Warum Macrons Idee von Europas Souveränität gefährlich ist 

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Beitragsfoto: Zerfallende europäische Flagge | © Shutterstock
Dieser Beitrag wurde auch auf der Website der Europa-Union Deutschland veröffentlicht.

Emmanuel Macron war in seiner ersten Präsidentschaft mit großer Geste für ein stärkeres Europa angetreten. Das hatte Hoffnungen bei uns europäischen Föderalisten geweckt. Er war der Kandidat eines demokratischen, europäischen Frankreich. Im zweiten Wahlgang hatte er sich gegen die ultrarechte Gegnerin eines geeinten Europa durchgesetzt. Viele Deutsche hatten Angst vor Marine Le Pen, verspürten, als manche ihren Wahlsieg befürchteten, vielleicht auch etwas Genugtuung, endlich einmal auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Das war ein kathartischer Augenblick, ein besonders deutscher Moment, der im Übrigen Pulse of Europe begründete.

Sechs Jahre später ist Macron, mittlerweile in seiner zweiten Amtszeit, innenpolitisch enorm geschwächt. Seine Bewegung erscheint kaum noch mehrheitsfähig. Und die Parteien, die einst die 5. Republik getragen hatten, sind nur noch ein Schatten ihrer selbst, Splitterparteien, von weiterer Spaltung bedroht. Stark und vielleicht stärker als je zuvor ist das Rassemblement National Le Pens, die lange schon Kreide gefressen hat und ähnlich wie ihre Schwester im Geiste, die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni, jüngst sogar mit positiven Aussagen zu Europa zu vernehmen war. Le Pen, Wölfin im Schafspelz wie die italienische Neofaschstin, bleibt aber die größte französische Gefahr für Europa, wobei auch der linke Volkstribun Jean-Luc Mélenchon kein Freund Europas ist, das er ätzend als l‘Europe de Maastricht und damit eine kapitalistische Verschwörung geißelt. 

Macron erscheint im Vergleich zu den stärksten Kräften der Opposition nach wie vor als europäische Lichtgestalt. Dennoch ist auch Macrons Idee von Europa gefährlich. Macron hat es vermocht, mit Ursula von der Leyen eine Deutsche als Kommissionspräsidentin durchzusetzen, denn das sicherte Frankreich den Vorsitz der aus seiner Sicht wichtigeren Europäischen Zentralbank. Von der Leyen tat Macron im Gegenzug den Gefallen, seine Idee von einem strategisch autonomen Europa zu übernehmen. Die Kommission bewirbt dieses schillernde Konzept seither eifrig. Nicht nur die Parteifamilie Macrons mit dem programmatischen Namen Renew Europe verteidigt die strategische Autonomie. Sie findet parteiübergreifend weiten Konsens, ist in Brüssel beinahe zu einem Heiligen Gral geworden.

Dabei war es bisher so, dass viele Europapolitikerinnen und -politiker die strategische Autonomie durchaus unterschiedlich verstanden. Die Meisten beschrieben die Idee mit einem handlungsfähigeren Europa. Und wer wollte dem widersprechen? Niemand bezweifelt, mit Ausnahme der Gegner der europäischen Einigung, dass die EU handlungsfähiger werden muss. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine kommt der Gedanke größerer Unabhängigkeit hinzu. Auch das lässt sich mit dem vagen und deshalb besonders anschlussfähigen Angebot der strategischen Autonomie verbinden. Tatsächlich aber ist die Idee der strategischen Autonomie wenig originell und noch weniger neu.

Was Macron mit der strategischen Autonomie Europas propagiert, ist purer Gaullismus. Ein Teil der französischen Eliten und mit ihnen Macron sieht im Brexit die Chance, in Europa eine neue Führungsrolle zu übernehmen. Macron sieht Frankreich als Grande Nation und mindestens auf Augenhöhe mit den USA, von denen Frankreich sich traditionell herausgefordert fühlt, obschon es doch im Wesentlichen die Amerikaner waren, die das Hexagon von den Deutschen befreiten und die im Übrigen auch die Politiker der 4. Republik zur Versöhnung mit West-Deutschland drängten und damit bedeutsam zur europäischen Einigung beitrugen.

Macrons Europaidee ist nun aber von dem nach den irritierenden Trump-Jahren prima vista plausibel erscheinenden Gedanken geprägt, Europa müsse sich von den Amerikanern emanzipieren. Letztere orientierten sich ohnehin weg vom Atlantik, hin zum Pazifik. Die strategische Autonomie bedeutet also eine Äquidistanz zu den USA und zu China. Europa soll als dritter Pol sein Glück suchen und finden. Viele Apologeten der strategischen Autonomie haben in den vergangenen Jahren argumentiert, dies sei mindestens eine Über-, eher sogar eine Fehlinterpretation der strategischen Autonomie Europas. Selbstverständlich müsse die EU mit den USA eng verbunden bleiben, jedoch eben unabhängiger von diesen wie auch von allen anderen Mächten werden. 

Die in diesen Tagen im Zusammenhang mit dem sich zuspitzenden Taiwan-Konflikt gegebenen Interviews des französischen Präsidenten zeigen aber, dass die Interpretation der strategischen Autonomie als gegen Amerika gerichtete Politik keine Fehlinterpretation war. Frankreich will Europa von den USA loslösen. Macron hatte bereits 2019 die NATO, die im Kern auf der US-amerikanischen Schutzgarantie basieren, als hirntot bezeichnet und damit Trump im Grunde zugestimmt, der die NATO als obsolet bezeichnet hatte. Nun argumentiert Macron, die Freiheit der Demokratien im pazifischen Raum betreffe Europa nicht. Europa dürfe nicht zum Anhängsel der USA werden, das sich in dessen Konflikt mit China hineinziehen lasse, der kein Konflikt Europas sei. Begeistert springen ihm auch deutsche Politiker bei, die mit antiamerikanischer Attitüde politisch sozialisiert wurden.

Gefährlich und verwunderlich ist ein solches Verständnis von strategischer Autonomie oder auch Souveränität Europas, weil Europas Sicherheit aktuell akut bedroht wird und es neben den tapferen Ukrainern vor allem die USA sind, die bisher eine ukrainische Niederlage verhindert haben. Letztere würde das Ende der Ukraine bedeuten und ein siegreiches Russland, das erklärtermaßen seinen alten sowjetischen Herrschaftsraum wiederherstellen will, zu einer existenziellen Gefahr für zumindest Mittelosteuropa machen. Die amerikanischen Reaktionen auf Macrons Aussagen sind weniger überraschend. Während die Biden-Administration sich fragt, womit sie das verdient hat, sehen sich weite Teile der Republikaner in ihrem chauvinistischen Isolationismus bestätigt. Sollen die Europäer doch allein mit Russland klarkommen. Denn auch der Überfall auf die Ukraine kann je nach Perspektive ebenso wie die chinesische Bedrohung Taiwans als Regionalkonflikt aufgefasst werden. 

Erstaunlich ist die französische Sicht auf Taiwan auch deshalb, weil ein offener Krieg um die Insel verheerendere Folgen für die Weltwirtschaft und damit auch für europäische Unternehmen und Arbeitsplätze, ja sogar die allgemeine Güterversorgung in Europa haben würde als der gegenwärtige Ukrainekrieg. Europa muss ein vitales Interesse daran haben, dass die Handelswege in Asien offenbleiben und eine regelbasierte Weltordnung in der Formosastraße ebenso verteidigt wird wie im Osten Europas. 

Dass Europa handlungsfähiger werden muss, vor allem durch die weitere Abschaffung des Vetorechts der Mitgliedstaaten, und dass es seine Abhängigkeiten durch Diversifizierung verringern muss, bleibt unbestritten. Besonders Deutschland tut dafür aktuell noch viel zu wenig. Jüngste Statistiken zeigen eine immer größere einseitige Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von China. Europa muss aber nicht unabhängig von seinen Partnern und Freunden in der Welt werden, sondern um Gegenteil die wechselseitigen Abhängigkeiten zu verstärken suchen! Auch die USA brauchen ein freies Europa. Würde die EU allmählich zerbrechen und ihre Mitglieder teils zu russischen Satelliten werden und allesamt, inklusive Russland, immer abhängiger von China, wären Europas nach den Weltkriegen entwickelten Werte Geschichte.

Macron und Frankreich geben sich, gestützt auf ihr Selbstbewusstsein, eine Nuklearmacht zu sein, gefährlichen Illusionen hin, was Europas Rolle in der Welt angeht. Europa war in den 1990er-Jahren nicht in der Lage, den serbischen Aggressor aus eigener Kraft zu stoppen. Es hatte nach dem gescheiterten Arabischen Frühling so gut wie keinen konstruktiven Einfluss auf den Nahen Osten und Nordafrika. Dass amerikanische Interventionen hier Chaos angerichtet haben, ist wahr. Der allmähliche Rückzug der Amerikaner aus dem Nahen und Mittleren Osten hat dieses aber noch größer werden lassen und wird mitnichten durch Europa kompensiert. Und Europa allein verfügt in keinster Weise über die Mittel, den russischen Aggressor aufzuhalten. 


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