Lesen verstehen

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Beitragsfoto: Labyrinth | © PublicDomainPictures auf Pixabay 

Es ist vollbracht! Endlich. Ich habe dieses Mal Adornos Minima Moralia bis zum bitteren Ende gelesen. Und ich wurde dafür auch belohnt, denn in dieser mir vorliegenden Ausgabe hat der Editor Texte mit angefügt, die Theodor W. Adorno noch zu Lebzeiten aus seinem Manuskript herausgenommen hatte. Da er sich aber von den darin enthaltenen Inhalten nie distanzierte, glaubt der Editor, diese dann zum Schluss als Anhang mit anfügen zu dürfen.

Ich bin schon lange der Überzeugung, dass man gute Bücher mindestens dreimal gelesen haben sollte und dies möglichst in unterschiedlichen Lebenszyklen. Und so konnte ich dieses Mal nicht nur das Buch zu Ende lesen, sondern ihm auch die eine oder andere Weisheit entreißen, welche mir wohl in jüngeren Jahren unverständlich geblieben war. Zudem verführten mich manche Passagen sogar zum Schmunzeln, was mich noch vor gut 30 Jahren erschüttert hätte und vielleicht auch hat. Manche Zitate aus dem Buch habe ich hier bereits für eigenen Zwecke verwendet; die dahinter stehende Idee war, für das Buch ein wenig Werbung zu machen.

Nun aber beginnt wohl erst der schwere Teil der Lektüre, denn ich habe etliche Stellen im Buch mit Anmerkungen und Streichungen versehen, die ich nun teilweise für mich auch verzetteln möchte. Der Vorteil dabei ist, dass ich hierbei mehr selektieren werden kann als noch zu Jugendzeiten. Das Verzetteln wird mir dabei helfen, dieses Buch ein wenig besser zu verstehen und es mir zudem erleichtern, bei Bedarf nochmals auf dieses zurückzugreifen. In einem bin ich mir aber ziemlich sicher, ich werde dieses Buch kein drittes Mal lesen. Dennoch meine ich, dass dieses Buch zur Pflichtlektüre gehören sollte und schon lange so manchen Schulroman ersetzen müsste — die Schwierigkeit dabei ist, dass das Buch vielleicht doch die meisten etwas überfordert.

Man kommt aber nicht viel weiter, wenn man nun bereits zum tausendsten Mal die Effi Briest in allen Facetten beleuchtet. Man könnte auch einmal etwas neueres Terrain betreten. Adornos Reflexionen über unsere damalige Zeit sind gerade heute besonders wertvoll, besonders für all jene, die das Ende von Demokratie verstehen wollen, in einer Zeit, wo die unsrige mehr als gefährdet ist! — Wir streiten uns aber lieber darum, ob man noch Mutter sagen oder das Wort Neger schreiben darf, was kein wirklich gutes Bild über unsere eigene Demokratiefähigkeit abgibt.

Wir schreiben lieber alte Kinderbücher um und dokumentieren damit, dass wir nicht mehr in der Lage sind, um Geschriebenes in der Zeit und im Kontext einzuordnen oder gar verstehen zu wollen, was uns deren Autoren mitteilen wollten oder gar zu sagen hatten. Schlimmer noch, wir mißbrauchen Autoren, die zwar kaum einer noch selber gelesen hat, aber weiterhin aus von mir nicht nachvollziehbaren Gründen bei völlig Unbedarften Autorität ausstrahlen, Moltke der Ältere ist so ein Fall. Schlimmer noch, wenn selbst unsere Wissenschaftler seitenlang Sokrates zitieren.

Um lesen richtig verstehen zu können, müssen wir wohl zuerst auch das Schreiben besser verstehen. Theodor W. Adorno hat in den Minima Moralia einen mir sehr gefälligen Ansatz, nämlich: „Das will das Lose und Unverbindliche der Form, der Verzicht auf expliziten theoretischen Zusammenhang mit ausdrücken.

Ein anderes Extrem sind wohl die Gedichte und Epen, bei denen die Autoren über wirklich jedes Komma stunden vielleicht sogar tagelang sitzen, nur um es am Ende wieder zu entfernen. Gerd M. Hofmann hat sich jüngst wie folgt geäussert: „Ich habe mich schon auf dem Gymnasium – da musste ich Gedichte interpretieren – gefragt, warum Menschen solche Texte verfassen. Die Antwort habe ich bis zur Gegenwart nicht gefunden …

Ich meine, dass diese Form des Schreibens alleine durch ihre Präzision die bestmögliche Art und Weise darstellt, um als Autor seine Gedanken in Worte fassen zu können. Und selbst hierbei wird jedem Leser noch genügend Spielraum für die eigene Interpretation gegeben — Missverständnisse lassen sich niemals vollständig ausräumen.

Zu dieser hohen Kunst des Schreibens, vor allem dann, wenn es eposartige Züge annimmt, sind immer weniger Menschen willig, denn um sich solche Mühen aufzuerlegen, bedarf es sehr viel Zeit.

Wohl selbst die meisten Bücher blieben uns damit erspart. Auch ich schreibe lieber einfach nur so vor mich hin und bin schon zufrieden damit, wenn sich meine Elaborate zu 80 Prozent mit dem ursprünglich Beabsichtigten decken; ich wende keine weitere Zeit mehr auf, um an den verbliebenen 20 Prozent zu feilen.

Deswegen schätze ich es aber sehr, wenn sich andere die Mühe machen, um tatsächliche Höhepunkte des Schreibens zu erstellen. Ein solcher ist der „Song of Myself“, den Walt Whitman geschrieben hat. Um dieses Gedicht besser verstehen zu können, bietet es sich an, dass man es nicht nur einmal in Gänze liest, sondern zudem das Gedicht in seiner ersten Fassung von 1855 mit seiner letzten Fassung von 1892 vergleicht. Beide enden jeweils mit den folgenden Worten.

Failing to fetch me at first keep encouraged,
Missing me one place search another,
I stop somewhere waiting for you.

Walt Whitman, Song of Myself

Mancher Leser wird sich nun fragen, was das mit den Minima Moralia zu tun hat. Nicht weniger als diese mit der Magna Moralia von Aristoteles, übrigens einer der Schüler von Platon und wohl neben Platon, der ein Schüler Sokrates war, mit die Hauptquelle von all jenem was wir heute über Sokrates zu wissen meinen.

Lesen verstehen ist wie das Schreiben selbst eine meist unterschätzte Aufgabe. Gerade als Lesepate in einer Grundschule und bei meseno wie auch als Dozent an einer Hochschule bin ich erstaunt darüber, wie wenig Schüler heute noch von und über unsere Sprache wissen, dem eigentlichen „Betriebssystem“ unseres Denkens.

Erstaunter bin ich darüber, was viele der heutigen Leser von dem gerade Gelesenen verstehen. Und dabei rede ich nicht einmal über die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten. Wenn das freie Schreiben und das freie Lesen immer mehr nur noch auf Unverständnis und zu Missverständnissen führen, könnte man sich schon einmal darüber Gedanken machen, ob man das Schreiben an sich wieder mehr formalisiert — es müssen ja nicht unbedingt Reime sein. Aber Schreib- und Sprechverbote ebenfalls nicht. Man könnte sich bestimmt auf eine einheitliche Grammatik und Rechtschreibung einigen.

Auf alle Fälle aber müssen wir darauf achten, dass zum Schluss nicht bloß noch die künstliche Intelligenz schreibt, liest, versteht und denkt, und wir ganz folgerichtig zusammen mit den letzten Primaten in Käfigen gehalten werden.

„Das Unheil geschieht durchs Thema probandum: man bedient sich der Dialektik anstatt an sie sich zu verlieren. Dann begibt sich der souverän dialektische Gedanke zurück ins vordialektische Stadium: die gelassene Darlegung dessen, daß jedes Ding seine zwei Seiten hat.“

THEODOR W. ADORNO, MINIMA MORALIA (14. AUFLAGE 2022 [1951]: 283)
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