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Anstöße und Anfänge der europäischen Integration

Diesen Beitrag habe ich am 9. Februar 2013 im Zuge der Arbeit als Arbeitsgruppenleiter Geschichte der EUROPA-UNION Heilbronn geschrieben.

In den gegenwärtigen europäischen Krisenzeiten ist es schwierig, hoffnungsvoll über den europäischen Integrationsprozess zu schreiben. Die Europabegeisterung – falls es eine solche in der breiten Öffentlichkeit je gab – hat einen Tiefpunkt erreicht. Europaskepsis ist „in“. Das „Ja, aber …“ der Europaskeptiker erntet Beifall.
Der niederländische Publizist Geert Mak warnt in seinem 2012 erschienen Buch „Was , wenn Europa scheitert“ (1) vor der großen Gefahr, dass uns das gesamte europäische Projekt, dieses kostbare Erbe früherer Generationen von Europäern, unbemerkt aus den Händen gleitet. Er warnt vor einem Hang zur Beständigkeit – man könnte dazu auch Gleichgültigkeit sagen – denn: „je tiefgreifender die Konsequenzen neuer Entwicklungen für unser alltägliches Leben sind, umso stärker neigen wir dazu, den Blick abzuwenden.“ (2)

Weitsichtige Vordenker

Als im Mai 1953 der Kreisverband Heilbronn der Europa-Union förmlich gegründet wurde, lag der Zweite Weltkrieg erst acht Jahre zurück. Das europäische Schlachten hatte nicht nur das geschlagenen Deutschland sondern auch die Siegern, zum Beispiel Frankreich und Großbritannien, in bittere Not gestürzt. Millionen Kriegstoter, Verletzter und Ermordeter – materielle und immaterielle Schäden aller Art -- waren zu beklagen. Kein Wunder, dass weitsichtige Frauen und Männer schon früh darüber nachdachten, wie dem Kontinent eine weitere solche Katastrophe erspart werden kann. Das Zusammenleben der Menschen und der Mächte in Europa musste auf eine neue Grundlage gestellt werden, um einen erneuten Krieg zu vermeiden.

Als einer der ersten Vordenker zur Überwindung des Nationalismus in Europa ist der österreichische Schriftsteller und Politiker Nikolaus Graf von Coudenhove-Kalergi (1894 – 1972) zu nennen, der unter dem Eindruck der Schrecken des Ersten Weltkriegs bereits in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts die Paneuropa-Union gründete. Zu nennen ist auch der französische Politiker und zeitweilige Ministerpräsident Aristide Briand (1862 – 1932), der 1926 zusammen mit dem deutschen Außenminister Gustav Stresemann den Friedensnobelpreis erhielt und 1929/1930 eine Denkschrift über die Einrichtung einer Europäischen Union veröffentlichte.

Bereits 1925 forderten die deutschen Sozialdemokraten in ihrem Heidelberger Programm die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa (3). Im norwegischen Exil veröffentlichte Willy Brandt 1939 einen Zeitungsartikel mit der Überschrift Der Traum von Europas Vereinigten Staaten (4), und im Frühjahr 1944 begann Brandt zusammen mit dem Österreicher Bruno Kreisky den Entwurf für eine Art Europäische Union zu skizzieren ohne damals zu wissen, dass sich der Franzose Jean Monnet – einer der späteren großen Vordenker und Antreiber des europäischen Integrationsprozesses -- in Algier ebenfalls mit solchen Fragen beschäftigte (5).

In seiner berühmt gewordenen Züricher Rede vom 19. September 1946 nannte Winston Churchill (1874 – 1965) als nötigen ersten Schritt bei der Neugründung der europäischen Familie die Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland. Churchill sprach von einem Heilmittel, das innerhalb weniger Jahre ganz Europa frei und glücklich machen könnte: „Dieses Mittel besteht in der Erneuerung der der europäischen Völkerfamilie … Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten.“ (6)

Wenige Tage nach Churchills Rede verabschiedeten Vertreter aus vierzehn europäischen Ländern und aus den USA am 21. September 1946 im schweizerischen Hertenstein zwölf Thesen, die als Hertensteiner Programm bekannt geworden sind. Die 1. These lautet: „Ein auf föderativer Grundlage errichtete, europäische Gemeinschaft ist ein notwendiger und wesentlicher Bestandteil jeder wirklichen Weltunion.“ In These 4 ist verankert, was auch heute, über 65 Jahre nach Hertenstein, bei der Umsetzung noch immer kontrovers diskutiert wird; „Die Mitglieder der Europäischen Union übertragen einen Teil ihrer wirtschaftlichen, politischen und militärischen Souveränitätsrechte an die von ihnen gebildete Föderation.“ (7)

Zu den Triebkräften der europäischen Integration zählt auch der 1949 von zehn Staaten gegründete Europarat der sich in seiner Satzung vom 5. Mai 1949 zur Aufgabe gemacht hat, „eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern zum Schutze und zur Förderung der Ideale und Grundsätze die ihr gemeinsames Erbe bilden herzustellen und ihren wirtschaftliche und sozialen Fortschritt zu fördern.“ Das bedeutendste Arbeitsergebnis des Europarats ist die 1950 verabschiedete und für die inzwischen 47 Mitgliedsstaaten bindende Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), über deren Einhaltung der Europäische Gerichtshof in Straßburg wacht. Mit dem Vertrag von Lissabon trat auch die Europäische Union der Konvention bei.

Als weiterer Mosaikstein bei der Fortentwicklung Europas ist das European Recovery Program (ERP) – besser bekannt als Marshall- Plan – zu nennen, das der amerikanische Außenminister George C. Marshall am 5. Juni 1947 in einer Rede vor Studenten der Harvard Universität vorgestellt hat. „Der Marshall-Plan war ein Wirtschaftsprogramm, aber die von ihm abgewendete Krise war politischer Natur“, schreibt Tony Judt in seiner Geschichte Europas (8). „Der eigentliche Gewinn des Marshall-Plans war psychologischer Natur. Man könnte fast sagen, dass er den Europäern zu einem positiveren Selbstbild verhalf. Sie gewannen die Kraft, sich ein für allemal von Chauvinismus und autoritären Lösungen zu verabschieden. Eine gemeinsame Wirtschaftspolitik schien nun normal …“ (9), denn der Marshall-Plan zwang die Europäer, gemeinsam zu planen und ihren Investitionsbedarf zu schätzen. „Sie mussten nicht nur mit den Vereinigten Staaten, sondern auch mit den anderen europäischen Staaten verhandeln, da ein möglichst rascher Aufbau von multilateralen Wirtschaftsbeziehungen angestrebt war (10). So betrachtet wurde der Marshall-Plan und die dadurch geschaffenen übernationalen Institutionen wie etwa die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa (OEEC) und die Europäische Zahlungsunion zum idealen Trainings- und Erfahrungsfeld für die spätere Arbeit der Politiker und Verwaltungsbeamten in den europäischen Institutionen.

Der Start des neuen Europa

Nach dieser Vorgeschichte und nach diesen europäischen Vorerfahrungen war es nicht verwunderlich, dass es nur ein knappes Jahr brauchte, bis der von Jean Monnet ausgearbeitete Schuman-Plan am 18. April 1951 von den sechs Gründerstaaten der Montanunion unterzeichnet wurde. Jean Monnet (1888 – 1979) – später „Vater Europas“ genannt – war von 1952 – 1954 der erste Präsident der neu geschaffenen Hohen Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). „Die Motive der sechs Staaten, diesen Vertrag zu unterschreiben, mögen unterschiedlich gewesen sei, das Ergebnis war von historischer Bedeutung. Dass ehemalige Feinde wenige Jahre nach Kriegsende eine solche Gemeinschaft gründen, ist in der Weltgeschichte ohne Beispiel“ (11).

Dass diese europäische Dynamik nicht ungebrochen weitergelaufen ist, muss rückblickend akzeptiert werden. Vor allem, dass der 1950 von Frankreich vorgeschlagene Plan einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) vier Jahre später in der französischen Nationalversammlung scheiterte, war ein Rückschlag im europäischen Integrationsprozess. Zwei Männer – wiederum Jean Monnet und der belgische Außenminister Paul Henri Spaak (1899 – 1972) warfen das Rad der Entwicklung wieder an. Am 25. März 1957 wurden in Rom die Verträge über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) feierlich unterzeichnet.

Die förmliche Gründung eines Kreisverbandes der Europa-Union in Heilbronn am 9. Mai 1953 war zwar kein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung. Man kann aber annehmen, dass der europäische Geist bei den Heilbronner Gründern ebenfalls geweht hat. Am 23. März 1953 hatte der Landesvorsitzende der Europa-Union, der Esslinger Oberbürgermeister
Dr. Dieter Roser, seinen Heilbronner Kollegen Paul Meyle um Unterstützung gebeten, damit „in Heilbronn endlich eine der Grösse und Bedeutung dieser Stadt angemessene Arbeit der Europa-Union zu leisten“ ist. Und diese Arbeit wird noch immer geleistet.

Literaturverzeichnis

(1) Mak, Geert: „Was, wenn Europa scheitert“; München 2012
(2) Mak, Geert, a.a.O. S. 8
(3) Dowe, Dieter und Klotzbach, Kurt: “Programmatische Dokumente der deutschen
Sozialdemokratie“, Bonn 1990, S. 220
(4) Lorenz, Einhart: „Der Traum von Europas Vereinigten Staaten –
Europavorstellungen des jungen Willy Brandt 1940 – 1946“
In: „Wir sind auf dem richtigen Weg – Willy Brandt und die europäische Einigung“,
Andreas Wilkens (Hg.), Verlag J.H.W. Dietz Nachf. Bonn 2010, S. 43
(5) Mak, Geert, a.a.O. S. 19
(6) Der Text der Rede wurde wiederholt im Internet veröffentlicht; z.B. von der
Europa-Union Vorarlberg; erstellt 2006, aktualisiert 2009
(7) Hertensteiner Programm; s. bei Wikipedia, Stand: 16.11.2011
(8) Judt, Tony: „Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart“;
Büchergilde Gutenberg 2005, S. 121
(9) Judt, Tony, a.a.O., S. 121
(10) Judt, Tony, a.a.O. S. 116
(11) Mai, Manfred: „Europäische Geschichte – erzählt von Manfred Mai”; Büchergilde
Gutenberg 2007; S. 177

Heinrich Kümmerle hat auf diesen Beitrag reagiert.
Heinrich Kümmerle

Seitenaufrufe: 3.944 | Heute: 1 | Zählung seit 22.10.2023
  • Ergänzung: Die Inflation ist stärker als vor dem Euro?

    Nein. Seit 25 Jahren gibt es den Euro. Das Eurosystem (EZB + Nationale Zentralbanken) haben das Inflationsziel zwischen 1999 und 2020 im Durschnitt deutlich besser erreicht als es davor der Fall war. Die Phase der jetzigen Inflation in Folge der Corona-Krise und der Lieferengpässe und der Energiekrise hat die Preise weltweit 2021, 2022 getrieben. Die Inflation sinkt seit Ende 2022 kontinuierlich und nähert sich wieder den 2 % an.
    Darüber hinaus hat die gemeinsame Währung Europa Stabilität in diversen Krisen gegeben.
    Die gemeinsame Währung stützt den Binnenmarkt und hat Deutschland geholfen, starke Exportleistungen zu erzielen.

  • Zum Protokoll des Gesprächskreises „Europa jetzt!“ würde ich gerne hinzufügen, dass wir Teilnehmer auch darüber debattiert haben, wie „selbstverständlich“ Europa gerade für uns jüngeren geworden ist. Viele von uns kennen es gar nicht anders. Reisen ohne Grenzen, zahlen in Euro, keine Zollgebühren beim Onlineshopping, anders kennen wir es fast nicht. Es gilt, diese Freiheiten aufzuzeigen um das Interesse an Europa zu wecken.
    Ebenso war sich der Großteil der Gruppe einig, dass wir keine Angst haben, sondern Bedenken und Unsicherheit empfinden, wenn wir die aktuellen Entwicklungen beobachten.

    • Wie wir feststellen durften ist die Halbwertszeit solcher Runden nicht ausreichend, um ein Forum nur annähernd zu füllen. Wo die Unverbindlichkeit zum Prinzip erhoben wurde, muss man tatsächlich über ganz neue Kommunikationskanäle nachdenken.