Das Europa der Zukunft muss so sein oder wird nicht (mehr) sein

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Beitragsfoto: Zerfallende europäische Flagge | © Shutterstock

Anlässlich der – teils sehr überzeugenden – Äußerungen von Christian Moos und Heinrich Kümmerle über die Entwicklung, Verwicklung und Selbsterstickung Europas – als einem nennenswerten Gewicht in der Weltpolitik – möchte ich ein paar skizzenhafte Gedanken zur Neuausrichtung europäischer Politik, wie sie mir erforderlich erscheint, mitteilen – verbunden mit dem Hinweis, dass es der Galaxie allerdings völlig wurscht ist, ob uns das noch gelingt! 

Nachdem uns aktuell sowieso nichts anderes mehr übrigbleibt, sollten wir uns – angesichts der globalen Kraftverhältnisse, Konfliktlinien und manifesten Konflikte – primär ohne jeden weiteren „Wertebezug“ – klarmachen, dass wir zum Glück bzw. mit großer Wahrscheinlichkeit, u. a. bezugnehmend auf die Nachkriegsjahrzehnte, immer noch in einer weitreichenden Interessensparallelität mit den USA stehen, auch wenn das zum Teil die schlimmsten ‚Schurken‘ waren, jedenfalls ganz bestimmt keine Friedensengel. 

Dies schließt des Weiteren mit ein, dass die USA – mit einer ganz anderen Geschichte, auch einer besonderen Gründungsgeschichte, die weiter wirkt, einer ganz anderen geopolitischen Situation und Machtausstattung – Europa selbst keinesfalls als total unverzichtbaren Augapfel betrachten. Wir sind für sie dennoch aber extrem wichtig, so dass sie vermutlich sehr weit gehen würden, auch in weiterer Zukunft, um mit uns zusammen zu agieren und sich auch in unserem Interesse mächtig einzusetzen, soweit es nicht ihre eigene Existenz aufs Spiel setzt … und wir vielleicht irgendwann auch selbst substantiell was tun. 

Dies setzt aber – nicht nur aus Fragen der Würde, sondern auch der substantiellen Mitsprachefähigkeit – voraus, dass Europa ein ganz anderes Gewicht in die geopolitisch maßgeblichen Konflikte und Interessensgegensätze einbringen kann, also ein um Quantensprünge effizienteres Militär und effizientere Militärausgaben. Man kann nicht dauerhaft mit dem Freifahrtschein eine Handelssupermacht und gleichzeitig ein militärischer Zwerg sein, sondern man muss in beidem weit vorne mitspielen. Das zeigt wohl dem letzten Schläfer – ein seit langem gehäuft in Deutschland anzutreffender politischer Bewusstseinszustand – die neueste Entwicklung in der Nachbarschaft. 

Ein solcher Quantensprung setzt voraus, dass die Kernländer Europas, seit Gründung der EWG, die auch am meisten kulturelle und interessensmäßige Nachkriegsparallelität haben, also Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Niederlande und Luxemburg oder so ähnlich, sich hier – gegebene gesamteuropäische Strukturen hin oder her – maximal koordinieren, dies ausdrücklich auch unter Weglassung anderer Länder, die nur bei Bereitschaft, sich voll umfänglich anzuhängen, in diesen Kreis aufgenommen werden können.

Damit es hier aber keine Entscheidungsfindungshindernisse gibt, sollten auch weit fortgeschrittene, systematische, konkurrenzausschließende supranationale Industrie- und Handelsvereinbarungen, die über das bisherige Hin und Her in der EU hinausgehen, auch nur in diesem Kreis inkraftgesetzt werden, damit es auch von den Zaungästen keine Rosinenpickerei im Wirtschaftlichen, bei Vermeidung der Kärnerarbeit im Militärischen, gibt. 

Hier muss eine synergistische militär-, wirtschafts- und -finanzpolitische Agenda für die nächsten zehn Jahre mit klaren Meilensteinen geschrieben werden. Bis dahin und auch weiter dürfen von mir aus – möglichst aber nicht noch weiter‚aufgespeckt‘ – die Brüsseler, ja nicht nur bürokratischen Entwicklungen weitergetrieben werden, um die – auch geschichtlich eben anders aufgestellten, wenn’s dumm kommt noch Jahrzehnte zur Konvergenz hin meandernden – restlichen oder neueren Beitrittsländer oder auch Beitrittskandidaten, so sie wollen, bei der Stange zu halten. Nicht mehr aber bitte, indem man ihnen merkeloid bis zur Selbstverleugnung hinterherkriecht. 

Löblich ist in diesem Zusammenhang natürlich, wenn beispielsweise endlich der Konditionalsierungsmechanismus gegen Ungarn und seine korrupte Gesamtstruktur in Gang kommt, leider mit weiterer Anlaufsperre bis Herbst dieses Jahres. Mir klingt ja noch im Ohr, wie Christian Moos angedeutet hat, dass selbst die ungarischen Europaparlamentariern, denen in Brüssel und Straßburg ja noch Anregungen und Denkoptionen offenstehen, vom eigenen Geheimdienst beäugt und in ihrer Heimat bedrängt werden. Sowas muss man auch mit „kerneuropäischer Stimme“, nicht nur immer als – aufgeblasene, aber scheue – Nationalgeste Deutschlands oder Frankreichs oder Österreichs oder der Kommission u.a., beim Namen nennen und sanktionieren können, ohne dass alle zustimmen müssen, oder man sich eben doch nicht traut. 

„Kerneuropa“ soll „Resteuropa“ gegenüber ja keineswegs aggressiv auftreten, sondern sogar – bei gegebenem Erfolg ganz automatisch – zum Vorbild werden, dem man sich lieber heute als morgen anschließt, verbindlich über zwischenstaatliche Verträge. Damit dieses Kerneuropa Strahlkraft entfaltet – nicht wegen seiner tollen Werte, sondern wegen seiner tollen Performance – sollte man aber gerade diese fürchterlichen „Werte“ nicht mehr so als Monstranz vor sich her tragen, eher unausgesprochen und selbstverständlich ‚einpreisen‘, da diese speziell zwischen den kerneuropäische Ländern so oder so sehr ähnlich oder gar deckungsgleich sind. 

Man darf sich vor allem nicht mehr – quasi ersatzweise nach regelmäßigem Scheitern in substantiellen Fragen und mit dickem Appel lediglich bei sich selbst luftablassend – in ihrer gefühlten Alternativlosigkeit suhlen. Menschenrechte etwa sollte man in sehr interpretationsunbedürftiger, substantieller, aber auch eingegrenzter Weise, also nur ‚in kleinen, wertvollen Töpfchen’, hochhalten und einfordern, sie aber nicht in alle Politikbereiche hinein immer weiter ausziselieren, ganze Bataillone von Juristen damit beschäftigen, so dann auch diesem Europa Schwung, Mut und Selbstwirksamkeitserleben austreiben, bloß weil vielleicht in irgendeinem Land – wie es Klaus von Dohnanyi so wunderbar beispielhaft für Ungarn erwähnt hat – in Schulbüchern für Zehnjährige nicht aufgenommen wird, dass Homosexualität gar kein Problem ist. Dies stimmt zwar im aufgeklärt-idealen Sinne bzw. Sollen und die Nichtbeachtung dessen ist für viele Menschen auch tatsächlich leidvoll, es handelt sich aber nicht um Folter oder Freiheitsberaubung und um irgendetwas, was maßgeblich und lange sehr medienwirksam an exponierter Stelle diskutiert werden muss, insbesondere wenn ganze Bevölkerungen mental noch nicht an diesem Punkt sind!

Wer darüber hinaus mal abwechslungshalber bedenkt, wie tiefgründig in unserer eigenen Ideengeschichte auch gesellschaftliche und philosophische Konzepte entstanden sind – und auch noch ‚nachbedacht‘ werden können, etwa die zutiefst antidemokratischen Überlegungen von Nietzsche u. a., die auch nicht ganz dusselig sind – , erkennt, dass man von unserem demokratischen Gesellschaftssystem sehr überzeugt sein kann, dieses aber keineswegs per se alternativlos ist und deshalb ja einen ggf. sogar sehr substantiellen Einsatz für seinen Erhalt verlangt. Demokratie ist nichts Absolutes. Es ist vielmehr ein an Irrsinn grenzender Irrtum, anzunehmen, dass dies irgendwie doch so sei – ein Irrtum, der auch dafür sorgt, dass man sich nicht wehrhaft hält und verhält, solange es nötig ist, sondern eher laut blöckt wie ein Schaf, weil man glaubt, das sei im eigentlichen Interesse des Wolfes. 

Wer gesehen hat, wie begeistert sich etwa mancher Chinese auf der Straße über die Fähigkeit seines Landes geäußert hat, anders als der Westen mit der Coronapandemie eben wirklich ‚fertig‘ zu werden – vermutlich sehr vorschnell natürlich, denn das dicke Ende bei denen kommt wohl noch, immerhin aber in einem selbst sich vorgehaltenen Kontrast für fraglos viel andere Pein (!) – , dem sollte klar werden, dass wir zwar für unser System einstehen können und sollen, und zwar mehr als bisher, vor allem aber auch mit Verstand. Wir sind nicht das Ende der Geschichte – einer Geschichte etwa, die sich nur noch aus Posse und Dummheit außerhalb von uns noch weiterdreht und ihr eigentliches Bereits-zu-sich-gekommen-Sein übersieht. Wer so denkt wird untergehen, das aber dann in actu ganz empörend finden … dies gleichwohl aber energisch vorbringen: wie ein Kleinkind, das den Eltern die Schuld gibt, weil es keine Handschuhe anziehen musste, jetzt aber die Finger frieren.

Für Europa, mein Land, meine Familie, meine Kinder und mich noch ein bisschen wünsche ich mir endlich was anderes, als dieses viele Gequatsche und viel zu wenig Substanz! Mag sein, dass das immer größer und uneinheitlicher gewordene Europa nach dem Fall des eisernen Vorhangs einer Notwendigkeit folgte. Dass das zur politischen Verzwergung führte und führt, hat schon Helmut Schmidt oft klargemacht. Mit diesem Krieg nun, an dem diese – zu lange gerade auch deutsch-merkelisch hingenommene und so auch geförderte, auch wenn sicherlich nicht gewollte – politische Verzwergung Europas die entscheidende Schuld trägt, muss das Ruder herumgerissen werden: die Lähmung muss aufhören! 

Und da haben wir im Kerneuropa auch keinerlei gesellschaftlich-konzeptionellen oder wertebezogenen Differenzen, so dass es sich quasi von selbst erklärt, dass wir zusammenstehen, weil zumindest wir Kerneuropäer – im vorausgehend beschriebenen, wenn auch historisch möglicherweise nicht komplett korrekten Sinne – auch ohne weitere ständige Diskussion im Kern unserer Vorstellung vom Leben übereinstimmen. Würde man ‚spasseshalber‘ mal zu einer solchen ‚Verbund-Agenda‘, wie oben beschrieben – nicht also zu Verfassungsfragen oder ähnlichem, was auch schön ist, das Pferd aber von hinten aufzäumt – ein Referendum machen, so würde mit Sicherheit immer noch, trotz aller jahrzehntelangen mentalen ‚Irrfahrten‘, eine sehr große Mehrheit – im maximalen Überdruss über unsere galloppierenden Unfähigkeiten in einer immer unwirtlicher werdenden regionalen und globalen Nachbarschaft – für die energische Selbstbefähigung votieren: Stück für Stück, schnell und unbeirrt! Niemand möchte gern ein Trottel sein, schon gar nicht so ein prekärer Kontinentszipfel!


Auch die Europa-Union muss sich nunmehr härter, um Europas Bestands willen fordernder, gegebenenfalls umstandlos auch polarisierend hörbar machen! Inklusion ist schön, Exklusion aber manchmal unvermeidlich!

„Die Krise des europäischen Daseins hat nur zwei Auswege: Den Untergang Europas in der Entfremdung gegen seinen eigenen rationalen Lebenssinn, den Verfall in Geistfeindlichkeit und Barbarei, oder die Wiedergeburt Europas aus dem Geiste der Philosophie.“

Edmund Husserl, Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie, Vortrag am 7. und 10. Mai 1935 in Wien

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