Zeit für ein Gedicht

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Beitragsfoto: Kaffeegenuss | © Pixabay

Die von mir betreuten Schüler aus achten Klassen kamen letzten Freitag allesamt mit einem Adventsgedicht um die Ecke, das ich sofort wiedererkannte. Dieses Gedicht, welches den schlichten Namen „Advent“ trägt, wurde von Loriot am 7. Dezember 1969 zum ersten Mal veröffentlicht und stieß zumindest damals auf mächtige Kritik. 1971 erschien das Gedicht in „Loriots Kleine Prosa“ auch als gedruckter Text.

Ich lernte das Gedicht erstmals Mitte bis Ende der 1970er-Jahre kennen, als es meine Schwester aus der Schule mitbrachte. Inzwischen dürfte der Umgang mit diesem Gedicht allseits etwas entspannter gewesen sein, denn es war zum einen Schulstoff und wir beide fanden es zum anderen ziemlich lustig. So lustig, dass wir es zusammen im Advent unseren Eltern vortrugen. Ob wir beide damals die Sprengkraft dieses Gedichts erkannten, darf bezweifelt werden, aber eines ist sicher, wir benötigten nicht lange, um es auswendig vortragen zu können.

Und diesem Umstand ist es wohl geschuldet, dass das Gedicht auch heute noch an Schüler ausgeteilt wird. Einen Unterschied gibt es dabei allerdings: wenn das Vortragen des Gedichts damals benotet wurde, dann, indem man es nicht nur vollständig vorsagen konnte, sondern dieses dann auch noch mit einer entsprechenden Intonation versehen — möglichst auch die Paarreime und Jamben berücksichtigend.

Heute gibt es gemäß dem ausgeteilten Textblatt eine 4 für die erste, eine 3 für die zweite, eine zwei für die dritte und eine 1 für die vierte Strophe. Den Rest des Gedichts traut man den Schülern schon gar nicht mehr zu! Die von mir betreuten Schüler wollten nur eine 4 erzielen, ich konnte sie zu einer 3 ermutigen. Und einer war sogar in der Lage, um eine 2 in Erwägung ziehen zu können.

Was mich dann doch ein wenig erstaunte, war, dass keiner der Schüler das Gedicht als lustig empfand. Als ich ihnen die Bedeutung des Gedichts erklärte und vor allem dabei auch die etwas schwierigeren Worte in einfaches Deutsch übersetzte, fanden sie dieses Gedicht nur noch ekelig.

Knapp 40 Jahre lassen einen gewaltigen Unterschied zwischen den Schülergenerationen erkennen. Und so war es von den Lehrern, die dieses Gedicht ausgesucht haben — wohl anlässlich des hundertsten Geburtstags von Bernhard-Viktor von Bülow (Loriot) — sicherlich gut gemeint, aber leider nicht von Erfolg gekrönt.

Nun hoffe ich, dass meine Leser etwas mehr Gefallen am Gedicht finden. Ich versuche derweil meiner besseren Hälfte nicht allzu sehr bei der Heimespflege im Wege zu sein — was auch schon wieder völlig aus der Zeit gefallen ist!

Advent

Es blaut die Nacht. Die Sternlein blinken. 
Schneeflöcklein leise niedersinken. 
Auf Edeltännleins grünem Wipfel 
häuft sich ein kleiner weißer Zipfel. 

Und dort, vom Fenster her durchbricht 
den dunklen Tann’ ein warmes Licht. 
Im Forsthaus kniet bei Kerzenschimmer 
die Försterin im Herrenzimmer. 

In dieser wunderschönen Nacht 
hat sie den Förster umgebracht. 
Er war ihr bei der Heimespflege 
seit langer Zeit schon sehr im Wege. 

So kam sie mit sich überein:
Am Nicklausabend muß es sein. 
Und als das Rehlein ging zur Ruh’, 
das Häslein tat die Augen zu, 

Erlegte sie – direkt von vor’n 
– den Gatten über Kimm’ und Korn. 
Vom Knall geweckt rümpft nur der Hase
zwei-, drei-, viermal die Schnuppernase. 

Und ruhet weiter süß im Dunkeln, 
Derweil die Sternlein traulich funkeln. 
Und in der guten Stube drinnen, 
da läuft des Försters Blut von hinnen. 

Nun muß die Försterin sich eilen, 
den Gatten sauber zu zerteilen. 
Schnell hat sie ihn bis auf die Knochen 
nach Waidmanns Sitte aufgebrochen. 

Voll Sorgfalt legt sie Glied auf Glied 
– was der Gemahl bisher vermied –
Behält ein Teil Filet zurück, 
als festtägliches Bratenstück. 

Und packt zum Schluß – es geht auf vier – 
die Reste in Geschenkpapier. 
Da dröhnt’s von fern wie Silberschellen. 
Im Dorfe hört man Hunde bellen. 

Wer ist’s, der in so tiefer Nacht 
im Schnee noch seine Runde macht? 
Knecht Ruprecht kommt mit goldenem Schlitten 
auf einem Hirsch herangeritten! 

„Heh, gute Frau, habt ihr noch Sachen, 
die armen Menschen Freude machen?“ 
Des Försters Haus ist tief verschneit,
doch seine Frau steht schon bereit: 

„Die sechs Pakete, heil’ger Mann, 
‘s ist alles, was ich geben kann!“
Die Silberschellen klingen leise. 
Knecht Ruprecht macht sich auf die Reise. 

Im Försterhaus die Kerze brennt. 
Ein Sternlein blinkt: Es ist Advent.

Loriot, 7. Dezember 1969

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