Europa mit der Bahn erleben

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Beitragsfoto: Eisenbahn in Wien | © Pixabay

Heinrich Kümmerle macht auf die Initiative DiscoverEU der Kommission aufmerksam und fordert darüber hinaus, dass man innerhalb der Europäischen Union zumindest von jedem Hauptbahnhof aus, ein Bahnticket an jeden anderen Bahnhof kaufen können muss. Und dies mit einer Transportgarantie verbunden, die sicherstellt, dass man ohne Mehrkosten und notfalls mit jeder Bahngesellschaft sein gebuchtes Ziel auch erreicht; als plakatives Beispiel soll die Fahrt von Heilbronn nach Porto dienen.

Ich begrüße eine solche Initiative hin zu mehr Nachhaltigkeit bei Reisen (vom Komfortgewinn ganz zu schweigen). Persönlich war eine Inspiration für mich der Artikel Hochgeschwindigkeitszüge zerstören das europäische Bahnnetz. Nach dem, zugegeben reißerischen, Titel werden die Probleme des heutigen Bahnverkehrs gut herausgearbeitet.

Man kann sicher gerne streiten, ob ein ICE nicht doch eine tolle Möglichkeit ist. Besonders, wenn man in der Nähe von Verkehrsknoten der Bahn wohnt. Da bevorzuge ich sechs Stunden Fahrt mit dem ICE von München nach Hamburg ganz klar gegenüber den früheren 10 Stunden mit dem IC. Ebenso ist es zu diskutieren, ob man es sich leisten möchte, dass eine Stadt wie Heilbronn maximal verkrüppelt ans Bahnnetz angebunden ist. Oder dass in manchen Gegenden ein Alibi-ÖPNV geboten wird, wenn dort Busse viermal am Tag fahren.

Ich kann mich noch gut an meine Kindheit erinnern, als ich in mit meiner Mutter meine Urgroßmutter mit dem Nahverkehr besuchte. Wir mussten pro Richtung drei (!) Fahrkarten kaufen, damit wir am Ziel ankamen. Start- und Zielpunkt lagen in Hamburg, ca. 12 km Luftlinie voneinander entfernt. Wir mussten zuerst eine Fahrkarte für den Bus lösen, dann eine für die S-Bahn und dann eine für den Bus eines anderen Busunternehmens. Natürlich waren die Fahrpläne nicht aufeinander abgestimmt, was mir in den Sommermonaten ein „Warte-Eis“ bescherte.

Zum Glück gibt es heute Verkehrsverbünde.

Diese Verkehrsverbünde sind de facto „föderal“ organisiert. Natürlich ist die Gesellschaftsform eine andere, aber dort schließen sich selbständige Transportunternehmen unter einem gemeinsamen Dach zusammen, um gemeinsam für die Kunden ein besseres Angebot zu machen.

Die Situation beim europäischen Bahnverkehr ist kaum anders als in Hamburg (und vielen anderen Gebieten) vor der Gründung des Verkehrsverbundes.

Will ich von Heilbronn mit dem ÖPNV nach Porto reisen, muss ich 12mal umsteigen und nehme die Dienste von 4-5 Transportunternehmen in Anspruch. Vielleicht kann ich manche der 13 Tickets gemeinsam buchen, aber eher nicht alle auf einmal. Was mache ich, wenn es mit einem Betreiber Probleme gibt, zum Beispiel weil alle Plätze ausgebucht sind? Schon gebuchte Tickets der vorigen Etappen zu stornieren kostet wenigstens Aufwand, manchmal auch mehr.

Die Umsteigezeiten reichen von 6 Minuten bis hin zu 5 Stunden. Die 6 Minuten in Karlsruhe sind eindeutig zu kurz. Wüsste ich das nicht, würde ich den TGV nicht mehr erreichen. Da ich dort die Fahrt nicht angetreten habe, gibt es auch keine Entschädigung für die Fahrt(en). Also nochmal Tickets kaufen, vorausgesetzt ich habe noch Geld. Warum die 5 Stunden? Oh, in der Nacht fährt kein Zug. Warum eigentlich nicht? (Antwort: siehe obig angeführten Artikel). Wenn ich die Nacht nicht auf dem Bahnsteig verbringen möchte, brauche ich ein Hotel. Aber für 5 Stunden? Wenn die vorherige Zug 3 Stunden Verspätung hat, dann brauche ich das Hotel auch nicht. Und extra einen Aufenthaltstag in Perpignan am Mittelmeer einzulegen, will man vielleicht nicht.

Warum gibt es eigentlich keinen europäischen, föderalen Verkehrsverbund? Naiv, wie ich manchmal bin, wäre das doch ein tolles Projekt, von dem alle in (EU-) Europa etwas direkt haben, das eine riesige Signalwirkung besäße. Dabei sollte das nicht riesig viel kosten, bestimmt weniger als ein immer noch in Bau befindlicher Flughafen südlich von Berlin, ein Konzertsaal in Hamburg oder der Tunnelbau in Stuttgart. Man müsste „nur“ auf eine Vereinheitlichung der Abläufe hinwirken, auf eine Abstimmung der nationalen Transportgesellschaften untereinander (die zudem häufig im Besitz der Staaten sind). Und dann kann man eine Transportgarantie vereinbaren, wie es sie teilweise national schon gibt, wie auch für den Flugverkehr.

Dann hätten alle Menschen, die in der EU leben, etwas davon, nicht nur jungen Menschen, denen ich das aktuelle Angebot gönne. Dann könnte man viel einfacher durch Europa reisen, einfacher andere Menschen kennen lernen. Und man weiß zu schätzen, was Europa für uns sein kann.


Ergänzung zu Christian Moos’ Einwand

„Mit den europäischen Eisenbahnpaketen https://www.eba.bund.de/DE/RechtRegelwerk/EU-Recht/eu-recht_node.html ist da bereits viel passiert. Die Harmonisierungstendenz ist da, Koordinierung so und so. Es ist ja nicht so, dass man in normalen Zeiten nicht gut mit der Bahn von einem EU-Land ins andere kommt. Den europäischen Eisenbahnraum gibt es also schon. Allerdings könnte das attraktiver formuliert, beworben werden. Jedenfalls sobald das Reisen wieder geht.“

Christian Moos, Generalsekretär der EUROPA-UNION Deutschland (22. April 2020, 11:02 Uhr)

Danke für den Link, war mir neu. Es freut mich auch zu erfahren, dass es allererste Harmonierungsansätze gibt. Wenn ich die ganzen Unterlagen als Nicht-Jurist richtig verstehe, bewegt man sich, neben der allgemeinen Absichtserklärung (RL 2012/34/EU) eher auf dem Gebiet, die unterschiedlichen Eisenbahnsysteme überhaupt kompatibel zu machen.

Gestatten Sie mir bitte eine Analogie. Ich bin Informatiker (das als Entschuldigung / Erklärung).

Bezogen auf einen zukünftigen Markt für Personalcomputer befinden wir uns danach noch in der Vor-PC-Ära, als es Systeme wie den Apple II, den Commodore PET 2001 oder den TRS-80 gab. Dieser Markt zeichnete sich dadurch aus, dass die Geräte so gut wie nicht kompatibel waren. Ein gemeinsames Betriebsssystem (ob nun DOS oder Windows) war noch nicht denkbar. Wenn ich also die Unterlagen richtig verstehe, muss erst noch auf Schaltkreisebene (Eisenbahnschienen, Strom, -Abrechnungen, …) eine Vereinheitlichung geschaffen werden, damit überhaupt so etwas wie ein (damals) offener IBM-PC denkbar wird. Und dann muss sich erst ein Betriebssystem durchsetzen. Damit ein PC überhaupt nutzbar ist, muss dann Anwendungssoftware existieren, wie z.B. Office-Produkte. Und dann müssen auch diese Produkte zusammenarbeiten, damit auch unerfahrene Nutzer etwas davon haben.

Natürlich hinken solche Analogien immer.

Bei so gut wie allen Produkten gibt es mindestens zwei Sichtweisen: die der technischen Umsetzung und die des Kunden. Den meisten ist es relativ egal, wie ein Computer technisch funktioniert, Hauptsache er funktioniert. Mir als Bahnfahrer ist es relativ egal, wie der Zugverkehr technisch funktioniert, Hauptsache er funktioniert. Wie die Transportunternehmen abrechnen, wie das mit dem Strom funktioniert, … ist alles sicher essentiell wichtig. Mir aber egal. Ich möchte mein Ticket von Heilbronn nach Porto buchen. Und ich möchte bequem und sicher dorthin unterwegs sein. Ich möchte einen (!) Ansprechpartner haben, wenn etwas schief läuft. Ich will nicht von einem Unternehmen an das andere verwiesen werden. Mit einem Wort: Kundenorientierung.

Natürlich funktioniert das auch nicht immer beim PC. MS Word arbeitet nicht mit einem Medienplayer eines anderen Herstellers zusammen? Pech gehabt.

Für mich sieht es so aus, als würden sich alle Beteiligten am Prozess der Eisenbahnharmonierung auf die technische Sicht konzentrieren. Selbst dieser Begriff „Eisenbahnharmonierung“ ist ein technischer Begriff. Da kommt der Nutzer, der Bahnfahrer nicht vor. (Zugegeben, in einigen Dokumenten schon, versteckt). Selbst das Dokument RL 2012/34/EU konzentriert sich auf technische Dinge. Gibt es wirklich kein Leitdokument, das die Ziele aus Sicht der Bahnfahrer beschreibt?

Wenn ich nicht zu falsch liege, dann war der Prozess, der zur DSGVO führte ein ganz anderer. Dort wurde das Ziel ausgegeben, etwas für den Datenschutz aus Sicht der Menschen zu tun. Das Ziel war nicht technisch formuliert. Und letzten Endes sind die technischen Aspekte auch nachrangig, wenn das Ziel für die Menschen stimmt. Ingenieure, ob nun bei der Eisenbahn oder in der Informatik, sind geübt darin, solche Ziele gemeinsam, unternehmensübergreifend umzusetzen.

Deshalb freut es mich trotzdem, dass daran gearbeitet wird. Aus meiner, nutzerorientierten, Sicht gibt es einen europäischen Eisenbahnraum aber noch nicht. Dass dieser auch einer technischen Sicht besteht, möchte ich nicht bezweifeln. Zwölf mal von Heilbronn nach Porto umsteigen ist nicht besonders nutzerfreundlich. Das entspricht für mich eher der Vor-PC-Ära, als nur Eingeweihte ein PET 2001 bedienen konnten. Da wundert es mich nicht, dass viele lieber das Flugzeug nehmen und auf der gleichen Strecke nur viermal umsteigen müssen (HN->S Hbf->STR->OPO->Porto).

Update 22.5.23: auch die Tagesschau bemerkt das Problem: Auslandsreisen mit der Bahn sind kompliziert.


Dr. Detlef Stern ist seit ein paar Jahren einer meiner liebsten Gesprächspartner — besonders bei einem guten Kaffee — und auch „Schuld daran“, dass ich Lesepate wurde. 

Im echten Leben ist er Professor für Projekt­management, Electronic Business und Software­entwicklung an der Hochschule Heilbronn. Achtung, seine Begeisterung für Software ist ansteckend, und so nutze ich inzwischen auch seinen Zettelstore. Übrigens, er bloggt selbst unter https://t73f.de.

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