Sterben für Anfänger

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Beitragsfoto: Albrecht Dürers Ritter, Tod und Teufel | Bildausschnitt | 1513

Bereits seit Tagen quälen mich Kopfschmerzen und hin und wieder habe ich Beklemmungen in der Herzgegend. Meine Hausärztin meint, dies sei altersbedingt und somit normal. Meine Tochter glaubt, dass ich mich bei der Pflege meines immer dementer werdenden Mannes übernehme. Zu Fuß war ich eigentlich noch nie so richtig fit, was mich aber nicht stört.

Und so nutze ich den aktuellen Besuch bei meiner Hausärztin dazu, die Kopfschmerzen sind einfach unerträglich, um auf dem Rückweg gleich noch zwei Brezeln fürs Mittagessen zu kaufen.

Vor Kurzem bin ich noch vor der Arztpraxis zusammengesunken, interessierte dort nur eine nette jüngere Frau und einen zufällig vorbeifahrenden Krankenwagen, ich rappelte mich aber wieder auf und das Leben geht weiter.

Mit den Brezeln in der Hand habe ich gerade die Straße überquert und befinde mich nun auf der gegenüberliegenden Seite des Metzgers und Bäckers auf dem Gehweg. Dieser hat schon sehr lange seine besseren Zeiten hinter sich, dafür gibt es aber neue Farbstreifen für Radfahrer auf der Straße.

Ob es am Gehweg liegt, der an dieser Stelle sehr uneben ist, was wiederum bestimmt einen Hundertwasser glücklich machen würde, oder aber ob meine laut Ärztin eingebildeten Kopfschmerzen Schuld sind, weiß ich jetzt gerade nicht. Ich falle, versuche mich noch mit dem linken Arm aufzufangen, denn in der rechten Hand halte ich die Tüte mit den Brezeln. Ich schlage mit dem Kopf heftig auf dem Boden auf.

Als ich meine Augen wieder öffne, kann ich auf der gegenüberliegenden Seite Menschen sehen, die teilweise interessiert zu mir herüberblicken. Nach einer Weile kommt ein junger Mann herüber und versucht mich anzusprechen, ich kann ihm nicht antworten. Mein Kopf dröhnt.

Zwei Notfallsanitäter gucken mich an und meinen, dass mein linker Arm gebrochen sei, ich kann ihnen immer noch nicht antworten. Sie bringen mich mit dem Rettungswagen in die Notaufnahme des Krankenhauses. Mein Kopf brummt.

In der Notaufnahme sitze ich und warte, dann bandagiert jemand meinen Arm und eine nette Frau ruft meinen Mann an, dass ich gestürzt sei, mir den Arm gebrochen hätte und bald mit dem Taxi nach Hause komme. Mein Kopf brummt.

Kurz darauf bin ich in einem MRT und schon auf Intensiv. Ein Arzt telefoniert mit meinem Mann, fragt nach einer Patientenverfügung und sagt ihm, dass ich zwei Hirnblutungen hätte, mein Kopf brummt.

Überall piepst es, ich kann nicht sprechen, mich kaum bewegen, mein Mann ist da und auch die Kinder und die Enkel, ich kann nicht sprechen. Man möchte eine Blutung durch eine Operation beheben. Mein Sprachzentrum sei betroffen, ich kann nicht sprechen.

Mein Mann sagt, alles wird wieder gut. Ein Arzt, dass die zweite Blutung schlimmer sei. Seit sieben Tagen piepst es um mich herum, sagt mein Sohn zu meinem Mann; Ärzte, Schwestern und Familie wechseln sich ab. Ich kann nicht sprechen und nicht schlucken. Überall piepst es, Kabel überall, was ist an meinem Kopf? Mein Mann ist da.

Es ist still, mein Mann ist da. Kein Piepsen, keine Lichter, Ruhe, Sohn ist da, Schwestern sind da. Mein Mann sagt, ich darf bald in Reha und wieder nach Hause. Ich kann nicht schlucken. Stille. Mein Mann ist da. Ich kann nicht schlucken. Ich kann nicht sprechen. Stille. Eine Schwester versucht mir trinken zu geben; ich kann nicht schlucken.

Ich bin müde, ich will schlafen. Mein Mann ist da. Ich bin müde, ich will schlafen. Ich will nur noch schlafen.

„Nemo quam bene vivat sed quam diu curat, cum omnibus possit contingere ut bene vivant, ut diu nulli.“

Seneca, LIber III, Epistula XXIII (2018: 156)

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