Was Studenten lesen

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Beitragsfoto: Bibliothek Hochschule Heilbronn

Ein weiteres Mysterium meiner Hochschulaktivitäten. Vielleicht wäre es sogar angebrachter zu fragen, ob in der heutigen Zeit von Studenten noch ganze Bücher verschlungen oder doch nur noch möglichst von einer KI zusammengestellte Satz- und Wortfetzen halbwegs zur Kenntnis genommen werden.

Meiner Vorlesungsreihe liegen ganze drei Bücher als notwendige Quelle zugrunde, was übrigens nicht meine Idee war. Was aber dazu führte, dass ich mir als erstes genau diese drei Bücher kaufte und tatsächlich auch las. Da zwei davon auf Englisch verfasst wurden, ging ich von Anfang an davon aus, dass zumindest das deutschsprachige Buch gelesen wird. Nach inzwischen vier Durchgängen glaube ich nicht mehr daran, dass wenigstens jeweils fünf Studenten im Semester überhaupt einmal eines dieser Bücher aufgeschlagen haben.

Erfreulich, dass sich die Studenten voll und ganz auf meine Vorlesungen zu konzentrieren scheinen, eher wohl aber auf die Notizen ihrer Kommilitonen oder gar einzig und alleine auf die Hoffnung, dass an deutschen Hochschulen kaum ein Student noch ohne erfolgreiches Studium von dannen zieht. Jene ein paar Prozent, die selbst an Hochschulen scheitern, werden einfach geflissentlich ignoriert, ähnlich wie bei Soldaten, die allesamt daran glauben (müssen), dass es immer die anderen trifft; aber dort funktioniert das System einfach nicht anders — wobei es da keine zweiten Versuche gibt!

Bequem die Tatsache, dass sämtliche Studenten mindestens drei Versuche haben, um die jeweiligen Prüfungen zu bestehen. Noch bequemer, dass manche Prüfungen schon gar nicht mehr zu erbringen sind, wenn man eine andere — egal wie auch immer — erfolgreich bestanden hat. Was dazu führt, dass man zumindest an dieser Hochschule absolut notwendige Dinge, wie z. B. Statistik, so mir nix dir nix „abwählen“ kann, ähnlich wie an unseren Schulen das Lesen und Schreiben.

Und so frage ich nur noch ganz en passant, ob wenigstens einer der Studenten die Grundlagenbücher meiner Vorlesungsreihe überhaupt schon einmal gesehen hat und stelle lieber sicher, dass deren wichtigsten Inhalte in meiner Vorlesung fast schon gebetsmühlenartig wiedergegeben werden.

Auch habe ich es aufgegeben, für Klassiker der Literatur zu werben, welche sich oh Wunder! bestens für das besagte Studienfach eignen. Als nächstes habe ich es aufgegeben, selbst für studienrelevante Comics zu werben, deren Kenntnis fast alleine schon eine erfolgreiche Klausur garantieren könnte. Lesen bildet wohl nur noch an Universitäten — was man durchaus als Nullhypothese sehen darf.

Auf alle Fälle aber waren dieses Mal selbst meine weiteren Versuche, nämlich für Bücher zu werben, von denen ich weiß, dass sie meine eigenen Kinder noch verschlungen haben, ebenfalls nicht von Erfolg gekrönt. Wer kennt schon noch Harry Potter oder gar Herr der Ringe? Von Per Anhalter in die Galaxis ganz zu schweigen — mit solchen Bezügen und Hinweisen für einzelne „Wissensgebiete“ zu werben, die reinsten Fehlschläge.

Gäbe es an der Hochschule eine erziehungswissenschaftliche oder gar eine Fakultät für Soziologie, ich wäre bemüht, meine Vorlesungen einmal auf Tiktok oder Instagram von jungen Menschen vortanzen zu lassen. Vielleicht würden dann manche für ein Studium (vom Leben ganz zu schweigen) durchaus notwendigen Inhalte auch noch im sechsten und siebten Semester halbwegs verstanden werden und vielleicht sogar Anwendung finden — auch Dozenten dürfen träumen. Und so wird wohl mein Ausflug in ein sechstes Semester an dieser Hochschule ein einzigartiges Erlebnis bleiben.

Bisher ging ich davon aus, dass jeder Student, der meine Klausur im zweiten Semester besteht, weiß, was ein Problem, ein Risiko und eine Chance sind, zumindest aber einzelne Liefergegenstände umwandeln und reihen sowie mit Pufferzeiten umgehen kann — keine vier Semester weiter musste ich in verständnislose Augen blicken.

Was nun wiederum zur Folge hat, dass ich meine kommende Klausur etwas umbauen werde, da ich weiterhin den Studenten etwas beibringen möchte und nicht nur als „Zertifikatsheini“ durch die Flure und Gänge der Hochschule wandeln möchte.

Abschließend wieder zur Frage, was Studenten so alles lesen, anscheinend nicht einmal die eigenen Seminararbeiten, denn sonst hätte ich einige davon nicht auf dem Tisch liegen — was schon wieder zu meiner Vorlesungsreihe führt (Stichwort: Qualitätsmanagement) und offensichtlich ebenfalls völlig zu kurz kommt.

Bücher zu all diesen Themen gibt es bereits wie Sand am Meer — sie müssten einfach nur gelesen werden.

„What capacity could have renovated your brain, endowing you with new, specialized skills as well as inducing specific cognitive deficits?
This exotic mental ability is reading. You are likely highly literate.“

 Joseph Henrich (2020: 4)

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