Nord Stream 2“ auf Eis gelegt, und die Lieferung von 1.000 Panzerabwehrwaffen und 500 Stinger-Luftabwehrraketen an die Ukraine angekündigt.

Eine Passage in der Regierungserklärung erscheint mir besonders bemerkenswert – sie betrifft die Zukunft Europas und der Europäischen Union: 

„Die Zeitenwende trifft nicht nur unser Land, sie trifft ganz Europa. Und auch darin stecken Herausforderung und Chance zugleich. Die Herausforderung besteht darin, die Souveränität der Europäischen Union nachhaltig und dauerhaft zu stärken. Die Chance liegt darin, dass wir die Geschlossenheit wahren, die wir in den letzten Tagen unter Beweis gestellt haben, Stichwort ‚Sanktionspaket‘. Für Deutschland und für alle anderen Mitgliedsländer der EU heißt das, nicht bloß zu fragen, was man für das eigene Land in Brüssel herausholen kann, sondern zu fragen: Was ist die beste Entscheidung für die Union?“

Olaf Scholz, Sondersitzung des Bundestags (27.02.2022)

Scholz spricht hier die alten und neuen Herausforderungen an, vor denen die EU in dieser Zeitenwende steht. Er spricht aber auch von den Chancen, diese Herausforderungen durch die Geschlossenheit der EU-Mitgliedstaaten zu meistern. Diese Passage bringt mich zurück zum Ausgangspunkt dieses Papiers, das vom Auseinanderdriften und von der Spaltung der EU handelt und auch von der Isolierung, in der Länder wie Polen und Ungarn durch ihre nationalistische und autokratische Politik geraten sind. An anderer Stelle werde ich die Frage stellen, ob die Zeitenwende nicht auch für Polen und Ungarn eine Chance beinhaltet, diese Isolierung zu überwinden und wieder europäisch denken zu lernen.

Putins Fehleinschätzungen

Es wäre vermessen, wollte ich in wenigen Abschnitten dieses Papiers, dessen eigentlicher Ausgangspunkt das Rechtsstaatsurteil des EuGH vom 16.02.2022 ist, die Ursachen und Hintergründe von Putins Krieg ausführlich darstellen und dann noch eine Verbindungslinie zwischen beiden Ereignissen ziehen. Dies würde den Umfang dieses Papiers bei weitem sprengen. Eingehen will ich aber auf ein Stichwort, das Putin und sein Land auch nach Ende des Krieges – wie immer er auch ausgehen wird – noch schwer zu schaffen machen dürfte: Putins Fehleinschätzungen, die seiner Entscheidung, die Ukraine zu überfallen, zu Grunde liegen.

Erste Fragen tauchten auf, als bereits wenige Tage nach der Invasion der russische Vormarsch auf Kiew – trotz großer militärischer Überlegenheit und Feuerkraft – aus zunächst unklaren Gründen ins Stocken geriet.  Im weiteren Verlauf ergab sich aus einem Mosaik von großen und kleinen Fehlern bei der Vorbereitung der Invasion ein Gesamtbild, das inzwischen an Putins Genialität zweifeln lässt.

In Aussagen von Experten und in Darstellungen der Medien wurden in diesem Zusammenhang insbesondere drei Komplexe genannt, die Putin falsch eingeschätzt oder mit denen er sich offenbar nur oberflächlich beschäftigt hat.

  • Die Standfestigkeit und der Kampfesmut des ukrainischen Militärs und der Zivilbevölkerung sowie das Führungsgeschick des ukrainischen Präsidenten Woldomir Selenskij;
  • Die Geschlossenheit der NATO und der EU, der Umfang und die Zielrichtung der beschlossenen Sanktionen und deren Wirkung auf die russische Wirtschaft und Gesellschaft;
  • Die Frage, wie lange und wie standfest die Mehrzahl der russischen Bevölkerung hinter dem Krieg ihres Präsidenten stehen wird.

(1) Von militärischer und ziviler Standfestigkeit

„Putin scheitert im Blitzkrieg“ (Heilbronner Stimme, 1.03.2022)

Es ist kaum vorstellbar, dass Putin selbst daran glaubte, was er seinen Soldaten zum Beginn der Invasion am 24.02.2022 ausrichten ließ: Die Ukrainer würden sie mit Blumen in den Händen als „Befreier“ empfangen.  Auch eine andere Erwartung Putins wurde nicht erfüllt: Dass die als Blitzkrieg geplante Invasion in die Ukraine nach wenigen Tagen mit dem Einmarsch in Kiew enden würde. Das Gegenteil trat ein!

Am 7.03.2022 – dem 12. Kriegstag – berichtete die New York Times, dass das vielfach unterlegene ukrainische Militär nach vorsichtigen amerikanischen Schätzungen mehr als 3.000 russische Soldaten getötet habe. „Die Ukrainer holten russische Militärtransporter vom Himmel, die Fallschirmjäger transportierten, zerstörten Hubschrauber und rissen mit amerikanischen Anti-Panzer-Raketen und türkischen Drohnen Löcher in russische Militärkonvois.“ Die russischen Soldaten litten nach Angaben dieses Berichts sowohl an schwacher Moral als auch an Treibstoffknappheit. Dazu das Fazit der New York Times:  Europäische Militärs, das einst die Russen fürchteten, sagen heute, sie fühlten sich von russischen Bodentruppen nicht mehr so eingeschüchtert wie früher.“ (nytimes.com, 7.03.2022: „As Russia’s Military Stumbles, It’s Adversaries Take Note“). Am 15.03.2022 lautete eine Überschrift in der Süddeutschen Zeitung: Putin begreift inzwischen, dass er vor dem Einmarsch in die Ukraine in die Irre geführt wurde.

Allerdings hat Putin die Schwächen seiner Bodentruppen erkannt und seine Strategie umgestellt. Der ukrainische Generalstab berichtet, dass die Russen nun zur totalen Zerstörung der zivilen Infrastruktur, der Wohngebiete und der Lebensgrundlagen übergegangen sind (nytimes.com, 18.03.2022: „Russia’s military progress slows, but it makes gains in the south and east“). Putin lässt nun die Lebensgrundlage der Menschen zerstören, die er kurz zuvor noch als „Brudervolk“ bezeichnet hatte.

Außerordentlich bemerkenswert ist die Art und Weise, wie der ukrainische Präsident in der Krise seines Landes agiert. Heribert Prantl bezeichnet ihn in der Süddeutschen Zeitung als den ukrainischen David: „Er spricht mit der Autorität tapferer Selbstbehauptung und dem Mut der Verzweiflung, dem man die Verzweiflung nicht anmerkt, weil er in sich ruht.“ (sueddeutsche.de, 13.03.2022: „Selenskij, der ukrainische David“; Kolumne „Prantls Blick“). Taktisch geschickt wendet sich Selenskij mit eindringlichen Appellen in der Sprache der Invasoren an das russische Militär und die Bevölkerung Russlands und stößt zum Nachdenken darüber an, ob Putins Kriegsziele die steigenden Opferzahlen rechtfertigen können. Ob die Appelle fruchten, steht auf einem anderen Blatt. Sie sind schon dann hilfreich, wenn sie im Laufe der Zeit Zweifel wecken.

Eine zweifelhafte Figur am Rande des Unglücks der Ukraine sei noch erwähnt: Der frühere amerikanische Präsident Donald Trump, der einst Selenskij mit der Zurückhaltung amerikanischer Militärhilfe zwingen wollte, ihm „Dreck“ für den Wahlkampf gegen Joe Biden zu liefern. „Man stelle sich vor, das wäre zur Zeit von Trump passiert“, schreibt Joachim Käppner in einem Kommentar in der Süddeutschen Zeitung und malt dieses Bild drastisch aus: „Hätte Putin den Invasionsbefehl nur anderthalb Jahre früher erteilt … dann hätte im Weißen Haus nicht Joe Biden regiert, der jetzt die Einigkeit der freien Welt beschwört und zur Abschreckung Soldaten der 82. Luftlandedivision an die Ostgrenze der NATO entsendet … In Washington hätte stattdessen jener politische Horrorclown sein Unwesen getrieben, der Putin nun umschmeichelt, wie „genial“ und „clever“ dessen Angriffskrieg gegen die hoffnungslos unterlegene Ukraine sei.“  (sueddeutsche.de, 27.02.2022: „Putin hat die Zeit schlecht gewählt, immerhin“; Kommentar von Joachim Käppner).   

Käppner bezieht sich hier auf Lobhudeleien Trumps für Putin, die er am 22.02.2022 – nachdem Putin Truppen in die Ostukraine verlegt hatte – in einem Interview öffentlich machte. „Das ist die größte Friedenstruppe, die ich je gesehen habe. Dort waren mehr Panzer, als ich je gesehen habe“, schwärmte Trump (sueddeutsche.de, 23.02.2022: Wie Ex-Präsident Trump seinem Nachfolger in den Rücken fällt“).

Biden ist wie gemacht für diesen Moment“, zitiert Hubert Wetzel in einem ausführlichen Bericht aus Washington den früheren CIA-Mitarbeiter Marc Polymeropoulos, der mehrere Jahre für geheime CIA-Missionen in Europa und Russland verantwortlich war. „Europa war immer das wichtigste Schlachtfeld für unser Ringen mit Russland. Und die Ukraine war Ground Zero.“ Wetzel schreibt: „Joe Biden ist nicht Donald Trump, schon deshalb sind viele Europäer heilfroh, dass er gerade Präsident ist.“ Biden sei ein Mann, der den Kalten Krieg nicht nur aus dem Kino kennt – und Putin schon immer für gefährlich hielt.“  (sueddeutsche.de, 21.03.2022: „Biden ist wie gemacht für diesen Moment“).

Wie schon in früheren Beiträgen könnte ich hier erneut die Frage aufwerfen, was geschehen könnte, würde Trump 2024 erneut ins Weiße Haus einziehen. Doch auch in den USA hat Putins Krieg ein Umdenken angestoßen – ob es bei Trumps Republikanischen Partei zur politischen Zeitenwende wird, ist noch völlig offen. In einem Bericht zitiert die New York Times Politiker-Aussagen von beiden Seiten des politischen Spektrums, die eine Verschiebung der Themenschwerpunkte in den Vereinigten Staaten andeuten. „Die Ukraine hat viele Republikaner über die Bedeutung internationaler Bündnisse nachdenken lassen“, sagte der republikanische Kongressabgeordnete Tom Cole aus Oklahoma. „Andere Länder sind nicht immer nur eine Last. Sie sind oft auch ein Aktivposten.“ Senator Chris Coons, Demokrat aus Delaware und enger Vertrauter von Präsident Biden, stellte fest, man müsse zurückgehen bis 9/11 (die Terroranschläge am 11.09.2001), um ein solch geschlossenes Engagement zu erleben (nytimes.com,15.03.2022: „Ukraine War Shifts the Agenda in Congress, Empowering the Center“). 

Die Nagelprobe, ob die Republikaner tatsächlich stark genug sind, sich von Trumps „America first“ und vom Trumpismus freizumachen, wird bei der Benennung des Kandidaten für die Präsidentschaftswahl 2024 gestellt. Im erwähnten Bericht der Süddeutschen Zeitung von Hubert Wetzel steht dazu ein wichtiger Hinweis: „Der Name Trump fällt gerade oft in Washington, verbunden mit einem Seufzer der Erleichterung,“  Bis 2024 wird zwar noch viel Wasser den Potomac River hinunterfließen, aber – welche Ironie des Schicksals: Würde ausgerechnet Wladimir Putin, den Trump immer bewundert und geradezu angehimmelt hat, Trumps Pläne für den erneuten Einzug ins Weiße Haus vermasseln? 

(2) Die Geschlossenheit von NATO und EU

Der russische Präsident hat nicht nur den militärischen Widerstand gegen seine Truppen falsch eingeschätzt, er hat auch – aufgrund früherer Erfahrungen – nicht mit der jetzigen Geschlossenheit von NATO und EU gerechnet. Putin hätte es besser wissen können, denn bereits vor Beginn der Invasion hatten ihn Politikerinnen und Politiker aus Europa und den USA vor einem beispiellosen Sanktionspaket gewarnt. Putin hat den Warnungen nicht geglaubt und sie in den Wind geschlagen. 

Yaroslav Hrytsak, Historiker und Professor an der Ukrainischen Katholischen Universität in Lviv, beschreibt in einem Gastbeitrag in der New York Times zwei Fehleinschätzungen Putins: Die (bereits erwähnte) Erwartung, die russischen Truppen würden beim Einmarsch mit Blumen begrüßt werden. Und in jener Hoffnung und Erwartung – ähnlich wie nach dem Krieg gegen Georgien 2008 –  der Westen würde auch die Aggression gegen die Ukraine stillschweigend schlucken. „Doch der erneuten russischen Aggression begegnete die Ukraine mit heldenhaftem Mut – und sie einte den Westen.“ Der Putin’schen Kaffeesatzleserei, die Ukraine und Russland seien in Wirklichkeit ein Land und die Ukraine existiere nicht, stellt der Historiker Hrytsak – er hat vor kurzem ein Werk zur Geschichte der Ukraine veröffentlicht – die historischen Fakten gegenüber: 

„Ukrainer und Russen unterscheiden sich nicht grundlegend in Sprache, Religion oder Kultur – darin sind sie sich relativ nah – der wesentliche Unterschied liegt in ihren politischen Traditionen. Kurz gesagt: Eine demokratische Revolution ist in Russland so gut wie unmöglich, wohingegen in der Ukraine eine dauerhafte autoritäre Regierung so gut wie unmöglich ist.“ 

nytimes.com, 19.03.2022: „Putin Made a Profound Miscalculation on Ukraine“, Gastbeitrag von Yaroslav Hrytsak

Am 20.02.2022 – vier Tage vor der russischen Invasion – kündigte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für den Fall, dass die russische Armee in ukrainisches Territorium eindringt, ein „großes Sanktionspaket“ an, das die EU-Außenminister am 21.02.2022 abgesegnet haben. Das Paket war in enger Abstimmung mit den Partnern, unter anderem mit den USA und mit Großbritannien, geschnürt worden und zielt insbesondere darauf, Russland von den internationalen Finanzmärkten abzuschneiden und durch ein Export-Embargo die Ausfuhr von Gütern und Technologie zu unterbinden, die Russland „dringend braucht, um seine Wirtschaft zu modernisieren und zu diversifizieren“ – weg von der Öl-, Gas- und Kohleförderung  (sueddeutsche.de, 21.01.2022:  „EU plant umfassende Sanktionen gegen Russland“).    

In einer Video-Schalte der NATO-Mitgliedstaaten wurde im Wesentlichen folgendes beschlossen:

  • Das klare Bekenntnis zur gegenseitigen Beistandspflicht nach Art. 5 des NATO-Vertrags.
  • Waffenlieferungen an die Ukraine.
  • Truppenverlegungen nach Polen und in die Baltischen Staaten (später auch in Staaten an der Südostflanke der NATO).
  • Ein aktives Eingreifen der NATO in den Ukraine-Krieg wurde ausgeschlossen.

Den Stand der Dinge, nachdem Putin Teile der Ostukraine als „unabhängige Volksrepubliken“ anerkannt hatte und unmittelbar vor der russischen Invasion, fasste der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil in wenigen Sätzen zusammen:

„Wladimir Putin hat die Entschlossenheit und Geschlossenheit der Europäischen Union und der USA unterschätzt. Es ist gut, wie geschlossen die EU und auch die transatlantischen Partner in dieser Situation auftreten. Putin hat sich international isoliert und wird dafür eine hohen Preis zahlen.  Es ist jetzt an ihm, wirksam dazu beizutragen, dass die Lage nicht weiter eskaliert.“ 

newsletter@spd.de, 22.02.2022: „Putin hat die ausgestreckte Hand Europas weggeschlagen“

Kurt Kister schrieb in einem Kommentar in der Süddeutschen Zeitung: 

Es ist ungewiss, wie lange sich die Ukraine militärisch noch halten kann, vielleicht werden dabei die Strela (von Deutschland gelieferte Flugabwehrraketen) helfen. Genauso ungewiss aber ist es, ob diese Invasion nicht auch das politische Ende des russischen Präsidenten bedeuten wird. Putin hat in einer gigantischen Fehleinschätzung einen Krieg begonnen, dessen Folgen er wohl für etwas größer als die Annexion der Krim gehalten hat. Erreicht hat er allerdings die nahezu vollständige internationale Ächtung Russlands.“ 

sueddeutsche.de, 3.03.2022: „Putin und seine gigantische Fehleinschätzung“, Kommentar von Kurt Kister)

Teil dieser Fehleinschätzung war auch der Umfang des Sanktionspakets der EU und anderer westlicher Staaten. Die langfristigen Auswirkungen auf die russische Wirtschaft lassen sich gegenwärtig noch nicht abschätzen, doch aus Presseberichten ist erkennbar, dass sie wirken.

Die Heilbronner Stimme berichtet am 3.03.2022, dass der Wert des Rubel „ins Bodenlose“ abgestürzt ist  (Heilbronner Stimme, 3.03.2022: „Krieg stürzt Ukraine und Russland ins Chaos“). Die New York Times ergänzt, dass der Rubel im letzten Monat nahezu die Hälfte seines Wertes verloren hat. Die Preise für Grundnahrungsmittel seien stark gestiegen. Seit Kriegsbeginn ist die Moskauer Börse geschlossen; die Zentralbank hat strenge Kapitalkontrollen eingeführt, die den Betrieben verbietet, in den nächsten 6 Monaten mehr als 5.000 Dollar abzuheben (nytimes.com, 10.03.2022: „Facing economic calamity, Putin talks of nationalizing Western business“). Am 24.03.2022 wurde der Aktienhandel an der Börse wieder aufgenommen. Allerdings wurden nur die Aktien von 33 russischen Gesellschaften gehandelt (ARD-Tagesschau am 24.03.2022).

Putins Sprecher Dimitri Peskow räumte ein, dass die Sanktionen des Westens ein schwerer Schlag seien (Heilbronner Stimme, 3.03.2022).

Auch der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Paul Krugman verweist in seiner Kolumne in der New York Times auf Putins militärische Fehleinschätzungen. Putin habe erwartet, mit einer kleinen und leicht bewaffneten Streitmacht rasch nach Kiew durchmarschieren zu können und einen schnellen Sieg zu erringen. Die wirtschaftlichen Sanktionen bezeichnet Krugman als „hoch effektiv“; Putin habe sie aufgrund der Erfahrungen bei der Krim-Annexion so nicht erwartet. Krugman schreibt: „Bis jetzt erscheint der Druck auf die russische Wirtschaft äußerst effektiv; er beeinträchtige beim russischen Handel selbst Güter, die nicht offiziell sanktionier wurden. Die Beschränkungen im Finanzbereich haben den Warenaustausch mit Russland – selbst den Kauf von Öl – schwerer gemacht. Die Befürchtung weiterer Sanktionen sowie generelle Befürchtungen, dass westliche Institutionen, die den Eindruck erwecken Putin zu helfen, von der Obrigkeit unsanft behandelt werden, habe zu verbreiteter Selbst-Sanktionierung geführt, selbst bei Gütern, die formal erlaubt sind.“ (nytimes.com, 4.03.2022: „Wonking Out: Putin’s Other Big Miscalculation“). 

Ohne Zweifel wirken sich die verhängten Sanktionen auch auf die Wirtschaft des Westens aus. Beruhigend mag dazu eine Meldung der Heilbronner Stimme wirken: „Die wirtschaftlichen Folgen der Russland-Sanktionen in Deutschland halten sich nach Einschätzung von Finanzexperten in Grenzen. Den Maßnahmen gegen die russische Zentralbank wird die größte Wirkung zugeschrieben“ (Heilbronner Stimme, 21.03.2022:  „Wirkung der Sanktionen“). Allerdings wirken die Sanktionen nicht in gleicher Weise auf die westliche Wirtschaft, denn die Verflechtungen mit Russland sind nicht in allen Bereichen gleich.

Nachdem eine Reihe multinationaler Firmen und Handelsketten ihre Betriebe und Geschäfte in Russland geschlossen haben – zum Beispiel Ikea, McDonald’s und andere – erwägt Putin, zur Erhaltung der davon betroffenen Arbeitsplätze deren Vermögen zu beschlagnahmen und die Betriebe zu verstaatlichen  (nytimes.com, 10.03.2022: „Facing economic calamity, Putin talks of nationalizing Western businesses“). Ein solcher Schritt hätte langfristige Folgen. Ganz gleich wie der Krieg endet und was danach evtl. auch in Russland geschehen mag, jede westliche Firma würde es sich dann zehnmal überlegen, wieder in Russland zu investieren. 

(3) Zeitenwende auch in Russland?  —  Wie geschlossen steht die Bevölkerung hinter Putins Krieg?

Eine klare Antwort auf die Frage, wie geschlossen die russische Bevölkerung hinter Putins Krieg steht, ist augenblicklich schwer möglich. Betrachtet man die jubelnde Menge in und vor dem Moskauer Luschniki-Stadion anlässlich der Veranstaltung zu 8. Jahrestag der Annexion der Krim, müsste man schließen, dass ganz Russland zu 100 Prozent „an Bord“ ist. Bewertet man jedoch den Druck der Herrschenden auf die Bevölkerung, die Androhung von Strafen selbst für Menschen, die entgegen der offiziellen Sprachregelung das Wort „Krieg“ verwenden oder auch die brutale Polizeigewalt, mit der selbst kleine Ansätze öffentlichen Protests bekämpft werden, muss man daraus schließen: Putin traut seinen Landsleuten nicht. Sie werden gezwungen, hinter ihm zu stehen. 

Wie lange werden sie akzeptieren, dass die „militärische Spezial-Operation“ lediglich zum Ziel hat, die Ukraine von „drogensüchtigen Neo-Nazis“ zu „befreien“? Wie lange werden sie glauben, dass das „Brudervolk“ dabei sei, zusammen mit dem US-Militär unmittelbar an der russischen Grenze Massenvernichtungswaffen und biologische Waffen zu erforschen und zu entwickeln? Solche „Geschichten“ erzählte Wassili Nebensja, der Ständige UN-Vertreter Russlands am 11.03.2022 im UN-Weltsicherheitsrat.  „Eine üble Lügengeschichte selbst für den in diesen Zeiten unter Volllast fahrenden russischen Propaganda-Apparat“, zitiert die Süddeutsche Zeitung dazu deutsche und amerikanische Diplomaten. Unbewiesen ist auch Moskaus Behauptung, Russland habe Tschernobyl erobern müssen, um die Ukraine am Bau einer „schmutzigen“ radiologischen Bombe zu hindern (sueddeutsche.de, 29.03.2022: „Die gefährlichste Lüge“).  Bekanntlich stirbt in Kriegszeiten die Wahrheit zuerst. Ähnliche Lügengeschichten erzählten auch die Amerikaner vor vielen Jahren im Weltsicherheitsrat, um den Zweiten Irakkrieg zu rechtfertigen.

Noch kurz vor der russischen Invasion machte Madeleine Albright (von 1997-2001 amerikanische Außenministerin) eine Prognose aus der Hoffen und Bangen zugleich spricht: „Putin muss wissen, dass ein zweiter Kalter Krieg für Russland nicht unbedingt gut ausgehen wird – trotz seines nuklearen Waffenarsenals. Die Vereinigten Staaten haben starke Verbündete auf fast allen Kontinenten – unter Putins Freunden sind inzwischen Figuren wie Bashar al-Assad, Alexander Lukashenko und Kim Jong-un“  (nytimes.com, 23.02.2202: „Putin Is Making a Historical Mistake“; Gastbeitrag von Madeleine Albright). Sie schildert u.a., wie sie Anfang 2000 als erste hochrangige amerikanische Diplomatin dem Yeltsin-Nachfolger Putin zum ersten Mal begegnet ist: Er gab vor zu verstehen, warum die Berliner Mauer fallen musste, er hatte aber nicht erwartet, dass die ganze Sowjet-Union zusammenbrechen würde. Damals notierte sie über ihr Gespräch mit Putin: „Putin ist peinlich berührt über das, was seinem Land widerfahren ist und er ist entschlossen, dessen Größe wieder herzustellen.“ Madeleine Albright hat ihren Gastbeitrag in der New York Times überschrieben mit der Prognose: „Putin macht einen historischen Fehler.“ Die Weissagung einer engagierten Diplomatin mit einer faszinierenden Lebensgeschichte: Madeleine Albright ist einen Monat später, am 23.03.2022 gestorben.

Russische Normalbürgerinnen und Normalbürger werden gegenwärtig kaum so weitsichtige Überlegungen anstellen, wie dies Madeleine Albright getan hat. Doch mit zunehmender Dauer und Brutalität des Krieges wird sich manche und mancher wundern, ob vor der „Heimholung“ des ukrainischen Brudervolkes zuerst dessen gesamte Lebensgrundlagen zerstört werden müssen? Die russische Regierung wird – ähnlich wie die Amerikaner im Laufe des Vietnam-Krieges – die bittere Erfahrung machen müssen: Mit steigender Zahl der aus der Ukraine zurückkommenden Särge mit toten Soldaten wird in der Bevölkerung die Begeisterung für den Krieg schwinden. 

Die New York Times meldet am 16.03.2022 für die ersten 20 Kriegstage mehr als 7.000 gefallene russische Soldaten und rd. 14.000 – 21.000 Verwundete. Es kamen 4 russische Generale ums Leben. Die Zeitung stützt sich dabei auf vorsichtige Schätzungen des US-Geheimdienstes. Ein spezifischer Vergleich macht diese Verlustzahlen für die Amerikaner besonders plastisch: Während der 36 Tage dauernden Schlacht um die Pazifikinsel Iwo Jima im II. Weltkrieg verloren nahezu 7.000 US-Marines ihr Leben; Putins Armee hat bereits nach 20 Tagen mehr Gefallene zu verzeichnen. Die Zahl der gefallenen russischen Soldaten ist höher als die der getöteten Amerikaner im Irak und in Afghanistan zusammen (nytimes.com, 16.03.2022: „As Russian Troop Deaths Climb, Morale Becomes an Issue, Officials Say“).

Über die Geografie hinaus hält Putin ‚Russland‘ für ein höheres Wesen, für ein sehr großes Gefühl, etwas Ewiges“, schreibt Kurt Kister in der Süddeutschen Zeitung (sueddeutsche.de, 26.02.2022: „Ein Mann hebt ab“). Solch ein metaphysisches Staatsverständnis lässt sich nicht auf Dauer – und auch nicht mit starkem staatlichen Zwang – aufrecht erhalten. Dass Putin um diese Problematik weiß, und auch, wie angespannt er darüber ist, zeigen seine öffentlichen Auftritte seit Beginn der Invasion. Die Süddeutsche Zeitung berichtet über eine emotionsgeladene Grundsatzrede, die er am 16.03.2022 bei einer Sitzung mit mehreren Regionalchefs hielt, obwohl es bei der Sitzung vorrangig um Wirtschaftsfragen und um die Folgen der Sanktionen hätte gehen sollen. Während der russische Außenminister Sergej Lawrow am selben Tag die Möglichkeit einer Verhandlungslösung andeutete, zog Putin gegen den Westen gewaltig vom Leder. Dort würden Menschen aus Russland nun „regelrecht gehetzt, russische Musik, Kultur und Literatur würde verboten. Der Westen habe versucht, „Russland aufzuheben“ und Putin ging soweit, die Situation mit den Pogromen in den Dreißigerjahren in Deutschland zu vergleichen. Doch Putin griff nicht nur den Westen scharf an sondern auch die Russen, die mit diesem sympathisieren. Er bezeichnete sie als „fünfte Kolonne“, als „Abschaum und Verräter“ (sueddeutsche.de, 17.03.2022: „Abschaum und Verräter“). Diese Rundumschläge – wie auch die Strafandrohung gegen die Medien und die Mitmenschen, die der amtlichen Sprachregelung nicht folgen – zeigen m.E., dass Putin seinen Landleuten nicht traut. Die Überwachung und auch die Propaganda wurden hochgefahren – all dies spricht nicht für die innere Stärke des Systems.

Über den Fortgang und die Dauer des Krieges und wie er früher oder später enden könnte, mag ich nicht spekulieren. „Je länger der Krieg sich hinzieht umso größer wird für Putin das Missverhältnis zwischen Aufwand und Resultat“, schreibt Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung“. Putins Regime sei auf Rückzug und Kompromisse nicht vorbereitet, doch dies sei nicht nur sein Problem (sueddeutsche.de, 17.03.2022:  „Am Ende“). Die Zahl der Player auf und um das Schlachtfeld wächst. China ist politisch und vor allem wirtschaftlich stark involviert. Der chinesische Machthaber Xi Jinping versucht offenbar eine Schaukelpolitik: Bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Winterspiele am 4.02.2022 schien kein ‚Blatt Papier zwischen Xi und Putin in ihrer Gegnerschaft zum Westen zu passen. Bei der Abstimmung über die Ukraine-Resolution in der UN-Vollversammlung am 2.03.2022 hat sich China der Stimme enthalten. „China und das Ukraine-Dilemma“ lautet die Überschrift eines Berichts aus Peking in der Süddeutschen Zeitung“  (sueddeutsche.de, 23.02.2022). In einem weiteren Bericht der SZ wird Pekings Balanceakt als Versuch beschrieben, im Ukraine-Konflikt nach außen als neutrale, vermittelnde Macht zu erscheinen, während zu Hause die russische Propaganda – bis hin zur Wortwahl – verbreitet wird. „Hier Friedensstifter, dort Brandstifter“ – „Ohne Risiko ist dieser Balanceakt für Chinas Präsident nicht, der sich im Herbst eine weitere Amtszeit als Parteichef sichern will“ … „Scheitert Pekings Strategie, dürfte das auch innenpolitische Konsequenzen haben. Die chinesische Wirtschaft schwächelt, die Sanktionen gegen Russland belasten die globale Konjunktur. Sanktionen durch den Westen oder eine zunehmende Isolation muss Peking selbst unbedingt vermeiden“ (sueddeutsche.de, 22.02.2022.: „Wie lange hält Pekings Treue zu Putin?“).

Irgendwann, nach Ende des heißen Krieges in der Ukraine, wird es in Europa neue Überlegungen über ein zukünftiges Sicherheitskonzept geben. Dies wird – soll oder will Russland dabei eingebunden werden – erst nach Putins Herrschaft möglich sein. Zeitpunkt: Völlig offen!

Zeitenwende – auch in Polen und Ungarn?

Nach diesen Aussagen und Betrachtungen zu Putins Krieg gegen die Ukraine, der sich im Grunde gegen die westlichen Vorstellungen von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie richtet und Europa grundlegend verändert hat, nun wieder zurück zum Ausgangspunkt dieses Papiers: Dem inneren Zustand und insbesondere den ungelösten Problemen der Europäischen Union. Kernpunkt meiner Darstellung soll die Rechtsstaatsproblematik nach dem EuGH-Urteil gegen Polen und Ungarn vom 16.02.2022 und die durch Putins Krieg besonders akut gewordene Flüchtlingsproblematik sein. Der Krieg hat eine ganze Reihe anderer Fragenkomplexe in den Vordergrund geschoben, etwa die Sicherheit in Europa, die Verteidigungsbereitschaft der europäischen Staaten und die Sicherung des Energiebedarfs in der EU. Doch die „alten“ Probleme sind noch immer da und werden auch in der Presse angesprochen.

In einem Meinungskommentar der Heilbronner Stimme stellt Christopher Ziedler das geschlossene Auftreten der EU und die rasche Verabschiedung der gut vorbereiteten Sanktionen gegen Russland besonders heraus. Er zitiert aus der Gipfelerklärung des Treffens der Staats- und Regierungschefs in Versailles am 10./11.03.2022 die Zielvorgaben zur Erreichung der energiepolitischen, wirtschaftlichen und militärischen Unabhängigkeit der EU: „Ins Auge stechen dabei die Verpflichtung zu höheren Rüstungsausgaben sowie die graduelle Loslösung von der Einfuhr fossiler Brennstoffe aus Russland.“ Ziedler verwendet bei der Beschreibung der künftigen EU den Begriff „unabhängige Staaten von Europa“, die in einer Welt voller neuer Gefahren künftig in der Lage sein sollen, das eigene Freiheits- und Lebensmodell zu verteidigen. Doch er fügt – die Hoffnung überzeugter Europäer dämpfend – an: „Bis dahin aber ist es ein weiter Weg, denn die Europa innewohnenden Widersprüche und Konflikte sind nicht über Nacht verschwunden.“ (Heilbronner Stimme, 12.03.2022:  „Unabhängige Staaten Europas“; Meinungskommentar von Christopher Ziedler). 

In der Tat, sie sind noch alle da, die alten Konflikte, etwa die Rechtsstaatsproblematik und die Umsetzung des Urteils des EuGH vom 16.02.2022. Noch immer da ist auch die viele Jahre alte Hängepartie um ein europäisches Konzept zum Thema „Flüchtlinge, Asyl und Migration“, dessen Notwendigkeit gerade in den letzten Wochen erneut deutlich geworden ist. Für die Flüchtlinge aus der Ukraine hat die EU sehr rasch eine begrüßenswerte Regelung gefunden. Aber was ist mit den Flüchtlingen aus anderen Ländern, etwa aus Syrien. In der EU gilt nun zweierlei Flüchtlingsrecht – das kann kein Dauerzustand sein. 

Wie weit oben auf der Agenda bleiben diese alten Widersprüche und Konflikte? Oder werden sie durch die neuen energiepolitischen, wirtschaftlichen und militärischen Herausforderungen weit nach unten oder gar hinter den Vorhang geschoben? 

Meine Skepsis stieg, als am 3.03.2022 in der Heilbronner Stimme in der Rubrik „Kurz notiert“ auf Seite 4 eine dpa-Meldung mit 13 Zeilen veröffentlicht wurde:  Die EU-Kommission legte am 2.03.2022 die Leitlinie zur Umsetzung der EU-Regeln zur Kürzung von Geldern bei Rechtsstaatsverstößen vor (Heilbronner Stimme, 3.03.2022: „Leitlinie vorgelegt“). Aber spielen diese im politischen Geschäft in Polen und Ungarn gegenwärtig überhaupt eine Rolle? Mit gemischten Gefühlen las ich über die in Polen laufenden Diskussionen nach der russischen Invasion in der Ukraine: 

-„Polen begrüßt die nun erfolgte Kehrtwende in Deutschland nicht nur mit Freude – gestützt auf die Überzeugung, dass es mit seiner Einschätzung von Putins Russland richtig lag –, sondern auch mit dem Pragmatismus, der dem Land eigen ist“ …

– „Viele Jahre lang wurde das pazifistische und „russlandsensible“ Deutschland vom Großteil der politischen Elite an der Weichsel als unsicherer und wankelmütiger Staat wahrgenommen, auf den man im Falle einer Bedrohung aus dem Osten sich nicht zählen könne. Hinzu kam Nord Stream 1 und 2 , die den polnischen und mitteleuropäischen Interessen zuwiderliefen und für immer mit der Kurzsichtigkeit der Ostpolitik von Angela Merkel verbunden bleiben werden.“

– „In Warschau stellt man sich die Frage, wie lange der von Olaf Scholz eingeleitete Wandel anhalten wird, wie lange Berlin „Polnisch“ sprechen wird, wenn es um die Bedrohung der freien Welt durch Russlands aggressives Vorgehen geht.  Politiker aller Lager rätseln, wie lange Deutschland auf seinem neuen „realistischen“ Weg bleiben wird.“


ipg-journal, 4.3.22;  Bartosz Rydlinski: „Der Tag, an dem Berlin anfing, Polnisch zu sprechen“

Der Wissenschaftler Bartosz Rydlinski vom Institut für Politikwissenschaft der Kardinal-Stefan-Wyszynski-Universität in Warschau hält der deutschen Politik einen Spiegel vor: Der Ansatz „Wandel durch Annäherung/Handel“ habe sich nicht nur als unwirksam erwiesen, sondern wurde vom Putin-Regime zynisch ausgenutzt.

Doch Rydlinski zeigt auch einen anderen Aspekt: Er benennt den noch offenen Stand der Diskussionen in der polnischen Regierungspartei und verwendet dabei das Wort „Chance“ zur Gestaltung des künftigen Verhältnisses zwischen Deutschland und Polen, die auch zur Verbesserung des Verhältnisses von Polen zur EU genutzt werden sollte:

„Unklar ist allerdings auch, wie Polens Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit (PiS) auf lange Sicht reagieren wird.  Einerseits feiert der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki nach der Sonntagsrede von Scholz Triumphe, weil sein Besuch in Berlin am Vortag, wie er behauptet, „das Gewissen Deutschlands erschüttert“ habe. Andererseits sollten wir uns daran erinnern, dass Vize-Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski im Januar in der Wochenzeitung Sieci erklärte:  „Die Bezeichnung‚ Viertes Reich’ ist (…) legitim. Die Deutschen verkünden offen, dass sie es sind, die entscheiden (…).  Sie fordern die offizielle Anerkennung der deutschen Vorherrschaft.  Und man kann der neuen deutschen Koalition in gewisser Weise dankbar dafür sein, dass sie die Sache klargestellt hat, indem sie das Ziel der Schaffung eines europäischen Bundesstaates erklärt hat, natürlich unter ihrer Führung.

Es könnte sich also herausstellen, dass die polnische nationale Rechte aufhören muss, Deutschland als Bedrohung zu sehen – so wie Deutschland seine Haltung gegenüber Russland revidiert hat. Selbst PiS-Wähler könnten in einer engeren Zusammenarbeit zwischen Warschau und Berlin eine Chance sehen, ihre Sicherheit zu erhöhen.“

ipg-journal, 4.3.22;  Bartosz Rydinski: „Der Tag, an dem Berlin anfing, Polnisch zu sprechen“

Die Probleme der EU bei der anstehenden Umsetzung des EuGH-Urteils – im Grunde geht es um die Verteidigung der europäischen Werte – deuten sich mit diesen Diskussionsbeiträgen aus Polen deutlich an:  Für die Einen wird es um die ureigensten Grundlagen der EU gehen, für Polen und Ungarn geht es um viel Geld. 

Die New York Times beschreibt eine andere Zielrichtung der aktuellen polnischen Politik, über die wenig gesprochen wird, über die zu sprechen gegenwärtig wohl auch nicht angebracht ist: „Polens rechtsgerichtete populistische Regierung versucht gerade, ihren Ruf als hartnäckigen Störenfried in Europa abzuschütteln oder wenigstens zu verschleiern. Sie steht nun im Mittelpunkt des Geschehens und wird sowohl von Brüssel als auch von den Vereinigten Staaten als Stütze westlicher Solidarität und Sicherheit hofiert. Doch obwohl es  keine Anzeichen des Rückzugs aus den vielen Streitigkeiten mit der Europäischen Union gibt, hat sich Polen – das sich auch mit Washington gezankt hat – zum unentbehrlichen und vertrauenswürdigen Verbündeten umorientiert“ (nytimes.com, 25.03.2022: „Long on Europe’s Fringe, Poland Takes Center Stage as War Rages in Ukraine“).

Noch ein Vorgang aus der Reihe der Umorientierungsversuche Polens sei beschrieben:

Mit der Bahnreise der Regierungschefs von Polen, der Tschechischen Republik und Sloweniens am 15.03.2022, an der auch Jaroslaw Kaczynski, Polens „starker Mann“ teilnahm, beschäftigt sich die New York Times in einem ausführlichen Bericht. Vermerkt wird darin u.a., dass Kaczynski keine Aussagen zu den Beweggründen der Reise machte. „Außer moralischer Unterstützung für Kiew überbrachten die europäischen Führungspersönlichkeiten keine konkreten Hilfen. Die Bahnreise half jedoch Kaczynski, seine früheren begeisterten Beziehungen zu den bekanntesten europäischen Putin-Fans – (zum Beispiel Marine Le Pen und Matteo Salvini) – oder gar zu Putin selbst, zu verschleiern.“

Die polnische Opposition bezeichnete die Reise als politischen Stunt. Ähnlich urteilt auch Ryszard Schnepf, der frühere polnische Botschafter in den Vereinigten Staaten: „Angesichts seiner (Kaczynskis) Einstellung zur EU sind wir sehr verunsichert über seine plötzliche und recht riskante Bahnreise. Er bemüht sich einfach um PR und versucht, den Schaden zu reparieren, den die jahrelange Unterminierung der EU und die Kumpelei mit Putins Freunden in Europa angerichtet hat.“ (nytimes.com, 18.03.2022: „War in Ukraine Prompts a Political Makeover in Poland“). 

Die Frage, ob die gegenwärtig in Polen laufenden Diskussionen zu einen grundsätzlichen Umdenken über das Verhältnis Polens zur EU führen wird, auch ob sich eine Änderung der bisherigen Einstellung Polens beim Themenkomplex Flüchtlinge, Asyl und Migration entwickelt, erscheint noch völlig off3n.

Josef Kelnberger gibt in einem Kommentar in der Süddeutschen Zeitung klare Antworten:

„Das antidemokratische, illiberale, korrupte System Orban ist am 24. Februar nicht verschwunden. Ebenso wenig ist der Angriff auf die Gewaltenteilung in Polen gestoppt, wo die Regierung die die Justiz ihrem Willen unterwerfen will und europäische Rechtsprechung ignorieren lässt.  Würde die EU nun unter dem Eindruck der Ukraine-Krise die Verfahren gegen die beiden Länder einstellen, würde sie ihren Kern opfern. Dann könnte sie sich gleich selbst abschaffen.

Die Regierungen in Warschau und Budapest scheinen wegen ihrer Leistungen in der Ukraine-Krise eine Art Rabatt bei der Rechtsstaatlichkeit zu erwarten. Den kann es nicht geben. So bleibt nicht viel mehr als die Hoffnung, dass die EU, zusammengeschweißt vom Feindbild Putin, auch in dieser Frage zueinanderfindet. Zuletzt haben sich doch Unterschiede zwischen den beiden Ländern aufgetan. Die polnische Regierung versucht zumindest halbherzig, Lösungen mit der EU zu finden. Auch ihrem mäßigenden Einfluss auf Viktor Orban ist es zu verdanken, dass die EU bislang alle Sanktionen gegen Putin einstimmig verhängen konnte. Orban will weiterhin Geschäfte mit Putin machen und hat auch sonst nicht viel mehr im Sinn als den eigenen Vorteil. In ein paar Wochen könnten ihn die ungarischen Wählerinnen und Wähler aus dem Amt befördern. Sie würden damit auch der EU einen Gefallen tun.“ 

sueddeutsche.de, 10.03.2022: „In Gefahr geeint“, Kommentar von Josef Kelnberger

Kelnbergers  Aussagen klingen pessimistisch. Vielleicht ahnt er, zu was für Verrenkungen die EU-Gremien fähig sein können, um längst überfällige Entscheidungen auf die lange Bank zu schieben. Der Kommentar macht eines klar: Die EU darf die „Sünden“ Polens und Ungarns in Sachen Europäische Werte, Rechtsstaatlichkeit und Anerkennung des EuGH und auch die Blockadehaltung beim europäischen Flüchtlingskonzept nicht aufrechnen gegen die aktuellen Beiträge zur europäischen Geschlossenheit gegen Putin und die Leistungen bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine. Gerade diese Leistungen, diese „neue Willkommenskultur“ der osteuropäischen Staaten ist bemerkenswert. Polen hat über 2 Millionen Menschen, überwiegend Frauen und Kinder, aufgenommen, untergebracht und bemüht sich um die weitere Versorgung. Die Frage ist offen, ob das Land diese „Willkommenskultur“ auch auf andere Flüchtlinge ausdehnen und das europäische Konzept nicht länger blockieren wird. Die PiS-Regierung in Warschau hat im Parlament keine eindeutige Mehrheit und ist auf die Unterstützung radikaler EU-Gegner angewiesen. Offen ist daher, ob PiS stark genug ist, die jahrelangen Streitigkeiten mit Brüssel tatsächlich beizulegen.

Sobald die konkrete Umsetzung des EuGH-Urteils ansteht, wenn es tatsächlich darum geht, Mittelkürzungen gegenüber Polen und Ungarn durchzusetzen, wird es heftige und emotionsgeladene Diskussionen auf allen EU-Ebenen geben. Mittelkürzungen, Sanktionen gegen EU-Mitgliedstaaten? Der Begriff der Sanktionen hat seit dem Beginn von Putins Krieg eine völlig andere Dimension und Bedeutung erhalten. Russland, der völkerrechtswidrige Aggressor wird sanktioniert. Aber Polen und Ungarn? Wie kann man etwa Polen bestrafen, das laut ZDF heute-journal vom 26.03.2022 zum „Frontstaat“ geworden ist? Kann man einem „Frontstaat“ mit einem Gerichtsurteil drohen, nachdem der „Frontstaat“ Polen zur wichtigen Drehscheibe zur Unterstützung der Ukraine mit Waffen, militärischer Ausrüstung und zivilen Hilfsgütern geworden ist? Am 26.03.2022 hat der US-Präsident Joe Biden in Warschau eine historische Rede gehalten und den Krieg in der Ukraine als Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Autokratie beschrieben, zwischen einer auf Regeln basierenden Ordnung und einer Regierung der brutalen Gewalt (nytimes.com, 26.03.2022: „In a Fiery Speech, Biden Warns of a Battle Between ‚Liberty and Repression’“).

Doch – über all die angesprochenen offenen Fragen und Ungewissheiten hinaus – gibt es  weitere Fragen:  Welches Gewicht haben all die Worte und Taten gegen Putins Krieg und für die Geschlossenheit des Westens wenn sich die verurteilten „Sünder” am Ende durch Putins Aggression aus der Bredouille helfen lassen wollten?

Wie wird sich die Zeitenwende letztlich in der gegenwärtigen und künftigen Politik Polens auswirken? Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki hält sich zugute, durch seinen Besuch in Berlin am 26.02.2022 „das Gewissen Deutschlands erschüttert“ und zu der von Olaf Scholz am Tag darauf verkündeten Zeitenwende beigetragen zu haben. Wird auch die Regierung in Warschau die Chance nutzen, die in dieser Zeitenwende in Europa steckt und versuchen, wieder europäisch denken und sprechen zu lernen? Die Antwort hängt nicht zuletzt auch von den am 3.04.2022 in Ungarn stattfindenden Wahlen ab.  Sollte Viktor Orban abgewählt werden, verliert die polnische Regierung den wichtigsten Verbündeten gegen Brüssel und wird gezwungen sein, sich neu zu positionieren um nicht allein und isoliert dazustehen.

Zeitenwende in Ungarn?  —  Am 3. April wird gewählt 

Ähnlich wie die nationalistischen und populistischen Parteien und Politiker in anderen europäischen Ländern – und selbst wie Donald Trump in den USA – sieht sich Viktor Orban vor der ungarischen Wahl am 3.04.2022 mit seinem bisherigen Verhältnis zu Putin konfrontiert. Orban war über lange Zeit der größte Unterstützer des Kremls in Europa. Die Opposition stellte die Wählerinnen und Wählern vor folgende Alternative: „Orban und Putin oder der Westen und Europa.“ Die New York Times berichtet, dass Orbans Partei Fidesz in den Umfragen knapp vorn liegt und von der breiten Phalanx regierungshöriger Medien, die Orban als Bollwerk gegen das Übergreifen des Blutvergießens nach Ungarn darstellen, unterstützt wird  (nytimes.com, 18.03.2022: „War in Ukraine Prompts a Political Makeover in Poland“). 

Ähnliches berichtet Cathrin Kahlweit aus Budapest in der Süddeutschen Zeitung: Zwei Wochen vor der Parlamentswahl in Ungarn inszeniert sich Viktor Orban als Friedensfürst und Beschützer der Freiheit. Seine Gegner fühlen sich eher in kommunistische Zeiten zurückversetzt.“ Pessimistisch klingt ein Satz in Kahlweits Bericht: „Viele Intellektuelle glauben nicht mehr an einen demokratischen Aufbruch“ (sueddeutsche.de, 18.03.2022: „Der Meister der Propaganda“). 

Dem gegenüber sieht die NYT-Kolumnistin Michelle Goldberg eine Chance für die Opposition, erstmals nach mehr als einem Jahrzehnt den Autokraten Orban zu besiegen. Auch in Goldbergs Bericht wird deutlich, wie gespalten die ungarische Gesellschaft ist und wie tief und grundsätzlich die Wahlentscheidung sein wird.  Zitiert wird Peter Marki-Zay, der gemeinsame Spitzenkandidat der 6 Oppositionsparteien, die sich gegen Orbans Fidesz zusammengeschlossen haben. Marki-Zay sagte, Ungarn müsse jetzt zwischen zwei Welten entscheiden: Vladimir Putins Russland oder dem liberalen Westen. „Putin und Orban gehören zu der autokratischen, repressiven, armen und korrupten Welt, und wir haben Europa zu wählen, den Westen, NATO, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit, eine sehr unterschiedliche Welt“ (nytimes.com, 18.03.2022:  „Dispatch From Hungary: The Man Trying to Return His Country to the Free World“).

Die Aufzählung des Oppositionskandidaten zeigt all die Baustellen der ungarischen Politik, all die Streitpunkte zwischen Brüssel und Budapest und zeigt vor allem auch, wie weit sich Orbans Ungarn von der Werten der Europäischen Union entfernt hat. Hier wird verständlich, warum viele Intellektuelle nicht mehr an einen demokratischen Aufbruch glauben. Diese Skepsis klingt auch aus Interviewaussagen von Ferenc Laczo, Assistenzprofessor in Geschichte an der Maastricht University: 

„Ich würde mein Geld darauf setzen, dass die Opposition mehr Stimmen bekommt als Orbans Fidesz-Partei, dass aber die Fidesz ihre parlamentarische Mehrheit behält. Die Aufteilung der ungarischen Wahlbezirke ist derart manipuliert, dass die Opposition, um eine Regierung bilden zu können, mit einem Abstand von 4 bis 5 Prozent gewinnen müsste. Die Ressourcen auf beiden Seiten sind sehr ungleich verteilt. Dazu trägt auch die schamlose Aneignung staatlicher Mittel durch die Fidesz bei. Trotzdem glaube ich, dass das Ergebnis sehr knapp ausfallen wird. Die Opposition hat eine gute Chance, die meisten Stimmen zu bekommen. Aber um die Wahl zu gewinnen, braucht es mehr als das.“ 

ipg-journal, 25.03.2022: „Mit vereinten Kräften“, Interview mit Ferenc Laczo

Laczo weist darauf hin, dass die ungarische Bevölkerung sehr europafreundlich eingestellt sei. Und er hält – mit Blick auf die Entwicklungen in Ungarn unter Viktor Orban – der EU den Spiegel vor:

 „Viele empfinden … die europäische Reaktion auf Orbans Vorgehen seit 2010 als ziemlich enttäuschend. Nach dem Übergangsprozess und den vielfältigen Beitrittskriterien, die Ungarn erfüllen musste, hatte die Opposition darauf gehofft und wohl auch erwartet, dass die EU auf den demokratischen Niedergang des Landes viel robuster reagieren würde. Die Opposition blieb positiv gegenüber Europa und dem Westen eingestellt, während Orban auf immer dreistere Weise grundlegende Normen verletzte. Indem sie das Orban-Regime seit Jahren toleriert, riskiert die EU, die demokratischen, pro-europäischen Kräfte des Landes von sich zu entfremden“ 

ipg-journal, 25.03.2022: „Mit vereinten Kräften“, Interview mit Ferenc Laczo

Klar ist, in Ungarn geht es bei der Wahl am 3.04.2022 um weit mehr als um ein neues Parlament. Cathrin Kahlweit beschreibt den Wahlkampf, „der ein Kulturkampf, ein Lagerkampf, ein Kampf zwischen zwei in Sprachlosigkeit verbundenen Welten“ sei. 

Wohin geht Ungarn? Viktor Orban ist im politischen Denkansatz kein Europäer, für ihn und seine Partei liefert Brüssel lediglich die Mittel, die zum Machterhalt eingesetzt werden. Mit einer Wende, hin zu europäischem Denken und Handeln ist bei ihm nicht zu rechnen. Ungarn ist das europäische Musterbeispiel dafür, wie Demokratien sterben. Gewinnt er die Wahl am 3.04.2022 hat die EU keine andere Wahl als die Anwendung des vom EuGH bestätigten Rechtsstaatsmechanismus. 

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  • Sehr geehrter Herr Müller, vielen Dank für diesen sehr informativen Beitrag. Ich habe aber so meine Zweifel, ob es in der deutschen Politik tatsächlich einen „Zeitenwende“ gibt. Nach einem anfänglichen Schock und einer entsprechenden Kanzlerrede versucht nun die dt. Politik wieder in ihre alten Fahrwasser zu gelangen. Man glaubt inzwischen erneut, einfach alles aussitzen zu können.

    Und die Trendwende in Sachen Rechtsstaatlichkeit wird angesichts der eskalierten Bedrohung durch Putins Diktatur gerne und besonders von der dt. Politik zumindest ausgesetzt. Russland, Polen und auch Ungarn wären heute nicht in einem solch schlechten Zustand, wenn sich Deutschland seiner Verantwortung für Europa bewusst wäre und Demokratie fördern anstatt reine wirtschaftliche Interessen verfolgen würde.

    Leider sind bei uns — auch nach über 70 Jahren — Demokratie und Menschenrechte immer noch Verhandlungsmasse.