Beitragsfoto: Kind beim Lesen | © Pixabay
Es ist halb sieben, und ein prall gefüllter Tag geht zu Ende. Eigentlich sollten wir ja langsam zur Ruhe kommen und den Tag zu einem gemütlichen Abschluss bringen. Das ist bei uns aber nicht möglich, im Gegenteil: Spätestens gegen halb sieben verfallen wir in eine gewisse Hektik. Es muss noch zu Abend gegessen werden, die Kinder müssen die Zähne putzen, sich waschen, Schlafanzüge anziehen und das alles recht flott. Denn je eher wir fertig werden, desto mehr Zeit haben wir zum Vorlesen. Wir sind nämlich eifrige Eltern, haben unsere Hausaufgaben gemacht und verfolgen mit großem Interesse jede Bildungsdiskussion. Deshalb wissen wir auch, wie wichtig das Vorlesen für unsere Kinder ist. Es fördert nicht nur die Lese und Sprachkompetenz unserer Lieben. Nein, wir wissen auch, dass es im menschlichen Gehirn Zeitfenster gibt, und wenn die erstmal geschlossen sind, na dann „Gute Nacht”!
Jetzt aber mal im Ernst, das mag wohl alles stimmen, aber soll ich Ihnen verraten, warum wir unseren Kindern vorlesen? Ganz einfach, weil es uns Spaß macht! Wir genießen die gemütliche Abendstunde, wenn wir es uns kuschlig machen und eintauchen in das Reich der Bücher. Lange Jahre haben sie uns begleitet: die Raupe Nimmersatt, Findus und Petterson, der kleine Rabe und Wie sie alle heißen. Mit der Zeit und mit dem Älterwerden unserer Kinder ändert sich auch unser Repertoire. Und die Geschichten, die uns die Abendstunden so wertvoll machen, sind gefüllt mit Helden unserer Kindertage: nochmal sich so stark fühlen wie Pipi Langstrumpf, mit Jim Knopf auf Abenteuerreise gehen oder sich mit dem Kleinen Gespenst ein wenig gruseln. Dieses Erleben rechtfertigt die Hektik der Abendstunde. Ich hatte ja schon erwähnt, dass wir eifrige Eltern sind, und so lassen wir es zu, dass das Vorlesen auch immer vom gemeinsamen Gespräch unterbrochen wird. Auf diese Weise fördern wir die Kommunikationsfähigkeit unserer Kinder und hegen insgeheim die Hoffnung, vielleicht doch einen eloquenten Staranwalt großzuziehen …
Aber auch wenn aus diesen Berufshoffnungen nichts wird, uns werden wunderbare Erinnerungen bleiben. Da fällt mir ein, kennen Sie eigentlich Herrn Nett? Er heißt Nett, ist aber ein ganz missmutiger, grimmiger Mann, der den Kindern aus Bullerbü das Leben schwer macht. Von Beruf ist er Schuhmacher. Bei dieser Geschichte angekommen, spüre ich bei unseren Kindern eine gewisse Unsicherheit. Und so frage ich, ob sie denn wissen, was ein Schuhmacher ist.
Nach längerem Schweigen fängt das Gesicht unserer Tochter an zu strahlen und ganz in dem Bewusstsein, die richtige Antwort geben zu können, sagt sie: „Der fährt doch Rennautos.“
Vielleicht müssen wir unsere Prioritäten doch nochmal neu überdenken, nicht dass sich bei unseren Kindern irgendwelche Zeitfenster schließen, bevor wir sie mit dem nötigen Wissen versorgt haben …
Dieser Blog-Beitrag erschien erstmals am 15. und 16. November 2003 in der Kolumne „Familienbande“ der Zeitung Trierischer Volksfreund, worin wechselnde Autoren den familiären Alltag glossierten.
Ursula Schaffer ist Lehrerin an der Realschule Plus Bleialf in Rheinland-Pfalz, wohnhaft in Bitburg und mehr noch, meine Lieblingsschwester. Sie schrieb u. a. mehrere Glossen für obige Kolumne. Diese gefielen mir so gut, dass ich sie bat, zumindest einige davon auch auf meinem Weblog zu veröffentlichen.