Zeit für ein Gedicht

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Sinnierende Frau | © Pixabay

Aktuell befinde ich mich noch dabei, das laufende Semester abzuschließen, eine Voraussetzung, um es dann mit gutem Gewissen schnell vergessen zu können. Ein einziger Student wird mir und wahrscheinlich auch Detlef Stern dabei eine Weile in Erinnerung bleiben, letzterem weil er diesem in den kommenden Semestern bestimmt ein paar Mal begegnen wird — ich hingegen habe meine Schuldigkeit getan und gehe dabei davon aus, dass er mich im kommenden Semester nicht mehr hören wird bzw. muss.

Fast schon resigniert habe ich mich mit meinem Schicksal abgefunden und so war es dann auch kein großer weiterer Schritt, um auch noch bei den Vorbereitungen für die Hauptschulabschlüsse zu unterstützen. Auf alle Fälle führte es bereits dazu, dass ich mich ein wenig mit dem aktuellen „Pauker“ beschäftigte. Sehr erstaunlich dabei, was die Schüler für einen Hauptschulabschluss alles wissen müssen. Hätten diese nur 80 % vom Geforderten parat, lebten wir sicherlich in einer heilen Welt. So aber leben wir in einem Land der Spannungsverhältnisse, u. a. zwischen einem völlig plausiblen schulischen Anspruchsdenken und der bei uns vorherrschenden menschlichen Realität — inzwischen reichen meine Erfahrungen von der Grund- und Hauptschule bis hin zur Universität, einzig die Sonderschulen habe ich mir noch nicht näher angeschaut.

Sicherlich wäre es sehr spannend zu ergründen, warum es bei uns überhaupt zu einem solchen Spannungsverhältnis gekommen ist. Ich behaupte schon lange, dass unser falsch konzipierter Sozialstaat jegliches Leistungsdenken ausgehebelt hat, mit dem Essen und Trinken als einzige Ausnahme, denn selbst die Libido blieb irgendwann auf der Strecke [kleiner Insider an das 2. Semester. Stichwort: Maslowsche Bedürfnishierarchie].

Passend dazu das Gedicht, welches ich heute als prüfungsrelevant im Pauker gefunden habe. Dieses stammt von Erich Kästner aus dem Jahr 1928 und trägt den Titel „Sachliche Romanze“. Von den Schülern wird dabei eine Textbeschreibung gefordert. Das einzig wirklich interessante Wort wird sogleich in der Aufgabe erklärt; wahrscheinlich wird die Kenntnis dieses Wortes bei den heutigen Abiturienten dann vorausgesetzt — auch bei uns muss es wohl noch Unterschiede geben.

Sachliche Romanze

Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut)
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wussten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
Er sagte, es wäre schon Viertel nach vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.

Sie gingen ins kleinste Café am Ort
und rührten in ihren Tassen.
Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.

Erstmals erschien die Romanze in der Vossischen Zeitung am 20. April 1928. Noch heute findet man das Gedicht in Erich Kästners Gedichtband „Lärm im Spiegel“ (1929).

Ich halte dieses Gedicht für ein sehr gutes Beispiel für die Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit an sich. Und vielleicht wird gerade deshalb in unserem Bildungssystem so viel Kaffee getrunken.

„Facing this new world, there seems little doubt that our minds will continue to adapt and change. We’ll think, perceive, and moralize differently in the future, and we’ll struggle to comprehend the mentality of those who lived back at the dawn of the third millennium.“

Joseph Henrich (2020: 489)

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