Zeit für ein Gedicht

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Beitragsfoto: Kaffeegenuss | © Pixabay

Rainer Maria Rilke war schon öfters hier auf dem Blog „zu Gast“, denn seine Gedichte sind selbst nach über 100 Jahren immer noch ein Genuss und haben oftmals nicht an Aktualität verloren. Das unten stehende Gedicht ist vielleicht weniger bekannt, aber eine Zeile davon hat es in den allgemeinen Sprachgebrauch geschafft, nämlich: „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.“ — zumindest bei uns im Südwesten ist dieser Satz noch heute gang und gäbe.

Sein 1905 erschienenes Stundenbuch dürfte bekannter sein, welches in drei Bänden mit insgesamt 134 Gedichten aufwarten kann. Der große Vorteil dabei ist, kein Herbsttag kann so lange andauern, dass man sämtliche dieser Gedichte auch lesen kann. Dennoch ist es immer wieder eine feine Sache, sich ein Gedicht von Rilke herauszusuchen und sich ein klein wenig damit zu beschäftigen.

Und so habe ich mir heute dieses Gedicht aus dem Gedichtband „Das Buch der Bilder“ herausgesucht, welches auch ganz gut zum heutigen Wind und Wetter passt. Und da es das Internet gibt, kann man zudem sehr schnell weitere schöne Gedichte oder — noch besser — zusätzliche Informationen über das gerade gelesene Gedicht finden.

Ich bin immer wieder sehr erstaunt darüber, was man alles in drei Strophen packen kann, im Falle, dass man ein guter Dichter oder Schriftsteller ist. Aber selbst das kann man noch verbessern, vorausgesetzt natürlich, man hat das entsprechende Können: die japanischen Haiku sind ein sehr gutes Beispiel dafür. Mein diesbezügliches Lieblingsgedicht über eine alten Teich findet sich ebenfalls hier im Weblog.

Die drei Strophen von Rainer Maria Rilke haben mir aber heute bereits genügend Stoff zum Nachdenken gegeben. Und sobald etwas mehr Sonne zu sehen ist, werde ich diese Gedanken bei einem Spaziergang weiter vertiefen. Sollten Sie jetzt ein wenig Lust auf das unten stehende Gedicht haben, dann schauen Sie auch einmal, was so alles in diesen zwölf Zeilen zu lesen und zu verstehen ist.

Herbsttag

Herr: Es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
Und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
Gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
Dränge sie zur Vollendung hin und jage
Die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
Wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
Und wird in den Alleen hin und her
Unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Rainer Maria Rilke, Das Buch der Bilder (1902)

Übrigens, unsere Welt wäre viel besser und liebenswerter, wenn die meisten Menschen anstatt in den Social Media herumzulungern oder gar herumzupöbeln, sich ein Gedicht heraussuchen und sich darin vertiefen.

Noch besser wäre sie, wenn sich die Menschen danach untereinander über das gelesene Gedicht auch austauschen.


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