Culture War – Der Kampf um das Denken und Fühlen der Amerikaner

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Beitragsfoto: Micky oder Minnie Mouse | © Fabiana Bigao auf Pixabay

Mit Vergnügen lese ich derzeit Heinrich Kümmerles Berichte aus den USA. Besonders gefallen hat mir seine Beschreibung der Republikanischen Partei vom 23. Mai 2023 als Sammlungsbewegung, „die in Deutschland CDU, CSU, AfD, NPD, Reichsbürger, Montagsmarschierer und sonstige Schwurbler vereinen würde.“ 

Ich sehe dies ähnlich und habe deshalb in meinem heutigen Beitrag vermerkt, dass die ehrwürdige G. O. P. umher irrlichtert. Von allem ein wenig, aber ohne eindeutige Agenda. „Die Republikanische Partei ist sonderbar geworden“, schrieb ein Kommentator in der New York Times.

Dazu passt, dass die extrem rechte Kongressabgeordnete Marjorie Taylor Greene aus Georgia im Februar auf Twitter über die Auflösung der Vereinigten Staaten — eine „National Devorce“  — fabuliert hat. Taylor Greene ist nicht irgendwer. Als sie 2021 als eingeschworene Trump-Unterstützerin ins Repräsentantenhaus einzog, hatte sie vor allem durch aggressive Verbalangriffe auf politische Kontrahenten, u. a. auf Nancy Pelosi, die damalige Speakerin of the House, eine gewisse Berühmtheit erlangt. Inzwischen ist sie — nicht zuletzt im Verlauf des Dramas um die Wahl von Kevin McCarthy zum neuen Speaker — in die Führungsriege der Republikaner im Repräsentantenhaus aufgestiegen.  

Ihren Vorschlag einer Trennung der Nation begründete Taylor Greene nicht etwa wirtschaftlich, verwaltungstechnisch, strukturell oder gar sicherheitspolitisch, sondern ideologisch: „Tragischerweise haben die Linken und die Rechten einen Zustand unüberbrückbarer Differenzen erreicht”, schrieb Taylor Greene und beklagte aus Sicht der Rechten: „Wir sind absolut angewidert und haben genug davon, wie die Linken uns und unsere Kinder mit ihren Vorstellungen vollstopfen und uns diese aufzwingen, ohne Respekt vor unserer Religion, unserem Glauben, unserer traditionellen Werten und unserer Vorstellungen über die Wirtschaft und Regierungspolitik.” Die Realisierung dieser „National Devorce” stellt sie sich sehr einfach vor: „Die ‚roten‘ Staaten und die ‚blauen‘ Staaten gehen ganz einfach ihrer eigenen Wege” (nytimes.com24.2.2023; Jamelle BouieMarjorie Taylor Greene Has a Dream”). Dabei bezieht sich die Farbe ‘rot’ auf die Republikaner und ‚blau‘ auf die Demokraten.  

Natürlich hat Taylor Greene für diese Horrorvision auch aus ihrer eigenen Partei mächtig Kritik bezogen. Doch sie steht mit solchen Spintisierereien um die Verfassungsstruktur der USA nicht allein. Auch Donald Trump hat nach der verlorenen Wahl laut über die Aussetzung von Teilen der US-Verfassung nachgedacht. Quo vadis Amerika? Die Wahlen im kommenden Jahr werden nicht nur spannend, sondern auch richtungsweisend werden. Werden Leute wie Marjorie Taylor Greene noch stärkeren Einfluss auf die Politik der Republikaner gewinnen? Was wird aus dem Kulturkrieg, der inzwischen ausgebrochen ist? Über diesen Culture War will ich in diesem Beitrag schreiben. Was dabei herauskommt, wird sich auch auf Europa auswirken.

Culture War – Der Kampf um das Denken und Fühlen der Amerikaner

Einige aktuelle Vorbemerkungen

Am Dienstag, den 4.4.2023 nahm im Justizgebäude in New York City ein Verfahren seinen Lauf, das es so in der Geschichte der Vereinigten Staaten noch nie zuvor gegeben hat: Gegen Donald Trump, den früheren Präsidenten der USA, wurde ein Strafverfahren eröffnet; und es mögen noch weitere folgen. Zum Gegenstand des Verfahrens ist zu vermerken, dass es dabei nicht um die Zahlung von Schweigegeld an eine Frau geht – für welche Dienste und Unterlassungen auch immer. Schweigegeldzahlungen sind in den USA nicht strafbar. Es geht vielmehr um die falsche Deklaration und Verschleierung der Zahlungen in den Unterlagen Trumps. Sie wurden als „Anwaltskosten“ bezeichnet, um – nach Auffassung der Anklage – Trumps Chancen bei der Präsidentschaftswahl 2016 nicht zu gefährden. Dadurch wurden Wahlvorschriften des Bundes und des Staates New York verletzt (nytimes.com, 4.4.2023: „We Finally Know the Case Against Trump, and It Is Strong“; Gastbeitrag von Karen Friedman Agnifilo und Norman Eisen).

Peter Baker, ein renommierter Journalist der New York Times, stellte dazu fest, dass mit dieser Anklage gegen Trump in den USA ein neuer Präzedenzfall geschaffen worden sei. Baker nennt dazu eine Reihe grundsätzlicher Fragen wie zum Beispiel: Wird dadurch das Land erneut zerrissen, wie manche nach Watergate befürchtet hatten? Wird das Verfahren von vielen im Land – und darüber hinaus – als Sieger-Justiz gesehen, so wie es in Entwicklungsländern geschieht, wo frühere Führungspersönlichkeiten durch den Nachfolger inhaftiert werden? Oder wird dies ein Moment der Abrechnung sein, ein Zeichen dafür, dass selbst einer der einst mächtigsten Persönlichkeiten der Welt nicht über dem Gesetz steht?

Diese und weitere Fragen werden die Vereinigten Staaten noch lange beschäftigen. Zur amerikanischen Rechtslage ist dabei zu vermerken, dass selbst ein Präsident, der durch das Repräsentantenhaus angeklagt, durch den Senat für schuldig erklärt und aus dem Amt entfernt wurde, nach Artikel I, Abschnitt 3 der Verfassung haften muss, angeklagt und nach dem Gesetz vor Gericht gestellt, verurteilt und bestraft werden kann. Für das nun in New York angelaufene Strafverfahren gegen Trump gibt es somit keine formal-rechtlichen Hindernisse. (nytimes.com, 30.3.2023: „A President Faces Prosecution, and a Democracy Is Tested“; Analyse von Peter Baker).   

… In Fällen von Amtsanklagen lautet der Spruch höchstens auf Entfernung aus dem Amt und Aberkennung der Befähigung, ein Ehrenamt, eine Vertrauensstellung oder ein besoldetes Amt im Dienste der Vereinigten Staaten zu bekleiden oder auszuüben. Der für schuldig Befundene ist des ungeachtet der Anklageerhebung, dem Strafverfahren, der Verurteilung und Strafverbüßung nach Maßgabe der Gesetze ausgesetzt und unterworfen.

Auszug aus Artikel I Abschnitt 3 der Verfassung der USA

Ich will die von Peter Baker aufgeworfenen grundsätzlichen Fragen und Probleme nicht näher untersuchen. Vielmehr im Folgenden eine Verbindungslinie ziehen zu den aktuellen Entwicklungen in der amerikanischen Politik, nicht zuletzt zum bereits angelaufenen Präsidentschaftswahlkampf 2024. Donald Trump hat bereits am 15.11.2022 seine Kandidatur für 2024 angekündigt. Weitere Politikerinnen und Politiker der Republikaner haben dies ebenfalls getan bzw. stehen in den Startlöchern. Noch nicht ausdrücklich erklärt haben sich Trumps früherer Vizepräsident Mike Pence und Ron DeSantis, der Gouverneur von Florida und Hoffnungsträger von Teilen der Republikanischen Partei für die Zeit nach Trump. (Anmerkung: Ron DeSantis hat seine Kandidatur inzwischen am 24.5.2023 angekündigt).

Mit Blick auf das angelaufene Strafverfahren gegen Trump ist bemerkenswert, dass sich führende Republikaner und so gut wie alle Kandidatinnen und Kandidaten – noch ehe der New Yorker Staatsanwalt Alvin Bragg am 4.4.2023 die 34 Anklagepunkte öffentlich gemacht hatte – mit aggressiver Kritik an Bragg hinter Trump versammelt haben. 

Kevin McCarthy, der Speaker of the House sagte, Bragg habe „unserem Land mit seinem Versuch, sich in die Präsidentschaftswahlen einzumischen, irreparablen Schaden zugefügt … Während er routinemäßig gewalttätige Kriminelle freilässt, um die Öffentlichkeit zu terrorisieren, hat er unser heiliges Rechtssystem gegen Präsident Trump instrumentalisiert.“ 

Mike Pence äußerte „Empörung“. Und Pence ist ein Musterbeispiel für den Versuch eines „Sowohl als Auch“ führender Republikaner, wenn es um Trump geht. Als er kürzlich zum möglichen kriminellen Verhalten Trumps im New Yorker Schweigegeldfall interviewt wurde, lenkte er mit einem Angriff auf den dortigen Staatsanwalt von dieser Frage ab: „Die Tatsache, dass der Staatsanwalt von Manhattan die Anklage von Präsident Trump als seine höchste Priorität betrachtet, während in New York City eine Welle der Kriminalität grassiert, zeigt alles, was man über die radikale Linke wissen muss.“  (nytimes.com, 21.3.2023: „Trump Could Stand in the Middle of Fifth Avenue and Not Lose Mike Pence“; Kommentar von Jamelle Bouie). Zu Pence’ Taktik erinnert die Süddeutschen Zeitung: „Dabei hatte die Begeisterung des damaligen Vize-Präsidenten für seinen Ex-Boss erheblich nachgelassen, seit dessen Hooligans damit gedroht hatten, ihn aufzuhängen, weil er statt Trumps Wahllüge Joe Bidens Wahlsieg bestätigen wollte.“

Im gleichen SZ-Bericht wird Ron DeSantisReaktion auf die Anklage Trumps beschrieben: „Die Bewaffnung des Rechtssystems, um eine politische Agenda voranzutreiben“, stelle „die Rechtsstaatlichkeit auf den Kopf.“  Er wolle als Gouverneur von Florida Trump nicht an das Gericht in New York ausliefern, falls sich dieser in Mar-a-Lago in Palm Beach verschanzt, statt dem Gerichtstermin zu folgen. Dazu wird im SZ-Bericht vermerkt, dass dies ein klarer Verstoß gegen die Verfassung der USA wäre.

Grundsätzlich vermerkt Peter Burghardt in der Süddeutschen Zeitung: „Der republikanische Angriff auf eine Justiz, die an mehreren Fronten Trumps Skandalbilanz nach rechtlichen Konsequenzen absucht, geht weiter. Umgekehrt wird die Republikaner-Mehrheit im Repräsentantenhaus jede Gelegenheit nützen, um Biden ins Visier zu nehmen, den Rückzug aus Afghanistan oder die Geschäfte seines Sohnes Hunter. Die Schlammschlacht beginnt gerade erst.“ (sueddeutsche.de, 1.4.2023: „Wie Republikaner auf die Trump-Anklage reagieren“).

Ähnlich kommentiert auch David French in seiner Kolumne in der New York Times: „Mit ihrer apokalyptischen Rhetorik schaffen Trump und seine Verteidiger die Grundlage, bei seinen Unterstützern, die Rechtsstaatlichkeit abzulehnen …“ French überschrieb seinen Kommentar mit der Feststellung: „Der Rechtsstaat hängt von den Republikanern ab“. (nytimes.com, 31.3.2023: „The Rule of Law Now Depends on Republicans“).

In der Tat, die Republikanische Partei und ihre Wählerinnen und Wähler tragen große Verantwortung für den Zustand des Landes und seiner Gesellschaft. Doch die ehrwürdige Partei Abraham Lincolns – G. O. P. – ist eine zerrissene Partei. Im Januar brauchte es 15 Wahlgänge, um Kevin McCarthy zum Speaker of the House zu bestellen, obwohl sie im Repräsentantenhaus eine zwar dünne, jedoch immerhin eine Mehrheit haben.  McCarthy hatte seinen Kritikern und Kontrahenten vom rechten Flügel der G. O. P. gravierende personelle und politische Zugeständnisse machen müssen, um überhaupt gewählt zu werden. Ein Fraktionsmitglied allein reicht aus, um über den Speaker of the House eine Vertrauensabstimmung herbeizuführen. McCarthy hat eine schwache Position. 

Eine besonders schwierige Auseinandersetzung läuft seit Längerem zwischen der G. O. P.-Mehrheit im Repräsentantenhaus, dem Weißen Haus und den Demokraten. Es geht um die Erhöhung der Schulden-Obergrenze des Landes; die Gefahr eines Shut Downs – eines Stillstands des Regierungshandelns – steht im Raum. Die Republikaner verlangen von der Regierung wesentliche Einsparungen im Staatshaushalt im Austausch für ihre Zustimmung zur Erhöhung der Schulden-Obergrenze. Doch es gibt ein Dilemma: Die G. O. P. ist sich nicht einig darüber, wo der Rotstift angesetzt werden soll. Die Zerrissenheit aus der Speaker-Wahl wird erneut sichtbar, sowohl politisch als auch personell.

Eine der Zusagen McCarthys vor seiner Wahl war, keine Erhöhung der Schulden-Obergrenze durchgehen zu lassen, ehe eine Vereinbarung mit der Regierung erreicht wurde, innerhalb von 10 Jahren einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Genauere Berechnungen haben ergeben, dass dieses Ziel innerhalb so kurzer Zeit und ohne eine Steuererhöhung nur zu erreichen ist, wenn die gesamten Ausgaben einschließlich Verteidigung, Versorgung von Veteranen, Sozialversicherung und Medicare, um 26 Prozent beschnitten werden. Nimmt man die genannten vier Schwerpunkte aus, müsste der restliche Haushalt um 85 Prozent abgebaut werden. David Firestone, ein Mitglied des Herausgeber-Gremiums der New York Times, schrieb dazu, dass diese extremen Forderungen so unrealistisch seien, dass sie im Repräsentantenhaus nicht länger ernsthaft diskutiert werden. Die Schulden-Obergrenze dürfte etwa im Sommer dieses Jahres erreicht werden. Intern rechnen manche Demokraten damit, dass es dann ernsthaften Druck von den Finanzmärkten auf die Republikaner geben wird, die Bedrohung in letzter Minute zu beenden. (nytimes.com, 3.4.2023;  David Firestone„Republicans Can’t Agree on a Path Out of Their Own Debt Crisis“).

(Anmerkung: Am 28.5.2023 einigten sich Präsident Joe Biden und Speaker McCarthy auf einen Kompromiss und konnten damit die drohende Zahlungsunfähigkeit der USA abwenden. Dies wäre erstmals in der Geschichte des Landes passiert. Das Repräsentantenhaus muss dem Deal noch zustimmen).

Dazu sind persönliche Spannungen in der Führung der republikanischen Fraktion an die Öffentlichkeit gedrungen. Kevin McCarthy hat offenbar mehreren Mitgliedern gegenüber erklärt, er traue Jodey C. Arrington aus Texas, dem Vorsitzenden des Haushaltsausschusses des Repräsentantenhauses nicht zu, einen für die G. O. P. akzeptablen Vorschlag mit wesentlichen Haushaltskürzungen zu entwickeln. Immerhain ist Arrington in der G. O. P.-Fraktion der zweite Mann hinter dem Speaker. Hinzu kommt ein weiteres „dickes Brett“ für die Republikaner im House: Die Überarbeitung des amerikanischen Einwanderungssystems.

Die New York Times beschreibt die gegenwärtigen Probleme der Führung der Republikaner im House wie folgt: Der neuen und relativ unerfahrenen Führung der House-Republikaner steht ein sehr erfahrener Präsident, eine demokratische Mehrheit im Senat und die drohende Krise um die Schulden-Obergrenze gegenüber. „Die demokratische Führungsriege im Weißen Haus und auf dem Capitol Hill beobachten die Zänkereien der Republikaner mit gewisser Zufriedenheit, denn sie gehen davon aus, dass diese Zwietracht letztlich die Position der G. O. P. in künftigen Haushaltsverhandlungen schwächen wird.“  (nytimes.com, 6.4.2023: „Staring Down a Debt Crisis, McCarthy Toils to Navigate G.O.P Divisions“).

Zurück zu Donald Trump und dem angelaufenen Strafverfahren in New York City. Der nächste Verhandlungstermin ist für den 4.12.2023 festgesetzt, zu einem Zeitpunkt also, zu dem der Wahlkampf 2024 bereits in vollem Gange ist; die Vorwahlen beider Parteien werden voraussichtlich im Januar 2024 beginnen.  Bei aktuellen Umfragen liegt bei den Republikanern Trump gegenwärtig noch vor DeSantis, doch bis Dezember 2023 kann manches passieren, das die Geister innerhalb der G. O. P. weiter scheidet. Das Trump-Problem der Republikaner wurde vor Kurzem in der Süddeutschen Zeitung so beschrieben: „So verschanzen sich zahlreiche Republikaner hinter Trump, wie sie ihn anhimmeln, fürchten oder hoffen, dass sich sein Versuch, das Opfer zu geben, in Stimmen verwandeln lässt. Gegner im Herbst kommenden Jahres ist voraussichtlich erneut Joe Biden, der seine weitere Zukunftsplanung noch für sich behält. Wann und wie auch immer er sich erklärt – gegen Trump, bald 77, gilt der 80-jährige Amtsinhaber als Favorit, aber in knapp 20 Monaten kann allerhand passieren.“ (sueddeutsche.de, 3.4.2023: „Wie die Republikaner auf die Trump-Anklage reagieren“).

Eine vertrackte Situation für die Republikaner, die sich bereits als Kandidaten erklärt haben oder noch erklären werden. Nach der Ankündigung der Anklage Trumps in New York sind sie diesem rasch zur Seite gesprungen. Grund dafür ist nicht zuletzt das Bemühen, die vielen Trump-Anhänger in der Wählerschaft nicht zu verprellen. Doch irgendwann müssen sie ihn als Kontrahent um das Präsidentenamt akzeptieren, entsprechend angreifen und sich bemühen, möglichst viele Trumpisten für sich zu gewinnen. Vielleicht hofft der Eine oder die Andere auf ein unvorhersehbares Ereignis etwa, dass Trump schwächelt und mit seiner Kampagne gravierende Fehler macht. Vielleicht hofft der Eine oder die Andere sogar auf ein Wunder. Gegenwärtig bleibt allen nichts anderes übrig, als Biden und die Demokraten frontal anzugreifen. Trump und alle anderen tun dies ausgiebig – teilweise auch unterhalb der Gürtellinie. Stefan Kornelius beschreibt die Verantwortung der Republikaner in Sachen Trump in einem Kommentar in der Süddeutschen Zeitung: „Zuletzt werden es die Republikaner sein, die sich entscheiden müssen, ob sie die nächste Wahl zu einem nachgelagerten Votum über einen Prozess machen wollen oder doch einen Kandidaten wählen, der in die Zukunft weist. Im Idealfall bleibt die Wählerklientel gespalten und verhilft dem Kandidaten des Demokraten zu einem Wahlsieg.“ (sueddeutsche.de, 5.4.2023: „Der Gigant Trump ist zum Bürger geschrumpft“; Kommentar von Stefan Kornelius).

Jamelle Bouie schreibt in der New York Times, Mike Pence will beides haben … Er will der konservative Held des 6. Januars sein, der dem MAGA-Mob widerstanden und die amerikanische Demokratie verteidigt hat. … doch Mike Pence will auch Präsident werden.“ Und deshalb, so schreibt Bouie, müsse Pence „aus beiden Mundwinkeln reden.“ Doch der einzige Weg für die Republikaner, Trump von der Spitze zu verdrängen sei, sich gegen ihn zu stellen, mit aller Kraft, die sie aufbringen können. „Die Republikaner können den Konflikt nicht vermeiden, wenn sie sich von Trump lösen wollen. Sie haben keine andere Wahl, als in zu verdammen, seinen Einfluss zurückzuweisen und sich weigern, seine kriminellen Handlungen zu verteidigen.“ (nytimes.com, 21.3.2023: „Trump Could Stand in the Middle of Fifth Avenue and Not Lose Mike Pence“; Kommentar von Jamelle Bouie).Doch ernsthafte Anzeichen dafür gibt es gegenwärtig nicht.   

Trump bezeichnete den New Yorker Staatsanwalt Alvin L. Bragg als „handverlesen und finanziert von George Soros“. Auch Ron DeSantis  gebrauchte die Formel des „Soros-Unterstützten“. Bewusst oder unbewusst wird bei solchen Wortspielen an antisemitische Vorurteile appelliert. Der über 90-jährige George SorosJude aus Ungarn, dem Holocaust entkommen, dem Kommunismus entflohen und der Unterstützer von Demokratie-Projekten und liberaler Bildungseinrichtungen weltweit – wurde über die Jahre hinweg zum „großen Drahtzieher“ der Verschwörungstheoretiker hochstilisiert. Er sei der „Mann hinter dem Vorhang“, wenn Finanzkrisen ausbrechen und Flüchtlingswanderungen beginnen. Er soll nicht zuletzt für die moralische Laschheit des Westen verantwortlich sein … Der afro-amerikanische Demokrat Alvin L. Bragg, der im Wahlkampf indirekt von Soros unterstützt worden war, eignet sich besonders gut für die Gedankenspiele der Populisten (nytimes.com, 4.4.2023: „Behind Trump Indictment, the Right Wing Finds a Familiar Villain in Soros“).

Die voraussichtlichen Kontrahenten 2024: Joe Biden – Donald Trump

Präsident Joe Biden hat am 25.4.2023 seine Kandidatur als Kandidat der Demokraten für 2024 angekündigt.  Running Mate wird die jetzige Vizepräsidentin Kamala Harris sein. Offenbar sind Biden und sein Berater-Team zu dem Schluss gekommen, dass nicht Ron DeSantis sondern Donald Trump der Kandidat der Republikaner sein wird. Biden mit 80 gegen DeSantis mit 44 hätte einen Wahlkampf bedeutet, bei dem das Alter alles andere dominiert hätte – zum Nachteil von Biden. Die Altersfrage wird zwar jetzt in den Medien ausführlich diskutiert, dürfte jedoch zu Beginn der intensiven Phase des Wahlkampfes keine große Rolle mehr spielen, die keine Seite daran interessiert sein wird. Donald Trump ist mit 76 Jahren nicht wesentlich jünger als Joe Biden.

Dafür, dass Trump das Rennen bei den Republikanern machen wird, sprechen seine Umfragezahlen für die Vorwahlen seiner Partei, die ihn seit längerem stabil vorne sehen. Die Süddeutsche Zeitung zitiert eine Prognose des Wall Street Journal vom 21.4.2023: Trump führt mit 48 Prozentpunkten bei den republikanischen Wählerinnen und Wählern; DeSantis kommt lediglich auf 24 Prozent. Andere Bewerberinnen und Bewerber – darunter auch Mike Pence, der frühere Vizepräsident unter Trump werden unter „ferner liefen“ registriert. 

Maggie Haberman, die langjährige Trump-Beobachterin bei der New York Times nennt zum Rennen Trump ./. DeSantis einen interessanten Aspekt, der für Trump von Vorteil ist: Trump hat in weiten Teilen der Republikanischen Partei und vor allem in deren Wählerschaft so etwas wie eine psychologischen Vorteil. Er wird offenbar mit anderen Maßstäben gemessen, als DeSantis und andere Bewerber um die Kandidatur.  Haberman zitiert Liam Donovan, einen Strategie-Experten der Republikaner mit der Feststellung: „Die Wählerinnen und Wähler beurteilen Trump anders, machen Ausnahmen im Blick auf seine Aussagen und sein Verhalten – bewusst oder unbewusst.“ Im Gegensatz dazu wird DeSantis, der frühere Kongressabgeordnete und jetzige Gouverneur an den Standards für den typischen Politiker gemessen, genau so wie all jene, die 2016 ohne Erfolg versuchten, Trump in den Vorwahlen aufzuhalten. Rob Stutzman von der Public Affairs Agency in Sacramento, CA empfiehlt DeSantis, seine bisherige Taktik im Umgang mit Trump zu ändern: „Nur Trump kann die Trump-Kurve fahren.“ DeSantis habe bisher versucht, Trump „auszutrumpen“ ohne dabei begriffen zu haben, dass er dabei für eine recht konventionelle Kurve beurteilt wird. (nytimes.com, 22.4.2023: Maggie Haberman:„DeSantis Faces Republican Scrutiny on Issues While Trump Skates By”).

Ein taktischer Fehler mag auch gewesen sein, dass DeSantis, genau wie die anderen möglichen Kandidatinnen und Kandidaten, sich nach der Anklageerhebung gegen Trump sofort hinter diesen gestellt haben. Dies macht sie abhängig und kostet vor allem Zeit, denn irgend wann müssen sie Trump als ihren Kontrahenten angreifen. Aber wann ist der richtige Zeitpunkt? Sie haben sich selbst die Hände gebunden. 

Alles in allem scheint das Risiko, das Biden eingegangen ist als er mit 80 Jahren nochmals seine Kandidatur erklärte, zwar vorhanden aber kalkulierbar zu sein. Thomas Spang, der USA-Korrespondent der Heilbronner Stimme schrieb dazu: „Der älteste Präsidentschaftsbewerber in der Geschichte setzt darauf, dass die Amerikaner eher das Risiko seine fortschreitenden Lebensalters in Kauf nehmen als das einer Rückkehr Donald Trumps an die Macht“ (Heilbronner Stimme, 26.4.2023: „Bidens Wette“; Kommentar von Thomas Spang).

Einen wichtigen Gesichtspunkt spricht Christian Zaschke, der Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in New York an, nämlich die Rolle der Vizepräsidentin Kamala Harris für den Fall, dass Biden in eine zweite Amtszeit gewählt wird. Sie wird dann nicht mehr im Hintergrund bleiben können, wie sie es bisher überwiegend tat und wie es bei Vizepräsidenten üblich ist. „In einer möglichen zweiten Amtszeit aber könnte sie mit einer alten Regel brechen.“ (sueddeutsche.de, 25.4.2023: „Die schwierig Rolle der Kamala Harris“).

Ich will die Anmerkungen zur aktuellen politischen Situation in den USA damit abschließen und mich dem eigentlichen Schwerpunkt dieses Papiers zuwenden, dem Wahlkampfthema „Culture War“   

Culture War – Der Kampf um das Denken und Fühlen der Amerikaner

Culture War – das klingt so ähnlich wie der Kulturkampf in Preußen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bei beiden Auseinandersetzungen ging und geht es um politische Macht. Doch es gibt Unterschiede zwischen dem gegenwärtigen Culture War in den Vereinigten Staaten und dem Kulturkampf in Preußen, der dort ab 1871 eskalierte. In Preußen wollte Bismarck die Macht der Katholischen Kirche im Staat brechen. „Politisch ging es in Deutschland in erster Linie um die Lösung des Staates von der Katholischen Kirche in ihrer rechtlichen und politischen Dimension sowie um den Einfluss der organisierten katholischen Minderheit“, heißt es dazu bei Wikipedia“. „Beim Kulturkampf prallten die Vertreter zweier konkurrierender Weltanschauungen – konservativ und liberal – aufeinander. Von staatlicher Seite strebte man die Durchsetzung einer liberalen Politik, die eine Trennung von Kirche und Staat beabsichtigte und sich in Preußen für die Einführung der Zivilehe einsetzte.“

Der Historiker Golo Mann vermerkte in seinem geistvollen Werk „Deutsche Geschichte des XIX. Jahrhunderts“ zum Preußischen Kulturkampf, man könne über den berühmten Streit heute nur die Achseln zucken. Allerdings würdigt Golo Mann Teile der so genannten Kulturkampfgesetze, zum Beispiel die obligatorische Zivilehe: „Es hatte diese Gesetzgebung ihren Sinn, insoweit sie eine Grenzlinie zwischen Staat und Kirche zu ziehen versuchte.“ Mann bezeichnete jedoch die Kulturkampfgesetze als „täppisch“, soweit sie zu kontrollieren versuchten, was Sache der Kirche war: Den Bildungsgang der Geistlichen, die Ernennung der Pfarrer, die kirchliche Disziplinargewalt; und davon sei fast gar nichts übrig geblieben.

Bemerkenswert ist Golo Manns Fazit zum Ende des Kulturkampfes, an dem auch der Papst kräftig mitwirkte:  „Wenn der Streit zwischen Staaten meistens Unfug ist und, wenn die Partner des Spieles nur wollten, ebenso gut abgebrochen werden könnte, so mag dasselbe wohl auch gelten, wo geistige Mächte miteinander ringen. Denn Geist kämpft nicht mit Geist. Er ist das Positive. Was miteinander kämpft, das sind Menschen, und da geht es dann freilich menschlicher her.“ (Golo Mann„Deutsche Geschichte des XIX. Jahrhunderts“;  Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main 1958; Seite 437 ff).

„Geist kämpft nicht mit Geist“ – eine vorzügliche Überleitung zum aktuellen Culture War in den Vereinigten Staaten. Ganz anders und man könnte sagen, in genau umgekehrter Richtung verläuft die Kampflinie dieses „Krieges“ in Amerika. Dort sind die Konservativen angetreten, den Einfluss der Liberalen und deren Vorstellungen über die Rechte von Minderheiten in Staat und Gesellschaft zurückzudrängen. Sie kämpfen gegen alles, was ihnen woke erscheint: modern, tolerant, divers, links, sozialistisch oder gar kommunistisch.  Das „Heute“ soll erhalten bleiben, wenn möglich aber eine Rückkehr zum „Gestern“ gelingen.

Wikipedia verweist zur Bedeutung des Begriffes woke auf die Definition bei Duden: „In hohem Maß politisch engagiert gegen (insbesondere rassistische, sexistische, soziale) Diskriminierung“. Für Konservative und Rechte in den USA sind diese Begriffe verdächtig und abzulehnen und der Begriff woke wird von ihnen nicht positiv sondern negativ und sarkastisch besetzt. Ron DeSantis, der Gouverneur von Florida und Hoffnungsträger für Teile der Republikaner, hat sich an die Spitze der Culture Warrior gestellt und die Marschrichtung vorgegeben: „Florida is where woke goes to die!“ — Frei übersetzt: „Florida wird woke zur Strecke bringen!“ 

Woke ist ein schwammiger Begriff. Die konservative Autorin Bethany Mandel wurde vor kurzem bei einer Buchvorstellung gebeten, den Begriff zu definieren und sie kam ins stottern. Der konservative NYT-Kolumnist Ross Douthat stellte die Frage, ob es überhaupt weiter helfe woke zu definieren oder ob es nicht lediglich ein abschätziges Wort der Rechtsgerichteten sei (nytimes.com, 18.3.2023; Ross Douthat„What It Means to Be Woke?“). In der aktuellen politischen Auseinandersetzung ist woke zum negativen Stempel für Leute geworden, die nicht rechts-konservativ sind. Daraus lässt sich ein hoch emotionaler Wahlkampf machen, dessen gesellschaftspolitische Dimension am Ende aber niemand so recht versteht. Mit Blick auf die preußischen Kulturkampf-Erfahrungen von vor 150 Jahren lässt sich nur schwer begreifen, warum die Amerikaner meinen, jetzt einen Culture War führen zu müssen.

Die Culture Warrior – allen voran Ron DeSantis – gehen dabei diffizil, ja geradezu perfide vor: Sie wollen das Bildungssystem nach ihren Denkvorstellungen so umgestalten – gewissermaßen reinigen, dass in Schulen und Colleges nur noch das gelehrt und gelernt wird, was dem traditionellen „American Way of Life“ entspricht. In Preußen ging es um die Strukturen von Staat und Gesellschaft. In den USA geht es nun um die Köpfe, die Einstellungen und die Gefühle der kommenden Generationen. In beiden Fällen ging bzw. geht es um Macht und Kontrolle der Menschen, jedoch jeweils auf einer ganz anderen Ebene. Charles M. Blow, ein Kolumnist der New York Times, bezeichnete die Auseinandersetzung mit den rechten Zensoren als die „Schlacht des Jahrhunderts.“ Dies klingt recht dramatisch, zeigt jedoch, dass der Culture War ein langer Prozess sein wird – falls die Culture Warriors nicht durch die Wählerinnen und Wähler des Feldes verwiesen  werden. Blow zitiert Chris Rufo, einen der Strategen der Rechten Amerikas, der auf Twitter verkündet hatte:  „Die Konservativen müssen nun den Kampf verlagern von der Ideologie zur Bürokratie.“ (Will wohl heißen, dass es darum geht, Gesetze, Rechtsgrundlagen, Vorschriften zu beschließen, dass die Bürokratie „handeln“ kann). „Wir haben die Debatte um die Critical Race Theory (C. R. T.) gewonnen;  jetzt ist es an der Zeit, D. E. I. auseinander zunehmen.“  D. E. I. steht für Diversity, Equity, Inclusion – Vielfalt, Gerechtigkeit und die Einbindung aller in die Gesellschaft – ein Ziel der liberalen und fortschrittlichen Kräfte in der amerikanischen Politik, nicht zuletzt der großen Mehrheit der Demokraten. Hierbei geht es nicht nur um materielle Umverteilung sondern auch um die Einräumung von Rechten und um rechtliche Gleichstellung. Solche Entwicklungen will die amerikanische Rechte nicht erst seit heute verhindern oder zumindest verlangsamen:  „Sie begannen zunächst mit der Critical Race Theory, dann ging es gegen die L. G. B. T. Q.-Community und nun nehmen sie alle Bereiche der Black Studies aufs Korn. Es wird nicht mehr lange dauern, und sie werden alle ethnischen Studienfächer einbeziehen, und es wird weitergehen damit, dass sie Diversity, Equity und Inclusion in den Privatbetrieben angreifen, befürchtet Kimberlé Crenshaw, eine Professorin an der University of California (U. C. L. A.) und an der Columbia University. (Darüber, dass diese Befürchtungen begründet sind und was in Florida in dieser Richtung bereits getan wird, soll noch die Rede sein. Allerdings halte ich die Aussage von Chris Rufo, die Rechten hätten die Debatte um die Critical Race Theory bereits gewonnen, für voreilig).

Charles Blow beschreibt in komplizierter Formulierung den strategischen Plan der Neuen Rechten. Dieser zielt darauf ab, mit aller Macht für die Wiederherstellung und Stärkung von Strukturen zu kämpfen, die gesteuert werden von Kräften weißer Überlegenheit, patriarchalisch und heterosexuell organisiert sind und in denen das Geburtsgeschlecht dem aktuellen Geschlecht entspricht. Er zitiert die nicht minder komplizierte Formulierung von Kimberlé Crenshaw: „Diese eine Sache wird ihnen nicht genügen. Sie ist lediglich ein Scharmützel in einer größeren und breiteren Schlacht mit dem Ziel, Rassismus zum Unwort zu machen und letztlich die Stärke schwarzer Menschen, schwuler Menschen, Frauen und schließlich von Jedermann zu zügeln, der oder die der Vorstellung der MAGA-Truppe nicht zustimmt, die das Land zurückerobern will.“  (nytimes.com, 22.2.2023; Charles M. Blow: „America, Right-Wing Consors, and the ‚Battle for the Next Century’“).   

Angesichts dieser komplizierten Formulierung wird deutlich, dass sich die U. C. L. A.-Professorin Kimberlé Crenshaw bereits lange Zeit intensiv mit der Situation von Afro-Amerikanern und anderer Minderheiten in Amerika beschäftigt hat. Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen war der noch weit verbreitete Rassismus.  Daraus entwickelte sie die Critical Race Theory, die im Grunde davon ausgeht, dass Rassismus in Amerika kein psychologisches Problem ist, nicht in den Köpfen einzelner Leute verwurzelt ist sondern ein Problem, das sich tief in die gesellschaftlichen Strukturen und ihre Institutionen eingenistet hat. Daher beschäftigen sich die Vertreterinnen und Vertreter der Critical Race Theory mit vielen Bereichen des amerikanischen Systems und üben zum Teil heftige Kritik an den Auswüchsen des Rassismus – noch der Ermordung von George Floyd im Jahr 2020 in Minneapolis, MN auch an der Polizei, am Militär und an der öffentlichen Verwaltung. Dies macht die Critical Race Theory nicht nur zum Objekt wissenschaftlicher Diskussion sondern bei den Rechten in den USA zur Zielscheibe heftiger Ablehnung bis hin zum Objekt des Hasses, denn sie verneinen die strukturellen Ursachen des Rassismus und lehnen daher die Forderungen nach grundsätzlichem Change in der Gesellschaft vehement ab. Der republikanische Kongressabgeordnete Chip Roy aus Texas hat bereits vor zwei Jahren einen Gesetzesentwurf eingebracht, durch den im Verteidigungsministerium der Beauftragte für Vielfalt und Inclusion abgeschafft werden soll.   

Kimberlé Cranshaw beschreibt diese Auseinandersetzungen als „die Schlacht des nächsten Jahrhunderts.“  (nytimes.com, 22.2.2023; Charles Blow„America, Right-Wing Censors, and the ‚Battle fort he Next Century’“).

Zwischenkapitel:  Die „Critical Race Theory“

Zitate und Erläuterungen aus dem Bericht der New York Times vom 8.11.2021; Jacey Fortin„Critical Race Theory: A Brief History“. How a complicated and expansive academic theory developed during the 1980s has become a hot-button political issue 40 years later.

“Etwa vor einem Jahr (dieser Bericht hat das Datum 8.11.2021), obwohl die Vereinigten Staaten bereits von Protesten gegen Rassismus erfasst waren, hatten viele Amerikaner den Begriff „Critical Race Theory“ noch nie gehört. 

Doch nun taucht dieser Begriff überall auf. Er macht nationale und internationale Schlagzeilen und ist Zielscheibe in Talkshows geworden.  Kulturkämpfe über die Critical Race Theory hat Schulausschüsse in Schlachtfelder verwandelt und im Bereich der höheren Bildung wurde der Begriff in etlichen Schlachten durcheinander gebracht. „Dutzende Senatorinnen und Senatoren haben ihn als „Indoktrination durch Aktivisten“ gebrandmarkt.

Doch die C. R. T. – eine Abkürzung, die oft verwendet wird – ist nicht neu.  Es handelt sich um ein akademisches Rahmenwerk für die Hochschul-Ebene, das seit Jahrzehnten den Inhalt der wissenschaftlichen Ausbildung beschreibt – gerade deshalb ist es so schwierig, eine zufrieden stellende Antwort auf die Frage zu finden: Was genau ist die Critical Race Theory?“

Weitgehende Übereinstimmung besteht, dass der Begriff von Kimberlé Wiilliams Crenshaw, einer Rechtswissenschaftlerin an der U. C. L. A. und an der Columbia University, geprägt wurde. Erste Anfänge dieses Denk- und Forschungsansatzes gab es bereits 1980 an der Havard Law School, als Prof. Derrick Bell — er wird als Pate der C. R. T. bezeichnet – zu der Überzeugung kam, dass der Rassismus in vielen Bereichen der amerikanischen Gesellschaft tief verwurzelt, also ein strukturelles Problem ist. Prof. Bell und seine Studierenden protestierten 1983 gegen den Mangel an Diversität (Vielfalt) im Lehrkörper von Havard Law: An der Schule gab es 60 rechtswissenschaftliche Professuren: Nur eine davon war mit einer Frau besetzt und nur eine war „schwarz“. Bereits damals wurde die engen Grenzlinien für das Lehr- und Studienfeldes der Rechtswissenschaften erkannt. Dessen Neutralität wurde hinterfragt und es wurde versucht, das Feld auszuweiten und vor allem zu untersuchen, wie die vorhandenen Rechtsvorschriften die rassistischen Hierarchien stützten. Dazu Prof. Crenshaw: Es war unsere Aufgabe zu untersuchen, was in den Institutionen gelehrt wurde und diesen dabei zu helfen, sich in wirklich gleichberechtigte Körper zu verwandeln.“

Bereits vor 40 Jahren hatten Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftler also damit begonnen, Teile ihre Lehrfeldes kritisch zu untersuchen und zu verändern. Es galt, die vielfältigen Ursachen des Rassismus in den Vereinigten Staaten zu erkennen und Abhilfe zu schaffen. Daraus entstand letztlich die Critical Race Theory. Die strukturellen Ursachen des Rassismus traten in Forschung und Lehre in den Vordergrund. Wer jedoch Strukturen verändern will, gerät früher oder später in Auseinandersetzungen mit der Politik.   

Prof. Mari Matsuda von der University of Hawaii vergleicht die Auseinandersetzungen um die C. R. T. mit den Debatten um die globale Erderwärmung: „Wir haben ein ernstes Problem, das große strukturelle Veränderungen notwendig macht, andernfalls verdammen wir künftige Generationen in eine Katastrophe.  Unsere Unfähigkeit, in Strukturen zu denken, im Bewusstsein der Sorge füreinander, wird uns zum Verhängnis – sei es beim Problem des Rassismus, der Klimakatastrophe oder des Friedens auf der Welt.“

Was aber macht das wissenschaftliche Feld der Critical Race Theory seit einigen Jahren zum Schlachtfeld der Culture Warrior, allen voraus der Gouverneur von Florida und die dortige politische Führung? Prof. Kimberlé Crenshaw stellt dazu fest, dass die konservative Rechte in den Vereinigten Staaten die C. R. T. nicht als ein Feld der Wissenschaft akzeptiert sondern als ein subversives System von Ideen bezeichnet, weil sie ihre Interessen in Gefahr sieht. Die Forderung nach strukturellen Veränderungen führt früher oder später zu politischen Auseinandersetzungen und am Ende auch zur Veränderung politischer und gesellschaftlicher Machtstrukturen. Eben weil der Rassismus in Amerika so tiefe Wurzeln hat, arbeiten konservative Kräfte mit unterschiedlichen Mitteln gegen solchen Veränderungen; etwa durch die Veränderung von Wahlvorschriften oder die Schließung von Wohllokalen in „schwarzen“ Wohngebieten, um den Betroffenen des Rassismus das Wählen zu erschweren. Die Einflussnahme auf Lehr- und Lerninhalte in Schulen, Colleges und Universitäten ist ein weiteres Mittel, die kritische Betrachtung der Gesellschaft gewissermaßen bereits im Keim zu unterbinden. 

Gouverneur Ron DeSantis sagte über die C. R. T.-Wissenschaftler: „Die „Woke-Klasse“ will unsere Kinder lehren, sich gegenseitig zu hassen anstatt ihren das Lesen beizubringen.“ Er bezeichnete die Critical Race Theory als „staatlich sanktionierten Rassismus“. Die Behandlung und Anwendung der Critical Race Theory wurde von der Staatlichen Erziehungskommission in Florida verboten. Crenshaw hält dem entgegen, in Florida wende man eine uralte Taktik an: Man behauptet einfach, das Eingeständnis, dass es Rassismus gibt, sei ebenfalls rassistisch.

Es fällt aus europäischer oder deutscher Sicht schwer, die Heftigkeit des in USA tobenden Culture War um Lehr- und Lerninhalte in Bildungseinrichtungen zu verstehen. Ein Teil der Bevölkerung hat noch immer Probleme, zu akzeptieren, dass die Zeit der Sklaverei ein sehr dunkles Kapitel der amerikanischen Geschichte ist. Totschweigen, schön färben, aufarbeiten oder die Folgeschäden ausgleichen? Die Verfechter der Critical Race Theory haben einen empfindlichen Nerv mancher Amerikaner getroffen. Dass auch Europäer an der Geschichte der Sklaverei in Amerika mitgeschrieben haben, sei der Vollständigkeit halber hier erwähnt.

Über verschiedene Details des Culture Wars in Florida werde ich an anderer Stelle berichten.     

Wie wird die Zukunft der Vereinigten Staaten aussehen?

Der vor diesem Zwischenkapitel zitierte NYT-Journalist Charles M. Blow zeichnet ein düsteres Zukunftsbild seines Landes. Düster nicht in den Bereichen materieller Güter und Dienstleistungen sondern vor allem düster, wenn es um offenes und freies Denken und um die Entfaltungsmöglichkeiten der Menschen geht.  Minderheiten haben in Blows Zukunftsbild keine guten Karten. Verhalten sie sich nicht ruhig und bedeckt, werden sie mit Druck ruhig gestellt.

Thomas Jäger, Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln verweist auf einen sonderbaren Widerspruch in der amerikanischen Innenpolitik und dieser dürfte nicht nur für Amerika gelten. Jäger spricht die sehr ungleiche Verteilung von Reichtum (und Armut) in Amerika an: Eigentlich müsste in der amerikanischen Demokratie die Mehrheit von den wirtschaftlichen Entwicklungen profitieren, weil sie die politischen Entscheider wählen und auch abwählen können. Doch warum fällt tatsächlich nur ganz wenigen der Löwenanteil des wirtschaftlichen Erfolgs zu? Jäger sieht den Grund dafür in der Tatsache, dass mit der Zeit Identitätsfragen in den Vordergrund der gesellschaftlichen und politischen Diskussion geschoben wurden, auf die es keine einheitlichen Antworten mehr gibt. „Wer sind wir? Was macht die USA aus? Warum sind die USA einzigartig? Darauf gab und gibt es – was nicht verwunderlich ist – ganz unterschiedliche Antworten. Diese Antworten fielen jedoch seit den sechziger Jahren derart auseinander, dass sie sich gegenseitig ausschlossen“ (Thomas Jäger„Das Ende des amerikanischen Zeitalters“;  Sonderausgabe der Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn (2020; Seite 60/61).

Thomas Jäger nennt beispielhaft verschiedene unüberbrückbar gewordene Schlachtfelder des Kulturkampfes:

  • Während auf der linken Seite gefordert wurde, sexuelle Freiheit und Differenzierung der Geschlechteridentität gesetzlich zu garantieren, erklärte die rechte Seite, dass es nur zwei Geschlechter gebe und die Abstinenz die beste Verhütungsmethode sei.
  • Während auf der Linken gefordert wurde, dass drastische Maßnahmen gegen den Klimawandel unternommen werden sollten, um seine Wirkungen abzufedern, bestritten die Rechten, dass menschliches Handeln mit dem Klimawandel irgendetwas zu tun habe; ja sie leugneten den Klimawandel selbst.
  • Während auf der linken Seite eine Beschränkung der Waffenkäufe gefordert wurde und manche sogar das 2. Amendment, das den privaten Waffenbesitz garantiert, abschaffen wollten, sah die rechte Seite das Ende aller Freiheit und Sicherheit und damit einen wesentlichen Teil ihrer Sicherheit gefährdet.
  • Während die politische Linke die Evolutionstheorie von Charles Darwin als wissenschaftlich erwiesen in der Schule unterrichtet sehen wollte (und auch noch für ein Unterrichtsfach „Sexualkunde“ eintrat), lehnte die politische Rechte dies grundsätzlich ab und forderte, die Erschaffung der Welt durch Gott (Kreationismus) zu lehren.

„Und so weiter und so fort“, schreibt Jäger und deutet damit an, dass es in der amerikanischen Gesellschaft noch weitere Grundannahmen gibt, die die beiden Seiten nicht als „selbstverständlich“ und „geklärt“ akzeptieren wollen, sondern glauben, diese müssten politisch entschieden werden.

„In allen Themen gab es nur schwarz oder weiß, es gab keine Schnittmenge, auf die man sich einigen konnte, weil beide Seiten völlig überzeugt sind, im Besitz der Wahrheit zu sein. Es gab bzw. gibt keine Diskussion mehr, sondern nur noch Hass aufeinander, weil jede Seite der anderen Seit vorwarf, das Land zerstören zu wollen.“ 

In der amerikanischen Geschichte, vermerkt Jäger in seiner Ausarbeitung, seien immer wieder Kulturkriege entlang unterschiedlicher Fronten geführt worden. „In den früheren Jahrhunderten entlang religiöser Linien – vor allem im strikten Anti-Katholizismus – und heute entlang weltanschaulicher Fronten, an denen sich die Kulturkonservativen und die Kulturfortschrittlichen in einem Kampf um die herrschende Moral bekriegen.  Diese Auseinandersetzung wurde schon lange bevor die Echokammern den Widerhall der Positionen in der Öffentlichkeit verstärkten, als nicht lösbar angesehen, als Prozess, der den gesellschaftlichen Zusammenhalt zerstört … (Thomas Jäger„Das Ende des amerikanischen Zeitalters“  a. a. O. Seite 66).

Auch im aktuellen Culture War geht es um Fragen der Moral, um das, was Amerika ausmacht und um das „Unamerikanische“, das mit aller Macht zu bekämpfen ist. Wie sahen die Gründerväter das Land und vor allem wie nicht? Es geht um die „richtige“ und die „falsche“ Interpretation der amerikanischen Geschichte.  Wie kommen wir zurück zu den Wurzeln unserer Mission als auserwähltes Land? Wer ist ein echter amerikanischer Patriot und wer nicht? Fragen über Fragen, auf die es keine eindeutigen Antworten gibt, überhaupt nicht geben kann. Wer seine Vorstellungen laut und schrill genug verkündet, hat das Ohr der Öffentlichkeit.   

Die klaren Aussagen von Prof. Thomas Jäger, insbesondere die Gegenüberstellung der zwischen Rechten und Linken in den USA unüberbrückbar gewordenen Schlachtfelder des Culture War, haben mich sehr beeindruckt und einige Denkanstöße befördert. Ich halte Jägers Aussagen vor allem deshalb für wichtig, weil sie zeigen, dass selbst in einem demokratisch verfassten Staat nicht alles zwischenmenschliche Sein, Tun und Unterlassen durch schriftliche Normen, Wahlen und Abstimmungen zu ordnen ist. Eine Gesellschaft kann zwar Regeln festlegen über die individuellen Rechte und Pflichten der Bürgerinnen und Bürger und auch über ihre Rechte und Pflichten gegenüber den Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Doch man kann nicht anordnen, was die Menschen denken und glauben dürfen und was nicht. Eine demokratisch verfasste Gesellschaft lebt nicht zuletzt von einer Reihe ungeschriebener Regeln des zwischenmenschlichen Respekts und gegenseitiger Toleranz. Diese ungeschriebenen Regeln können nur wirksam sein, wenn sie als selbstverständlich akzeptiert werden. Will man ihre Akzeptanz erzwingen, wird man das Gegenteil erreichen.

Wie bereits am Anfang dieser Betrachtung erwähnt, hat die republikanische Kongressabgeordnete Marjorie Taylor Greene aus Georgia – sie ist inzwischen in die Führungsriege der republikanischen House-Fraktion aufgestiegen – vor kurzem auf Twitter die Vorstellung einer „Scheidung der Nation“ in „rote“ und „blaue“ Bundesstaaten öffentlich gemacht. Eine Aufteilung der Vereinigten Staaten also, in der die Bundesstaaten mit unterschiedlicher Wirtschafts- und Verfassungsstruktur nur noch dem Namen nach unter dem Dach der Union zusammenleben. (nytimes.com, 5.3.2023; David FrenchTake Threats of ‚National Divorce’ Seriously“). 

Zwar ist Taylor Greene keine kompetente und ernstzunehmende Verfassungsrechtlerin, doch sie gehört zu den „Lauten“ im Land und dies macht sie gefährlich. Aus dem Vorschlag von Taylor Greene spricht meines Erachtens zu gleichen Teilen Trotz und Resignation. Die extremen Rechten der G. O. P., zu denen Taylor Greene zu rechnen ist, haben sich in eine politische Ecke manövriert, aus der es keinen vernünftigen Ausweg mehr zu geben scheint. Taylor Greene und andere scheinen bereit zu sein, das Land zu teilen und damit aus der Weltpolitik abzumelden, weil sie die eigene Ideologie nicht hinterfragen können oder wollen.

Wie schwer eingrenzbar die Themen des Culture War sind, und welche Auswirkungen diese Auseinandersetzungen auf das politische Leben in den USA haben, beschrieb Thomas B. Edsall folgendermaßen in der New York Times: „Die republikanischen Führungskräfte greifen mehr und mehr zu autokratischen Maßnahmen und benutzen die Kontrollmacht des Regierens um moralisch begründete Vorschriften durchzusetzen, indem sie private Bürgerinnen und Bürger zu Kontrolleuren machen und gewählte Demokraten ausschließen, die Widerstand leisten, während die Republikaner auf der County-Ebene – vor allem in den westlichen Bundesstaaten – Mitglieder von Milizen, Christliche Nationalisten und QAnon-Anhänger in Schlüsselpositionen wählen.“ (nytimes.com, 12.4.2023; Thomas B. Edsall„The Republican Strategists Who Have Carefully Planned All of This“).

Eine vertrackte Situation für ein Land, das vor großen Zukunftsherausforderungen steht – nicht zuletzt durch den Klimawandel – die nur durch weltweite Zusammenarbeit zu lösen sind. Doch die politischen Kontrahenten scheinen gegenwärtig nicht in der Lage zu sein, sich auf die Grundlagen ihres Landes zu einigen. Der Streit um die Frage „Wer sind wir und wer wollen wir sein?“ wird unerbittlich geführt. Doch welchen Sinn macht es, den Culture War zu gewinnen – falls dies überhaupt möglich ist? Die stärkste Wirtschafts- und Militärmacht der Welt leistet sich eine nahezu gnadenlose Auseinandersetzung über die historische Darstellung und die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Sklaverei in Amerika. Auch um die Frage, ob in Kindergärten und Schulen über die Geschlechtlichkeit der Menschen gesprochen oder gar gelehrt werden darf. Oder darüber, welche Bücher in Schülerbüchereien stehen dürfen und welche nicht.  Und auch darüber, ob transsexuelle Mädchen und Frauen in Sportgruppen für Frauen mitmachen dürfen oder nicht. In North Dakota trat am 11.3.2023 ein Gesetz in Kraft, das Trans-Mädchen und Frauen aus allen entsprechenden Sportgruppen und Mannschaften ausschließt – und zwar durchgängig vom Kindergarten bis zum College. Um solche Regelungen zu verhindern, plant die Bundesregierung ein Gesetz, das solche Ausschlüsse zwar in Schulen erlaubt, jedoch eine umfassendes „Durch-die-Bank-Verbot“ ausschließt.  Gerichtliche Auseinandersetzungen sind vorprogrammiert (nytimes.com, 12.4.2023: „North Dakota Bars Trans Girls and Women From Female Sports Teams“). Doch die Legislative in North Dakota legt noch einen drauf: Dort werden inzwischen ein halbes Dutzend weiterer Trans- und Gender-Gesetze beraten. Zum beschlossenen Ausschluss von Trans-Mädchen und Frauen erklärte der republikanische Gouverneur Doug Burgum am Rande seiner Unterschrift unter die beiden Gesetze, ihm sei kein Fall bekannt, dass ein Trans-Mädchen in einer Frauenmannschaft habe mitmachen wollen. Doch die Gesetzesmaschine läuft – im Zweifel für die eigenen Anhänger. Im Zweifel geht es nicht in erster Linie um Fairness im Sport als um die Ausgrenzung von Menschen, die es nicht geben darf, weil sie nicht in das Weltbild mancher Politikerinnen und Politiker passen wollen. 

In diesen Tagen ist es spannend und schwierig zugleich, über das Culture War-Hin und Her bei den Republikanern zu schreiben. Man wähnt sich in einer Situation wie im Märchen vom Hasen und dem Igel:  Kaum ist ein Thema „abgearbeitet“, taucht schon wieder ein anderes in den Schlagzeilen auf. So wollte wohl Kevin McCarthy mit seiner hauchdünnen Mehrheit im Repräsentantenhaus hinter den L. G. B. T. Q-Bekämpfern in den Einzelstaaten nicht zurückstehen. Am 20.4.2023 hat das House ein Gesetz beschlossen, das Transgender Frauen und Mädchen verbietet, an Wettkämpfen von Sportlerinnen teilzunehmen. Bereits vor einem Monat hatte das House eine Regelung beschlossen, durch die Schulen verpflichtet werden, ihre Bücherei-Kataloge und ihre Lehrpläne zu veröffentlichen und die Zustimmung der Eltern einzuholen, falls Schülerinnen und Schüler im Name etwaige Zusätze (Pronomen) verändern, die sich auf das Geschlecht beziehen (Meine Anmerkung: Was für eine ungeheuer wichtige Aufgabe für das Repräsentantenhaus der USA).

Die Abstimmung über das Gesetz. Das regelt wer in weiblichen Mannschaften Sport treiben darf und wer nicht, verlief entlang der Parteilinie: 219 Republikaner dafür – 202 Demokraten dagegen. Dies war der jüngste Versuch der House-Republikaner, ein gewichtiges soziales Thema aufzugreifen, das ihre Basis bewegt und das die republikanischen Gesetzesmacher auf Ebene der Bundesstaaten stark beschäftigt. „Wir stehen in einem Kampf um das Überleben des Frauensports“, sagte der republikanische Abgeordnete Aaron Bean aus Florida in der Debatte. Die Demokraten bezeichneten das Gesetz als den „Hass erfüllten“ und „heimtückischen“ Teil eines „radikalen“ Programms für Erziehung, das die Republikaner in den ersten Monaten ihre Mehrheit im House vorantreiben. „Das Gesetz hat keine Chance, den von den Demokraten kontrollierten Senat zu passieren oder von Präsident Biden unterschrieben zu werden“, vermerkt die New York Times (nytimes.com, 20.4.2023: „House Passes Bill to Bar Transgender Athletes From Female Sports Teams“).

Und der Hase und Igel-Wettlauf geht weiter: Als erster Bundesstaat hat Missouri vor kurzem ein Gesetz verabschiedet, durch das die Beratung und medizinische Behandlung für Transgender Menschen (Gender Care) jeden Alters stark eingeschränkt wird. In wenigstens fünf Bundesstaaten haben die Republikaner Gesetze eingebracht, die Gender Care für Minderjährige und junge Erwachsene abschaffen. Teilweise soll die für alle unter 21 und teilweise für Menschen unter 26 Jahren verboten werden (nytimes.com, 22.4.2023:  „Many States Are Trying to Restrict Gender Treatments for Adults, Too“).              

Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehe ziehen nicht mehr – Neue Themen müssen her!

Nach vielen Jahren heftiger Auseinandersetzungen haben die Abtreibungsgegner einen Etappenerfolg erreicht. Am 24.6.2022 hob die durch Trumps Ernennungen zustande gekommene konservative Mehrheit der Richter des Supreme Courts die Grundsatzentscheidung Roe vs. Wade von 1973 auf – über Nacht gab es in Amerika keine Rechtsgrundlage mehr, die die Frauen den Abbruch einer Schwangerschaft ermöglichte, es sei denn, es gab eine rechtliche Absicherung auf der Ebene der einzelnen Bundesstaaten. In deren Regelungskompetenz hatte der Supreme Court das Thema Abtreibung nun verwiesen. 

In meinem Blog-Beitrag „Die „rote Welle“ blieb aus … “ vom 12.1.2023 habe ich dargestellt, wie der Sieg der Abtreibungsgegner für ihre republikanischen Unterstützer bei den Zwischenwahlen am 8.11.2022 häufig zum Pyrrhussieg wurde. Kandidatinnen und Kandidaten der Republikanischen Partei (G. O. P.), die mit dem Thema Abtreibung in den Wahlkampf gegangen waren, verloren vielfach gegen ihre demokratischen Kontrahenten.  So etwa Herrschel Evans beim Rennen um den Senatssitz von Georgia oder auch Kari Lake, die bei der Gouverneurswahl in Arizona unterlag. Längerfristige politische Auswirkungen haben diese Niederlagen nicht zuletzt deshalb, weil Evans und Lake von Donald Trump stark unterstützt worden waren. Es half nichts – im Gegenteil: Durch ihre Niederlagen wird auch Trump geschwächt in die kommenden Auseinandersetzungen gehen. Viele Wahlbeobachter gehen davon aus, das die Aufhebung von Roe vs. Wade wesentlich dazu beigetragen hat, dass die Republikaner am 8.11.2022 nicht den großartigen Sieg einfahren konnten, den sie sich erhofft haben.

Über die für die Abtreibungsgegner unerwarteten Auswirkungen des Urteils des Supreme Court im Bundesstaat North Carolina berichtete die New York Times unter der Überschrift: „How the Fall of Roe Turned North Carolina Into an Abortion Destination“. Die dortige politische Situation ist unübersichtlich. Die Republikaner haben die Mehrheit im Parlament doch North Carolina hat einen demokratischen Gouverneur.  Auch in North Carolina waren die Abtreibungsgegner unmittelbar nach der Aufhebung von Roe vs. Wade durch den Supreme Court begeistert, nur um kurze Zeit später feststellen zu müssen, dass ihr Staat inzwischen zum Reiseziel von Frauen aus umliegenden Bundesstaaten geworden war: „Die Autokennzeichen sind aus Tennessee, Georgia und sogar aus Texas“, steht im Times-Bericht. „Im April 2022 wurden in North Carolina 3.190 Abtreibungen vorgenommen. Nachdem Roe vs. Wade im Juni 2022 gefallen war, stieg diese Zahl auf 4.360. Der größte prozentuelle Zuwachs im Vergleich aller Bundesstaaten. „Vor den Klinken spielen sich unschöne Szenen ab, etwa wenn sich Abtreibungsgegner und Abtreibungsbefürworter mit Megaphonen beharken.“ Gouverneur Roy Cooper hatte bereits im letzten Jahr eine Anordnung erlassen, um die Sicherheit im Bereich von Kliniken zu gewährleisten.

Wie war es in North Carolina dazu gekommen? Mit der Entscheidung des Supreme Court vom 24.6.2022 fiel der Staat nicht etwa in einen gesetzesfreien Raum, der durch ein rasch verabschiedetes Landesgesetz hätte geschlossen werden können. North Carolina hatte bereits ein älteres Gesetz, das eine Abtreibung bis zur 20. Woche erlaubte und „wurde zur Top-Adresse für Menschen aus Bundesstaaten, wo diese vollständig oder weitgehend verboten ist.“ Der republikanische Mehrheitsführer im Abgeordnetenhaus von North Carolina hat eine Regelung angekündigt, die eine Abtreibung nur bis zur 12. Woche erlauben soll. Der Gouverneur hat gegen jede Einschränkung sein Veto angekündigt. Eine Vertreterin der Organisation Planned Parenthood South Atlantic erwartet das „härteste Gefecht“ ihres Lebens (nytimes.com, 4.3.2023: „How the Fall of Roe Turned North Carolina Into an Abortion Destination“).

Im benachbarten South Carolina beschloss die republikanische Mehrheit im Senat des Bundesstaates ein Verbot von Abtreibungen ab der sechsten Schwangerschaftswoche. Die Auseinandersetzungen in South Carolina fanden vor allem deshalb nationale Beachtung, weil fünf Senatorinnen (die Sister Senators) – drei von den Republikanern und zwei von den Demokraten – Widerstand leisteten und einen Filibuster inszenierten. Das Gesetz kam jedoch durch, nachdem zwei der drei Republikanerinnen einem Kompromiss zustimmten, der Ausnahmen zulässt. Doch die Sechs-Wochen-Frist blieb im Gesetz. Ein Gericht hat am 26.5.2023 das Inkrafttreten des Gesetzes zunächst gestoppt (nytimes.com, 23.5.2023: „South Carolina Senate Passes 6-Week Abortion Ban“; nytimes.com, 26.5.2023: „Judge Puts South Carolina Abortion Ban on Hold“).  

Noch solchen und ähnlichen Erfahrung – auch im Verlauf der Auseinandersetzungen um die gleichgeschlechtliche Ehe – ist es keine Wunder, dass konservative Organisationen und die Republikaner nach Erfolg versprechenden Themen im Culture War suchen. Im Jahr 1977 war es mit der Kampagne „Save Our Children mit der Sängerin Anita Bryant noch möglich, in Dade-Miami-County in Florida  eine Regelung zu Fall zu bringen, mit der die Diskriminierung auf der Grundlage sexueller Orientierung verboten werden sollte. In diesem Feld hat sich jedoch die Einstellung in der Bevölkerung differenziert und zum Teil stark verändert. 2022 ergab eine Meinungsumfrage durch ein überparteiliches Institut, dass 68 Prozent der Befragten – 49 Prozent Republikaner eingeschlossen – die gleichgeschlechtliche Ehe akzeptieren. „Wir erkannten, dass wir ein Thema finden mussten, bei dem unsere Kandidaten sich „komfortabel“ fühlen, wenn sie darüber reden“, sagte Terry Schilling, der Präsident der sozial-konservativen Aktivistengruppe American Principles Project. Die Bevölkerungsgruppe der L. G. B. T. Q. geriet mehr und mehr ins Visier der Culture Warrior, die Diskussionen um das Thema Transgender Identity – insbesondere bei jungen Leuten – wurden immer heftiger. Eine Pew-Umfrage ergab, dass 58 Prozent der Amerikaner der Aussage zustimmten, dass Transgender Sportlerinnen und Sportler nur in Mannschaften konkurrieren sollten, die dem Geschlecht bei ihrer Geburt entsprechen; mit anderen Worten: Transgender Sportlerinnen waren vom Wettkampf ausgeschlossen. 

In den Vereinigten Staaten leben ca. 1,3 Mio. Erwachsene und 300.000 Kinder, die sich als Transgender bezeichnen. Ein neues, emotional aufladbares Thema schien gefunden. Über alle möglichen Gefahren, die von dieser kleinen Minderheit für die amerikanische Gesellschaft mit rd. 332 Mio. Einwohnern ausgehen,  konnte und kann  man Atem beraubende Geschichten erzählen. „Es mag leichter sein für Republikaner wie Trump und DeSantis, über Transgender Frauen zu reden als über Abtreibung, ein Thema, das einst eine Hauptstütze der konservativen Bewegung war“, schrieb dazu die New York Times. Die Wahlergebnisse im November 2024 werden zeigen müssen, wie weit das neue Thema des Culture War tatsächlich trägt. Bis jetzt hat es dem American Principles Project tausende neuer Spender gebracht, die meist kleine Beträge überwiesen. „Sie bedienen die gleichen Ressentiments und kulturellen Schismen, die die Trump-Bewegung antrieben: Beschwörungen gegen die sog. , Misstrauen gegenüber den Wissenschaften, die Unzufriedenheit der Eltern gegenüber den öffentlichen Schulen wegen der Covid 19 – Schließungen und die Einstellungen gegenüber Eliten.“  Kleine Leute geben kleine Spenden, weil sie glauben, ihre Kinder gegen irgendwelche Gefahren schützen zu müssen.  Ihre Sorgen werden angeheizt. Aber bedrohen Transgender Menschen tatsächlich die Kinder anderer Leute? Oder geht es lediglich um ein neues Thema, über das konservative Kandidatinnen und Kandidaten „komfortabel“ reden können?

Inzwischen wurden in 20 Bundesstaaten – alle mit republikanischen Parlamentsmehrheiten – Gesetze verabschiedet, die weit über die ursprüngliche Thematik, den Zugang zu Toiletten und die Behandlung von Sexualthemen in Schulen hinausgehen. Nadine Smith, die Exekutivdirektorin von Equality Florida, einer Organisation, die gegen Diskriminierung von – Menschen kämpft, sieht eine direkte Verbindungslinie von der Zielgruppe der Rechten – Transgender Kinder – zu anderen gesellschaftspolitischen Themen, die unter Berufung auf Elternrechte genannt werden:  Das Verbot von Büchern und das Verbot von Lehr- und Lerninhalten über Rassismus (nytimes.com, 16.4.2023: „How a Campaigne Against Transgender Rights Mobilizes Conservatives“).

Im Januar 2023 gab es lediglich 3 Bundesstaaten Gesetze, die die Beratung der Personenkreise und die Durchführung von Geschlechtsumwandlungen bei Jugendlichen unter 18 Jahren ganz oder teilweise untersagten – darunter waren Florida und Arizona. Inzwischen kamen in rascher Folge 10 weitere Bundesstaaten dazu. Texas folgte am 17.5. und Nebraska zog am 19.5.2023 nach. Weitere Bundesstaaten stehen in den Startlöchern (nytimes.com, 15.4.2023: „Bans on Transition Care for Young People Spread Across U. S.“). Die Gesetze verbieten oder beschränken unter anderem den Gebrauch von Pubertäts-Blockern, die Umwandlungschirurgie und das Angebot von Gender-affirming Care – jener Begleitung des langwierigen mehrstufigen Prozesses bei jungen Menschen, aus dem bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht zu dem Geschlecht zu kommen, dem sie sich zugehörig fühlen. Schon die Bezeichnung Gender-affirming Care ist kompliziert und schwer zu erklären. Die erforderlichen Schritte lassen sich nicht generell festschreiben. Gender-affirming Care wird jedoch von allen bedeutenden Medizin-Oganisationen in den USA dringend empfohlen „um Leben zu retten“ (CNN.com, 21.4.2022: „What is gender-affirming care?). Dass in 10 Bundesstaaten innerhalb kurzer Zeit solche Verbotsgesetze beschlossen wurden, führt zu einer Reihe von Fragen: Welche Auswirkung hatte dies auf die Sorgfalt bei der Beratung dieser Gesetze? Konnten dabei die komplizierten wissenschaftlichen Zusammenhänge der Gender-Affirmation berücksichtigt werden? Konnten die Gesetzgeber bei ihrem „Schnelldurchlauf“ den Bedürfnissen der Betroffenen tatsächlich gerecht werden oder waren diese Gesetze lediglich für die eigene Basis gedacht?

Gewiss kann man der Feststellung, dass Eltern Rechte haben, nicht generell widersprechen. Wohl aus diesem Grund verwenden Konservative diesen Begriff gern, wenn es um das Verbot von Büchern in Schulbüchereien, um das Untersagen gewisser Lehr- und Lerninhalte an Schulen und um die Unterdrückung unerwünschten Wissens geht, stellt die New York Times fest. „Doch in Wirklichkeit geht es bei diesen „Elternrechten“ darum, dass einige Eltern das Recht bekommen, alle anderen zu dominieren.“ (nytimes.com, 28.3.2023; Jamelle Bouie„What the Republican Push for ‚Parents Rights’ Is Really About“).

Auch in diesem Themenfeld erhalten die Culture Warrior Gegenwind. Die L. G. B. T. Q.-Schutzorganisation GLAAD hat Florida bereits verklagt und irgendwann wird eine solche Klage zur Prüfung der Vereinbarkeit mit der US-Verfassung beim Supreme Court in Washington D. C. landen. Auch namhafte Sportler haben Protest ungekündigt. Dwyane Wade, ein früherer Star des Basketballteams Miami Heat, will aus Florida wegziehen. Die Familie hat eine Transgender Tochter im Teenager Alter. Louis Hamilton, der siebenmalige Meister der Formel 1, hatte vordem Miami Grand Prix am 7.5. angekündigt, dort mit den Regenbogenfarben am Helm fahren zu wollen. 

Doch Ron DeSantis gibt sich von Protesten und Klagen unbeeindruckt. Beinahe zynisch klingt sein Rat an betroffene Eltern: „Wenn du ein minderjähriges Kind hast, solltest du keine Geschlechtsumwandlung durchführen lassen. Du solltest keine Pubertätsblocker verabreichen. Das ist falsch, und wir sind froh, dass wir all dies in Florida stoppen konnten.“ (nytimes.com, 5.5.2023: „Florida Legislature Passes Bill Banning Gender-Transition Care for Minors“; nytimes.com, 17.5.2023: “Texas Legislature Bans Transgender Medical Care for Children”; nytimes.com, 19.5.2023: “Nebraska Votes to Restrict Abortion and Transgender Care for Minors”).

Bücherverbote – Was Kinder und Jugendliche lesen und lernen dürfen – und was nicht …

Mehrere Bundesstaaten – darunter wieder Florida – nahmen bzw. nehmen die Lehr- und Lerninhalte in Schulen und Colleges ins Visier. Listen „verbotener“ Bücher werden angelegt und „Saubermänner und Sauberfrauen“ untersuchen klassische Kunstwerke, ob sie sexuell verführerisch oder gar für Kinder gefährlich sein könnten. Dabei dient der Jugendschutz als Begründung. Verbrannt werden die Bücher zwar nicht, doch das, was Heinrich Heine 1823 in seinem Drama Almansor niederschrieb, kommt mir in den Sinn:  „Dies war ein Vorspiel nur. Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“

Beispielhaft will ich die Auseinandersetzungen in North Dakota nennen, wo zwei Gesetze vor der Verabschiedung stehen, die die Kontrolle von Bibliotheken ermöglichen sollen und in manchen Fällen sogar das Personal mit Haft bedroht. Die Entwürfe in North Dakota sind nicht die einzigen Versuche in den USA durch die Kontrolle von Bibliotheken zu bestimmen, was Jugendliche kennenlernen und Erwachsene denken dürfen. North Dakota zeigt jedoch beispielhaft, wie die Culture Warrior dies realisieren und vor allem auch, wie man die Kontrolle von Büchern ideologisch begründen muss. Das Ziel der Kontrolle ist einfach zu beschreiben: Es geht um die Machterhaltung für die eigene Gruppe, Bewegung oder Partei und das Niederhalten der politischen Opponenten, denen man nichts Gutes und vor allem alles Schlechte zuschreibt.  Daraus folgt geradezu zwangsläufig die Vorstellung, das Denken und Fühlen der Menschen kontrollieren zu müssen. Kunst und Kultur wurden innerhalb kurzer Zeit zum ausgemachten Ziel der Culture Warrior:  Willkommen ist all das, was „unseren“ Vorstellungen entspricht; verboten wird, was den Vorstellungen der „Anderen“ entspricht. Darüber sollen sich junge Menschen nicht informieren können. Darüber soll an den Colleges nicht gelehrt werden.        

Einer der beiden Gesetzesentwürfe in North Dakota will öffentlichen Bibliotheken verbieten, Bücher zu besitzen oder zu verleihen, die ausgesprochen sexuelle Inhalte enthalten. Im Entwurf wird beschrieben, was darunter zu verstehen ist und reicht von Abbildungen, der Beschreibung von Sex-Szenen in Filmen bis zu Informationen für Teenager, in denen die Pubertät beschreiben wird. Die Bibliotheken werden verpflichtet, bis 1. Januar 2024 ein Verfahren zu entwickeln, das zum Ziel hat, einen Buchbestand aufzubauen, der dem Alter und der Reife der Nutzer und der Zweckbestimmung der Bibliothek entspricht. Im Bericht der New York Times wird dazu vermerkt, dass der Gesetzesentwurf keine Hinweise darüber enthält, was unter „Zweckbestimmung der Bibliothek“ zu verstehen ist oder wie der Begriff „dem Alter und der Reife angemessen“ auszulegen ist. 

Eine noch größere Reichweite wird der zweite Gesetzesentwurf entfalten – ein Projekt des Senats von North Dakota. Er verbietet Einrichtungen, die Minderjährigen zugänglich sind, „anstößiges Material“ … In einer Weise zu zeigen, durch die sexuelle Lust oder Perversion angesprochen wird. Die Beschreibung, was als „anstößiges Material“ definiert wird, will ich mir hier ersparen. In der New York Times wird dazu angemerkt, dass selbst eine Abbildung oder die Beschreibung der Venus von Milo darunter fallen könnte. „Durch diese Gesetze ist North Dakota dabei, zum Muster für Gemeinden, Städte und Bundesstaaten zu werden, die nicht nur ihre Bibliotheken, sondern auch ihre Bürgerinnen und Bürger zensieren wollen.“ Der Entwurf des Senats sieht vor, dass Übertretungen mit bis zu 30 Tagen Haft und 1.500 Dollar Strafe belegt werden können.

Es geht gegen Literatur und Kunst

Nach Angeben der American Library Association gab es zwischen Januar und August 2022 68 Versuche, Büchereibestände zu verbieten oder deren Nutzung zu beschränken. Dabei wurden 1.651 Buchtitel angegriffen; in 2021 waren es 1.597 Titel. Bemerkenswert ist die Erläuterung dazu durch PEN America: 41 Prozent der im Schuljahr 2021/22 indizierten Bücher behandelten L. G. B. T. Q.-Themen (Lesbian, Gay, Bisexuel, Transgender, Queer). Ähnliche Gesetze wie in North Dakota geplant, wurden in West Virginia, Texas, Mississippi, Montana, Iowa, Wyoming, Missouri und Indiana bereits verabschiedet oder sind noch in Beratung. Bei der Umsetzung der neuen Vorschriften wurden in manchen Schulbezirken in Missouri Werke über Leonardo da Vinci und Michelangelo, Comics wie Batman und X-Man, Abbildungen zu Werken von Shakespeare und Maus – ein bebilderter Roman über den Holocaust, der den Pulitzer-Preis erhalten hat, als „ausgesprochen sexuelles Material“ indiziert.

Mit ironischem Unterton kommentiert Taylor Brorbyer hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „Boys and Oil: Growing up Gay in a Fractured Land“ – in einem Gastbeitrag in der New York Times den Eifer der neuen Kämpferinnen und Kämpfer für ein sauberes Amerika: „Aber um ehrlich zu sein: Diese Gesetze haben nicht in erster Linie die Venus von Milo im Visier. Es geht um Bücher, die L. G. B. T. Q.-Geschichten erzählen und es geht um Bücher von L. G. B. T. Q.-Autoren – jene Art von Büchern, die vielen schwulen jungen Menschen Halt gegeben haben, als sie den am meisten brauchten. Ich weiß nicht, wie ich geendet hätte, hätte ich mich nicht aus der Verzweiflung lesen können. Mir bricht das Herz, wenn ich daran denke, dass all diese Jugendlichen heute diese Möglichkeit nicht haben“ (nytimes.com, 24.2.2023: „The Real Reason North Dakota Is Going After Books and Librarians“). 

Wie abstrus, aber auch unerbittlich der Culture War geführt wird, zeigt ein Bericht in der Heilbronner Stimme: Als bekannt wurde, dass die Transgender-Influencerin Dylan Mulvaney einen Vertrag mit dem Brauereikonzern Anheuser-Busch abgeschlossen hat, um die Biermarke Bud Light zu promoten, brach unter Anhängern von Donald Trump ein Sturm der Empörung aus und es wurde zum Boykott von Bud Light aufgerufen. Auf Twitter gab es einen kurzen Clip, in dem der Musiker und Trump-Fan Kid Rock mit einem Gewehr auf mehrere Boxen voller Bud Light – Bierdosen schießt. (Heilbronner Stimme, 14.4.2023:  „Biermarke gerät in Kulturkampf“; ferner: nytimes.com, 14.4.2023: „Behind the Backlash Against Bud Light’s Transgender Influencer“)   

Carolin Emcke —  sie wurde 2016 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet – bezeichnet das, was in Florida unter Gouverneur DeSantis vorangetrieben wird, mit einem Wort: Zensur.  Emcke zitiert in ihrer Kolumne in der Süddeutschen Zeitung den Schriftsteller Salman Rushdie, der 2012 vermerkte: „Der Zensur in ihrer wirksamsten Form gelingt es, die Wahrheit (…) durch Lüge zu ersetzen. Der endgültige Sieg der Zensur ist erreicht, wenn Menschen sich eine nicht zensierte Welt nicht mehr vorstellen können.“ Soweit ist Florida (noch) nicht, doch Carolin Emcke sieht den Bundesstaat im Süden der Vereinigten Staaten auf dem Weg dahin. „Gouverneur DeSantis präsentiert jede dieser Zensur-Maßnahmen mit überhöhter Geste, als seien sie eine Reconquista der Freiheit. Florida ist zu einem Labor des illiberalen Umbaus der demokratischen Ordnung geworden, dessen radikal-konservative Ideologie sich als anti-ideologisch geriert.“ Und Emcke beklagt, das die Räume des Lernens und Denkens in Florida schrumpfen. Es ist offensichtlich, dass das Denken und Fühlen der Menschen umgepolt werden soll. (sueddeutsche.de, 11.3.2023: „Die Ideologen üben Zensur“; Kolumne von Carolin Emcke).

Angesichts dieser Entwicklungen ist der Vergleich mit Viktor Orbans Ungarn durchaus nahe liegend, den die Kolumnistin Michelle Goldberg in der New York Times anstellt. Goldberg verweist auf jenes Spezialgesetz des ungarischen Parlaments, mit dem die von George Soros gegründete Central European University in Budapest aus dem Land getrieben wurde. „Das Schicksal jener Universität wurde zum Testfall dafür, ob der Liberalismus die taktische Fähigkeit und die emotionale Kraft besitzt, sich gegen den neuen ideologischen Feind zu wehren. „Liberalism, sadly, did not,“  stellt Goldberg fest. „Der Liberalismus schaffte es leider nicht.“

Auch Michelle Goldberg zieht eine Verbindungslinie zwischen Ungarn und Florida: „Viele auf der amerikanischen Rechten bewundern, wie Orban die Staatsmacht einsetzt, um die Kultur des Liberalismus zu bekämpfen. Aber wenige imitieren ihn so gewissenhaft wie der Gouverneur von Florida und mögliche republikanische Präsidentschaftskandidat.“ (nytimes.com, 27.2.2023: „Florida Could Start Looking a Lot Like Hungary“; Kommentar von Michelle Goldberg).

Die Verbindungslinie, die Goldberg zwischen Florida und Ungarn zieht, ist für uns Europäer besonders bemerkenswert, denn sie lässt uns verstehen, was aktuell in den Vereinigten Staaten gesellschafts- und kulturpolitisch abläuft. Wir Europäer erleben seit Jahren, wie Viktor Orban entgegen aller europäischen Grundrechte und Werte dabei ist, sein Land in eine „Illiberale Demokratie“ umzuwandeln. Und Ron DeSantis hat sich offenbar das gleiche Ziel gesetzt. Michelle Goldberg verweist auf den inzwischen eingebrachten Entwurf des Gesetzes Nr. 999, mit dem DeSantis viele seiner weitreichenden Vorstellungen über höhere Bildung verwirklichen will. „Selbst gemessen am DeSantis-Standard ist es ein schockierendes Stück Gesetzgebung, durch den die akademische Freiheit mit dem Vorschlaghammer bearbeitet wird,“ schreibt Michelle Goldberg in der New York Times.

Und immer wieder „Abortion“

Das Thema „Abtreibung“ ist inzwischen auf der Ebene der Bundesstaaten und bei der Justiz angekommen.  Sehr zum Verdruss mancher Republikaner, denn es hat ihnen 2022 den erhofften großen Wahlsieg vermasselt. Nachdem ein Bundesrichter in Texas die vor 23 Jahren durch die Food and Drug Administration erfolgte Zulassung der Abtreibungspille Mifepristone ausgesetzt hatte – die Entscheidung sollte 7 Tage später in Kraft treten – landete der Rechtsstreit rasch beim Supreme Court. Dieser entschied am 21.4.2023 zwar noch nicht in der Hauptsache, verfügte jedoch – entgegen der Entscheidung des Gerichts in Texas – dass Mifepristone weiterhin zur Verfügung steht. Dieses Medikament (zu deutsch: Mifespriston) wird in den USA in Kombination mit Misoprostol bei jeder zweiten Abtreibung verabreicht. Das Verbot von Richter Matthew J. Kacsmaryk vom Bezirksgericht für den nördlichen Distrikt von Texas in Amarillo errreichte damit fürs Erste keine Rechtskraft. Der während der Trump-Präsidentschaft ernannte Richter – ein ausgesprochener Abtreibungsgegner, der bereits früher gegen das Grundsatzurteil Roe vs. Wade von 1973 angeschrieben hatte – hat sich die Begründung, Mifepristone sei gefährlich – leicht gemacht und zum Teil einfach aus den Schriftsätzen der Abtreibungsgegner übernommen. Nun ist eine Entscheidung über die „Abtreibungspille“ Mifepristone bis auf Weiteres ausgesetzt. „Endgültig entschieden wird wohl erst in Monaten“, berichtet die Süddeutsche Zeitung. „Für die Republikaner ist die Sache heikel. Die Zwischenwahlen im vergangenen Jahr zeigten, dass der Streit um Abortion gemäßigte Wähler und besonders Wählerinnen abschreckt.“ (sueddeutsche.de, 22.4.2023: „Die Abtreibungspille bleibt – fürs Erste“). Somit wird dieses Thema im Vorfeld der Wahlen 2024 immer wieder in den Schlagzeilen erscheinen.

Auch in der New York Times wird diese Kalamität für die Republikaner beschrieben: „Republikaner in konservativen Staaten suchten nach einer Balance zwischen dem Druck der Basis nach weiteren Restriktionen in Sachen Abtreibung und der breiten Unterstützung für das Recht auf Abtreibung.“ Dies brachte und bringt vor allem republikanische Kandidatinnen und Kandidaten in eine Zwickmühle: „Einige Führungspersönlichkeiten der Republikaner auf Ebene der Bundesstaaten – insbesondere die mit nationalen Ambitionen – versuchen nun eine delikate Gratwanderung in einem Themenfeld, das einst ein Prüfstein in der Partei war.“ Auch Gouverneur Ron DeSantis aus Florida ist mit seinen Ambitionen auf die republikanische Präsidentschaftskandidatur 2024 betroffen. Er hat vor kurzem – trotz der prekären Lage – ein Gesetz unterschrieben, das in Florida eine Abtreibung nach der 6. Schwangerschaftswoche verbietet. Kritiker dieser engen Fristsetzung weisen darauf hin, dass dabei Frauen oft nicht einmal sicher wissen, ob sie schwanger sind. „Das Gesetz wird ihm wohl helfen, in den Vorwahlen konservative und evangelikale Wählerinnen und Wähler zu hofieren, aber es könnte ihm in der allgemeinen Wahl schaden.“ (nytimes.com, 21.4.2023:  „Abortion has become politically fraught for Republicans“). Zweifellos wir dieses Thema auch in den kommenden Wahlen eine wichtige Rolle spielen und die Republikaner unter Druck bringen.      

Erste Bilanz der Bücherzensur:  Chaos und verunsicherte Lehrkräfte

In der New York Times wird berichtet, was in den ersten Wochen nach Inkrafttreten der „Bücherei-Saubermanngesetze“ an den Schulen in Florida geschehen ist. Man könnte diese ersten Erkenntnisse mit wenigen Worten zusammenfassen: Chaos und verunsicherte Lehrkräfte.

Zweifellos sind Bücherzensur und staatliche Kontrolle von Kunst und Kultur in einem Land, das das Recht auf freie Meinungsäußerung, den ungehinderten Zugang zu Informationen und die Pressefreiheit als hohe Verfassungsgüter ansieht, ungewöhnliche politische Kampfzonen. Dass es in Amerika politische Kräfte gibt, die Kontrolle und Restriktionen als legitim ansehen und entsprechende Gesetze erlassen, muss zur Sorge Anlass geben. Wie kann man der Welt erklären, dass Grundwerte und Grundrechte, die die westlichen Demokratien immer wieder von anderen verlangen, ausgerechnet in den Vereinigten Staaten beschnitten werden? Wie kann man Viktor Orbans Ungarn und andere EU-Mitglieder, die von den europäischen Grundwerten wenig halten, kritisieren oder gar mit finanziellen Sanktionen belegen?

Die New York Times berichtete am 22./23.4.2023 ausführlich über den Stand der Dinge, nachdem vor allem in Florida, aber auch in anderen Bundesstaaten, Vorschriften erlassen wurden, durch die insbesondere solche Bücher in Schulbüchereien und teilweise auch in öffentlichen Bibliotheken unter Verschluss zu nehmen sind, die Themen wie Rasse, Geschlecht oder sexuelle Orientierung behandeln. „Eine neue Ebene der Angst wurde geschaffen“, sagte Kathleen Daniels, die Präsidentin der Florida Association for Media in Education, eine fachlich orientierte Organisation für Personal in Schulbüchereien und Medienerzieher. In einem Schulbezirk in Florida wurde beispielsweise das Buch„Beloved“ der Literatur-Nobelpreisträgerin Toni Morrison (1931 – 2019), in dem die psychologischen Folgen der Sklaverei behandelt werden und der Roman „The Handmaid’s Tale“ („Der Report der Magd“), der bereits 1985 erschienen ist und 1990 von Volker Schlöndorff verfilmt wurde, unter Verschluss genommen.  

Die Umsetzung der neuen Vorschriften erfolgte in den 67 Schulbezirken in Florida sehr unterschiedlich.  Während in manchen Bezirken keine besonderen Aktionen liefen, brach in anderen das Chaos aus. Im Duval County zu dem auch Jacksonville mit knapp 1 Mio. Einwohner gehört, wurde die Nutzung von mehr als einer Million Buchtitel so lange eingeschränkt, bis sie von Spezialisten überprüft waren. Im Martin County, an der Atlantikküste gelegen, waren im Januar und Februar d. J. 150 Buchtitel nicht mehr nutzbar, darunter John Greens „Looking for Alaska“ und James Pattersons „Maximum Ride“, eine Serie von Sience-Fiction Abenteuerbücher, die bisher für die Altersgruppe 10 und älter vorgesehen war. Sie wurden nun für die Grundschulen untersagt. An manchen Schulen waren die Lehrerinnen und Lehrer besonders vorsichtig. Titel, die in Gefahr stehen, indiziert zu werden, wurden gar nicht erst angeschafft. (nytimes.com, 22./23.4.2023;  „Florida at Center of Debate as School Book Bans Surge Nationally“).

Nachdem Florida zum Hot Spot des Culture War und nicht zuletzt zum Kampfplatz der Buchzensur geworden war, verwundert es nicht, dass sich hier auch eine erste Gegenbewegung formierte. Am 17.5.2023 reichten PEN America, der Verlag Penguin Random House, mehrere Autoren und eine Gruppe Eltern beim Bezirksgericht für das nördliche Florida eine Klage gegen den Escambia County ein mit der Begründung, ihre verfassungsmäßigen Rechte nach Artikel 1 des Ersten Verfassungszusatzes (Rede- und Meinungsfreiheit) und der Gleichheitsgrundsatz seien verletzt. 

Begonnen hatte alles damit, als eine Lehrerin bei der Schulbehörde von Escambia Conty eine Liste mit mehr als 100 Büchern einreichte, die ihrer Meinung nach „nackte Ideologie“ enthielten und überprüft werden sollten auf „ausgesprochen sexuelle Inhalte, ihre grausame Sprache und auf ihre vulgäre und politische Aussagen.“ Unter den von der Lehrerin beanstandeten Buchtiteln war u. a. „And Tango Makes Three“, ein Bilderbuch für Kinder, das auf einer wahren Begebenheit im Zoo des Central Parks in New York basiert. Dort haben zwei männliche Pinguine ein Pinguin-Baby gemeinsam aufgezogen. Nach Auffassung der Lehrerin wird mit dem Buch die L. G. B. T. Q-Agenda befördert. Es blieb auf der Verbotsliste. Die Schulbehörde im Escambia County hat bisher 10 Titel entweder ganz aus den Schulbüchereien entfernt oder nur beschränkt zugänglich gemacht. Die eifrige Lehrerin beklagte sich deshalb darüber, dass nicht alle Bücher indiziert wurden, die sie und andere als „für Schüler ungeeignet“ eingestuft hat.

Entfernt wurde zum Beispiel das Buch „The Bluest Eye“ („Sehr Blaue Augen“) der Nobelpreisträgerin Toni MorrisonDagegen klagt der Verlag Penguin Random House. Ebenfalls indiziert wurde „The House of Spirits“ („Das Geisterhaus“) von Isabel Allende. Eine Elternvertreterin äußerte sich besorgt darüber, dass vor allem Bücher zu den Themen Rasse, Geschlecht und Sexualität indiziert werden. Ein wichtiger Teil der öffentlichen Bildung sei, dass Kinder auch Lebenszuschnitte kennen lernen, die sich von ihren eigenen unterscheiden (nytimes.com, 17.5.2023: „Florida School District Is Sued Over Book Restrictions“; nytimes.com, 19.5.2023; Michelle Goldberg: “If You Care About Book Bans, You Should Be Following This Lawsuit”; nytimes.com, 17.5.2023:  “Florida School District Is Sued Over Book Restrictions”).

Dies dürfte erst der Beginn einer Vielzahl von Klagen gegen die Zensur von Schulbüchereien sein, die nun die Gerichte beschäftigen werden. Vielleicht war – neben den ideologischen Vorstellungen – ein Hintergedanke der Culture Warrior: Solange sich die breite Öffentlichkeit  mit Schulbüchereien beschäftigt, bleiben wir mit Diskussionen über andere politische Fragen verschont.

Druck erzeugt Gegendruck – Kunst und Kultur in Zeiten des Hasses

Zunächst war ich überrascht, mitten im politischen Meinungsteil der New York Times, dort wo gewissenhafte und renommierte Journalistinnen und Journalisten ihre Gedanken zu grundlegenden Fragen, zu Krieg und Frieden auf der Welt darlegen, eine Betrachtung über „Die Kraft der Kunst in politischer Zeit“ zu finden.  David Brooks, ein Meinungskolumnist der NYT erläuterte zunächst, was ihn bewogen hat, diese Betrachtung zu schreiben: „Wie viele Menschen verbringe ich viel Zeit, eingebunden in das politische Geschehen, mit den vorhersehbaren Ausbrüchen der Parteien, mit der Analyse politischer Kampagnen, die Pferderennen gleichen und mit dem Trump-Skandal des Tage. Deshalb versuche ich, gegenzusteuern. Ich fliehe zu den Künsten.“

Brooks zitiert den britischen Philosophen Roger Scruton, der beschreibt, wie sich dem Hörer von Mozarts Jupiter Sinfonie die Türen zur Freude und Kreativität öffnen …  Und er beschreibt, wie Picassos Gemälde Guernica den reinen Horror, das universelle Leiden und auch den Blutrausch der Menschen deutlich macht. 

Und dann zieht Brooks die Verbindungslinie zur Politik, der er mit der Kunst hatte entfliehen wollen: „Ich schleppe mich in die Museen und fürchte, dass im Zeitalter von Politik und Technik die Kunst ihre Bedeutung im öffentlichen Leben verloren hat; wir diskutieren nicht mehr über Romane und künstlerische Meisterwerke, wie dies die Menschen in früherer Zeit taten. Die literarischen Welten haben sich selbst verblödet durch insulares Gruppendenken und all dies hat zur Entmenschlichung der amerikanischen Kultur beigetragen.“  (nytimes.com, 2.3.2023:; David Brooks„The Power of Art in a Political Age“).

David Brookser wird als moderat konservativer Kolumnist beschrieben – beklagt die Kraft- und Machtlosigkeit der amerikanischen Kunst und Kultur in unserer Zeit. Darüber, ob dies in früheren Zeiten tatsächlich anders war, lässt sich gewiss streiten. Doch man spürt, was Brooks in heutiger Zeit vermisst: All das, was Kunst und Kultur mit den Menschen machen kann. „Sie lässt dich geduldiger auf die Welt blicken – mit mehr Bescheidenheit.“ Doch ich fürchte, Books Klagen werden in der politischen Welt Amerikas – und darüber hinaus – nicht gehört. In einer Welt, in der wenig Bescheidenheit, dafür aber viel Rechthaberei zu finden ist. 

In North Dakota und in anderen US-Bundesstaaten verwenden die Gesetzgeber viel Zeit und Fantasie damit, im Detail zu beschreiben, welche Bilder, Abbildungen und Beschreibungen von Bildern in den Giftschränken des Culture War zu verschwinden haben. Man nimmt dabei in Kauf, dass dabei auch die Venus von Milo betroffen sein könnte, die als Beispiel großartiger hellenistischer Kunst im Pariser Louvre steht. Ein Kollateralschaden eben im Namen der „Sauberkeit“ und zum Schutz der Kinder und Jugendlichen, die man vor allem vor der Aufklärungsliteratur über die L. G. B. T. Q.-Community „schützen“ will. Womöglich müssen Abbildungen von Botticellis „Geburt der Venus“ in North Dakota ebenfalls aus den Schulbüchern verschwinden. Den Spott darüber gibt es gratis dazu – und früher oder später wird der Culture War den Gerichten in Amerika viel Arbeit machen.

„Kunst mit Pornografie zu verwechseln ist einfach lächerlich“, kommentierte Dario Nardella, der Bürgermeister von Florenz. Er bezog sich dabei auf einen Vorfall im Bundesstaat Florida, wo lt. Presseberichten eine Schulleiterin entlassen worden sein soll, weil sie im Kunstunterricht einer sechsten Klasse ein Bild von Michelangelos „David“ gezeigt hatte. Darüber haben sich Eltern beschwert und Michelangelos Kunstwerk als „pornografisch“ bezeichnet. Der Bürgermeister von Florenz hat angekündigt, die Lehrerin nach Florenz einzuladen, „um ihr im Namen der Stadt ihre Anerkennung auszusprechen. Kunst ist Zivilisation und wer sie lehrt, verdient Respekt.“ (sueddeutsche.de, 27.3.2023: „Der nackte Wahnsinn“;  Heilbronner Stimme, 28.3.2023: „Kündigung wegen David-Statue“).

Florida, immer wieder Florida!  Und immer wieder Ron DeSantis, der Gouverneurs des Sunshine State im Süden der USA. DeSantis – ein Hoffnungsträger vieler Republikaner für 2024 – hat sich an die Spitze der konservativen Culture Warrior gestellt. Im Folgenden sollen beispielhaft drei Themenfelder beschrieben werden:

  • Die Weichspülung von Teilen der amerikanischen Geschichte
  • Die „Neuausrichtung“ der höheren Bildung
  • Die Auseinandersetzungen mit dem Walt Disney World Resort in Orlando.

Florida: Die Weichspülung von Teilen der amerikanischen Geschichte

Ron DeSantis hat ein Buch geschrieben mit dem Titel: „The Courage to Be Free: Florida’s Blueprint for Americas Revival“ und hat sich damit auf eine Werbetour begeben, gewissermaßen als Testlauf vor der Ankündigung seiner Kandidatur für die Präsidentschaftswahl 2024. Er will gegen Donald Trump ins Rennen gehen, der jedoch nach allen gegenwärtigen Umfragen haushoch vorne liegt. (nytimes.com, 28.2.2023:  DeSantis Hits the Trail. Just Don’t Call It a Campaign“). 

Es ist an dieser Stelle nicht möglich, alle Facetten der Persönlichkeit und der politischen Vorstellungen des Gouverneurs von Florida zu beschreiben: Strengere Abtreibungsvorschriften, Beschneidung der Rechte von Minderheiten insbesondere der Gruppe der L. G. B. T. Q-Menschen, Zensur von Lehrbüchern an Schulen und die „Säuberung“ von Schulbüchereien, Gängelung der Lehre und der Forschung an höheren Schulen und die Erlaubnis, in Florida Schusswaffen verdeckt zu tragen – und zu all dem hat DeSantis die Unterstützung von Fox News. Er lässt kaum ein Thema aus, das konservativen Republikanern am Herzen liegt. „Der Gouverneur von Florida versucht, sich rechts von Donald Trump zu positionieren“, schreibt die Süddeutsche Zeitung  (sueddeutsche.de, 26.4.2023:  Kandidat für rechts außen gesucht“). 

Die New York Times bezweifelt, dass diese Strategie aufgehen wird. „Die Fragen nehmen zu, ob DeSantis fähig ist, die unabhängigen Wähler und die Wähler in den Randbezirken der Großstädte (Suburbs) zurückzuholen, die Biden ins Weiße Haus gebracht haben oder ob die extremen Einstellungen des Gouverneurs, nicht zuletzt beim Thema Abtreibung gerade die Wähler abstoßen wird, die er versprach, wieder zurückzuholen“ (nytimes.com, 20.4.2023: DeSantis’s Electability Pitch Wobbles, Despite G.O.P. Losses Under Trump“).

Erschreckt, ja geradezu abgestoßen hat mich ein neues Gesetz, das es den Gerichten in Florida leichter machen soll, Todesurteile zu fällen. Künftig soll dazu nicht mehr die einstimmige Empfehlung der 12 Geschworenen erforderlich sein, sondern bereits 8 Stimmen ausreichen. In fast allen US-Bundesstaaten mit Todesstrafe müssen sich die Geschworenen einstimmig für diese Strafe aussprechen. In Alabama sind 10 Stimmen erforderlich; in Indiana und Missouri entscheidet der Richter, wenn sich die Geschworenen nicht einigen können. (sueddeutsche.de, 21.4.2023: „Florida senkt Schwelle für Todesstrafe“). Nach einer Veröffentlichung von Amnesty International wurden im vergangenen Jahr in den USA 18 Menschen hingerichtet; im Jahr 2021 waren es 11 Fälle (Heilbronner Stimme, 17.5.2023: „Zahl der Hinrichtungen steigt“). Der Titel von DeSantis Buch indiziert, dass Florida zum Testfeld für einen konservativen Muster-Bundesstaat in den USA werden soll. Am Ende wird der Sunshine State immer mehr Orbans Ungarn gleichen. 

Donald Trump ist 2016 mit dem Slogan angetreten: „Make Amerika Great Again“ und hat dazu ergänzt: „I Alone Can Fix It“ – „Nur ich allein kann das Land retten“. Der Titel von DeSantis’ Buch klingt auffallend ähnlich. DeSantis redet – ähnlich wie Trump – in einer mehrdeutigen Sprache, die jeder verstehen kann, wie er mag. Er hat erklärt, gegen den Woke Mind Virus zu kämpfen, den er als eine Form des kulturellen Marxismus bezeichnet – was immer dies auch sein mag. (nytimes.com, 2.5.2023; Jamelle Bouie: „The ‚Woke Mind Virus’ Is Eating Away at Republicans’ Brain“).

Doch DeSantis und seine Parlamentsmehrheit reden nicht nur, sie haben bereits eine ganze Reihe konkreter Maßnahmen in Gesetzesform gegossen. Am 4.5.2023 wurde ein Gesetz verabschiedet, das jede Art von Behandlung zur Geschlechtsumwandlung bei Minderjährigen verbietet und bei Erwachsenen einschränkt. Ärzte, die dieses Gesetz nicht befolgen, müssen mit bis zu 5 Jahren Gefängnis rechnen. Die New York Times beschreibt dieses Gesetz als eine von mehreren Maßnahmen, die die L. G. B.T . Q.-Community ins Visier genommen haben. (nytimes.com, 5.5.2023: „Florida Legislature Passes Bill Banning Gender-Transition Care for Minors“). Bereits im April verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das Schwangerschaftsabbrüche ab der 6. Woche verbietet – „noch ehe viele Frauen überhaupt wissen, dass sie schwanger sind. (sueddeutsche.de, 14.4.2023: „Florida verschärft Abtreibungsrecht“). Landesweit „berühmt“ wurden Ron DeSantis und Floridas Republikaner durch ihre Kampagne gegen Woke Indoctrination, wie sie das Kampffeld nannten, das sich in der Praxis zu einer politisch aufgeheizten Wortklauberei und Bilderzensur in Schulbüchern entwickelte. 

Die New York Times beschreibt in zwei ausführlichen Berichten, wie der neue Prozess der Überprüfung von Schulbüchern für das Fach Sozialkunde in Florida ablief und welche Ergebnisse diese Überprüfungen hatten.  „Der sorgfältige und ins Einzelne gehende Prozess der Überprüfung und Zulassung von Schulbüchern war normalerweise eine Sache der Verwaltung, der Bildungsexperten, Verlagsleiter und Mitarbeiter der staatlichen Bürokratie beschäftigte”, wird in einem dieser Berichte vermerkt. „In Florida wurden Schulbücher jedoch hoch politisch und zu einem Teil der Kampagne von Gouverneur Ron DeSantis gegen das, was er als Woke Indoctrination bezeichnet – vor allem, wenn es um „Rasse“ und „Geschlecht“ geht. Bereits im vergangenen Jahr hatte die Verwaltung für Aufregung gesorgt, als Dutzende Mathematik-Lehrbücher zurückgewiesen wurden, mit der Begründung, „verbotene Themen“ zu beinhalten.“ (nytimes.com, 10.3.2023:  „Florida Scoured Math Textbooks for ‚Prohibited Topics.’ Next Up: Social Studies“).

In den staatlichen Richtlinien zur Bewertung der Bücher wird die „Critical Race Theory“ besonders ins Visier genommen. Die von der konservativen Florida Citizens Alliance geschulten freiwilligen „Buchprüfer“ hatten bereits im Vorfeld empfohlen, 28 von 38 eingereichten Bücher zurückzuweisen, darunter über ein Dutzend Bücher von McGraw Hill, einem der großen amerikanischen Verlage. Die Florida Citizens Alliance beklagte zum Beispiel, dass ein einem McGraw Hill-Lehrbuch für die 5. Klasse der Begriff „Sklaverei“ in einem Kapitel allein 189 mal erwähnt sei. Bei einem Lehrbuch für die 8. Klasse wurde kritisiert, dass beim Thema „Native Americans“ (Amerikanische Ureinwohner) deren schlechte Behandlung herausgestellt werde, ohne die Gewalttaten der Native Americans selbst zu beschreiben, wie etwa das Jamestown Massaker von 1622, bei dem mehr als 300 englische Kolonisten getötet wurden. Bemerkenswert ist auch, wie bereits im Vorfeld der bei der Darstellung der Geschichte von Rosa Parks – jener afro-amerikanischen Frau, die sich 1955 in Montgomery, Alabama geweigert hatte, ihren Sitzplatz in einem Bus für eine weiße Person freizugeben und daraufhin verhaftet wurde – heftig um Worte und Begriffe gestritten wurde. In der zweiten Version des Lehrbuchs wurde die Hautfarbe von Rosa Parks nicht mehr genannt. Der Verlag war jedoch bereits im Vorfeld der Prüfung von der Behörde mit einer bürokratischen Begründung ausgeschieden worden und versucht nun, sein Lehrbuch bei den Prüfungen in anderen Schulbezirken durchzubringen.

Am 9.5.2023 wurden die Ergebnisse der Überprüfung von 101 eingereichten Sozialkunde-Lehrbüchern veröffentlicht. Im ersten Durchgang waren 82 der 101 Lehrbücher mit der Begründung zurückgewiesen worden, „ungenaue Angaben, Fehler und anderen Informationen zu enthalten, die den Gesetzen von Florida nicht entsprechen.“ Nach weiteren Verhandlungen mit den betroffenen Verlagen über Änderungen in den Büchern wurden schließlich 66 der 101 eingereichten Lehrbücher genehmigt; 35 wurden auch nach dem zweiten Durchgang abgelehnt. Der Bericht der New York Times kommentierte die Auswirkungen des Prüfungsprozesses wie folgt: „Die Liste der zugelassenen Sozialkunde-Lehrbücher wird sich signifikant darauf auswirken, wie im Fach Geschichte in den nahezu 3 Millionen öffentlichen Schulen Themen wie Sklaverei, Jim Crow und Holocaust behandelt werden“. Als Jim Crow-Gesetze wird eine Reihe von Gesetzen bezeichnet, die in der Zeit zwischen der Abschaffung der Sklaverei in den Vereinigten Staaten (1865) und dem Ende der Rassentrennung nach Inkrafttreten des Civil Rights Acts und des Voting Rights Acts Mitte der 1960er-Jahre in den Südstaaten in Kraft waren (Wikipedia).

Die New York Times zitiert dazu Adam Laats, einen Historiker an der Binghamton University mit dem Hinweis, dass über mehr als ein Jahrhundert amerikanische Verleger Lehrbücher revidiert haben, um politischen Bedenken entgegenzukommen, manchmal seinen Rasierklingen benutzt worden, um Aussagen über Themen wie Evolution oder Rekonstruktion zu entfernen. Die Zensur von Schulbüchern sei häufig von Konservativen gefordert worden – und heute vernehme er bei den Ankündigungen in Florida das Echo jener alten Schlachten. Laats wies darauf hin, dass Politiker des Bundesstaates mit dem Stichwort „dem Alter angemessen“ einen Verleger aufgefordert haben, die Beschreibung der Vorfälle bei Sportveranstaltungen zu streichen, als Athleten beim Abspielen der Nationalhymne niederknieten. (nytimes.com, 9.5.2023: „Florida Rejects Dozens of Sociel Studies Textbooka, and Forces Changes in Others“).

Die beschriebenen ideologisch begründeten Zensurmaßnahmen der Schul- und Bildungsbehörden in Florida hätten eine vertiefte Darstellung verdient, geht es dabei doch um grundlegende Verfassungsrechte der Amerikaner. Beispielhaft will ich hier von den Auseinandersetzungen der Behörden mit der Organisation College Board berichten, die wegen ihrer neuen Lehrempfehlungen zur Geschichte der Afro-Amerikaner von Gouverneur DeSantis heftig angegriffen wurde. Dabei ging und geht es insbesondere um das Stichwort Sklaverei; die Auswirkungen dieses Teils der US-Geschichte sind noch lange nicht aufgearbeitet. In Florida gab es in jüngster Zeit heftige Debatten über die Inhalte des „African American Studies Course“ der Organisation College Board. Ich will mich auf Stichworte beschränken; eine Lehrstunde zum Thema „Black History“ würde den Rahmen dieses Papiers bei Weitem sprengen.

Die Organisation „College Board“

Das College Board ist eine amerikanische gemeinnützige Prüfungskommission, welche 1900 als das College Entrance Examination Board (CEEB) gegründet wurde. Es führt verschiedene standardisierte Tests hauptsächlich für Schüler amerikanischer High Schools durch. Der bekannteste unter ihnen, der SAT, wird von fast allen amerikanischen Universitäten vorausgesetzt. Der Hauptsitz der Kommission befindet sich in New York. Jedoch befinden sich weitere 14 Niederlassungen in den USA und Puerto Rico. Der derzeitige Vorsitzende und CEO des College Board  ist David Coleman. (Wikipedia zum Stichwort College Board; Stand: 1.2.2023)

Um Missverständnisse auszuschließen: Bei dem umstrittenen – in Florida geradezu umkämpften Advanced Placement Course in African American Studies handelt es sich nicht um einen Test, der den Wissensstand von Schülern und Studenten abfragt. Die Betonung liegt hier auf dem Stichwort Course. Verschiedene Autoren und Wissenschaftler haben Beiträge zu einzelnen Themenfeldern der Geschichte der Afro-Amerikaner geliefert. Diese Darstellungen enthalten die wichtigsten Daten, jedoch auch Kommentierungen und kritische Fragen. Der Advanced Placement Course soll zu selbständigem Denken und Weiter-Forschen anregen. Er richtet sich an Schülerinnen und Schüler im höheren Highschool-Alter und an Studierende im College, also an junge Erwachsene und nicht an Kinder und Jugendliche. Debattiert und umkämpft waren letztlich Fragen wie etwa: Was darf und soll ein Course-Papier über die „Schwarze Geschichte der USA“ enthalten und was nicht? Wie soll und darf dieser noch immer umstrittene Teil der amerikanischen Geschichte jungen Menschen vermittelt werden und wie nicht; vor allem jungen schwarzen Menschen, die rassistische Diskriminierungen selbst erfahren haben? Für sie hat etwa die Tatsache, dass George Floyd unter dem Knie eines weißen Polizisten sein Leben verlor, eine völlig andere Bedeutung als für viele ihrer weißen Kommilitonen. Der New York Times-Kolumnist Charles Blowselbst Afro-Amerikaner – beschreibt, was ihm ein 15 Jahre alter schwarzer Schüler in Orlando, Fl. erzählt hat, als er mit anderen Schülern einen Friedhof an den Gräbern von Schwarzen stand, die von weißen Rassisten ermordet wurden. Etwa am Grab von Julius „July“ Perry, der am Wahltag 1920 zum Wahllokal ging und dort verhaftet wurde. Weiße holten ihn aus dem Gefängnis und lynchten ihn. Die Friedhofstour wurde von einem früheren Professor der Florida International University unter dem Motto „Teach the Truth“ („Lehre die Wahrheit“) organisiert. Der 15-Jährige sprach von der alltäglichen Angst eines schwarzen Jungen: „Man kann es nicht verhindern, man fühlt es einfach.“ Und er beklagt, dass so viele über „seine“ Geschichte nichts wissen. Charles Blow wünscht für die 600.000 Schülerinnen und Schüler in Floridas öffentliche Schulen einen Geschichtsunterricht, der sie mit einbezieht und ihnen nicht ein Gefühl der Angst vermittelt. Geradezu als Kontrastprogramm zitiert er Ron DeSantis aus einem Interview bei Fox News, in dem DeSantis den Advanced Placement Course als Müll und neo-marxistische Indoktrination bezeichnete. (nytimes.com, 8.3.2023; Charles M. BlowThe Other Children in the DeSantis Culture War“). Für den Gouverneur von Florida und seine Bildungsbehörde geht es offensichtlich in erster Linie um Politik und weniger um die Freiheit von Forschung und Lehre.

Bei den Gesprächen mit dem College Board fragten die Vertreter aus Florida voll Misstrauen, ob mit dem Course in African American Studies das „Black Panther Denken“ vorangebracht werden solle. Der Vorwurf der „Woke Indoctrination“ durch die Schulen stand erneut im Raum. So wurde die Entwicklung des Study Course in Florida zum schwierigen Drahtseilakt. Die New York Times stellte in einem ihrer Berichte die Frage:„Wie war zu erklären, dass die „Queer Studies“, die Studie über sexuelle Minderheiten in der afroamerikanischen Community und die Brutalität der Polizei gegen Schwarze nicht mehr erwähnt wurden, dafür aber schwarze Republikaner wie Colin Powell und Condoleeza Rice?“ Das College Board entfernte im Lauf der Verhandlungen die Namen vieler Autoren und Wissenschaftler, die Bezug zur Critical Race Theory, zu queeren Themen oder zum schwarzen Feminismus haben. Auch die Erwähnung des Stichworts „Black Lives Matter“ wurde zurückgefahren. Dafür tauchte ein neues Thema auf: „Black Conservatism“  („Schwarzer Konservatismus“) (nytimes.com, 13.2.2023: „The College Board’s Rocky Path, Through Florida, to the A.P. Black Studies Course”).

In ihren Reportagen berichtet die New York Times detailliert, wie bei den Diskussionen zwischen den Vertretern Floridas und des College Board um Einzelheiten der afroamerikanischen Geschichte gerungen – um nicht zu sagen „gefeilscht“ wurde. Ein Zitat verdeutlicht die tieferen Wurzeln dieser Auseinandersetzungen, die aus europäischer oder deutscher Sicht nur schwer zu verstehen sind, mit denen in den USA jedoch ein emotional hochgradig aufgeladenes Feuer zu machen ist, das Wahlen entscheiden kann: „Dabei geht es um mehr als nur um das, was in einer Schulklasse geschieht. Erziehung und Bildung wurde zum zentralen Punkt einer giftigen politischen Debatte und bei der Entscheidung des College Board, ein Curriculum für eines der umstrittensten Themen des Landes – der Rassengeschichte Amerikas – zu entwickeln, musste mit Kontroversen gerechnet werden. Die Auseinandersetzungen über dieses Curriculum zeigen nicht zuletzt, dass die Vereinigten Staaten ein Land sind, das sich über seine eigene Erzählung, vor allem über die Geschichte der schwarzen Amerikaner nicht einigen kann.“ (nytimes.com, 1.2.2023: „The College Board Strips Down Ist A.P. Curriculum for African American Studies“).

Im republikanisch regierten Florida hat sich die Obrigkeit mit aller Macht in diese Diskussionen eingemischt und tut es noch. Andere Bundesstaaten werden folgen. Dabei entsteht ein vielschichtiges und aggressives Gemenge aus wissenschaftlichen Aussagen und politischen Vorstellungen über Themen wie Sklaverei, Bürgerkrieg, Nordstaaten gegen Südstaten, Umgang mit Minderheiten in der Gesellschaft und, und, und …  Die dabei berührten Fragen und Probleme lassen sich durch Gesetze, Parlamentsabstimmungen oder gar Zensurmaßnahmen nicht beantworten.

Die Überschrift eines der Berichte der New York Times fasst die von mir beschriebene Gemeingelage so zusammen: „Who’s Afraid of Black History?“ – („Wer hat Angst vor der Geschichte der Schwarzen?“). Der so überschriebene Gastbeitrag wurde verfasst von Henry Louis Gates Jr., dem Direktor des Hutchins Center for African and African Anerican Research der Harvard University.

In der Tat kann man den Eindruck gewinnen, die Konservativen in Florida fürchten ein gefährliches, linkes, marxistisches Virus – alles in allem ein wokes Virus – das sich in die Köpfe der jüngeren Generation einschleichen könnte. Ähnlich wie in den 1950er-Jahren, als Joe McCarthy, der Senator von Wisconsin, mit einem Senats-Unterausschuss auf Kommunistenjagd ging und Schauspieler aus Hollywood, Wissenschaftler und auch die US-Army in die Mangel nahm oder gar aus dem Land trieb. 

Henry Louise Gates Jr. zitiert in seinem NYT-Gastbeitrag ein Wort von Dr. Martin Luther King Jr.: Keine Gesellschaft kann ihre hässliche Vergangenheit völlig unterdrücken, wenn deren Auswirkungen bis in die Gegenwart reichen.“

Florida – Die Neuausrichtung der höheren Bildung

Wer mehr über die ideologischen Vorstellungen der Culture Warrior, insbesondere zur Umgestaltung der höheren Bildung lesen will, wird auf der Website des Hillsdale College fündig. Floridas Gouverneur pflegt enge Verbindungen zu dieser Schule in Michigan. Hillsdale College – 1844 gegründet – ein kleines, konservatives, nicht konfessionsgebundenes christliches College mit 1.573 Studierenden kann als Eliteschule bezeichnet werden. Nicht ohne Stolz wird auf der Website vermerkt, dass das College keinerlei staatliche Zuschüsse in Anspruch nimmt, auch nicht indirekt in Form von Stipendien oder Darlehen. Hingewiesen wird jedoch darauf, dass Spenden steuerlich abzugsfähig sind.

Auf der Hillsdale Website veröffentlicht ist die Zusammenfassung eines Vortrags, den Larry P. Arnn, der Präsident des College am 3.11.2022 bei einem Empfang in Santa Clara, Ca. gehalten hat. Die Überschrift des Vortrags: „Education as a Battleground“ („Bildung als ein Schlachtfeld“) macht deutlich, um was es Hillsdale und anderen Culture Warriors geht: Widerstand gegen die staatliche Einflussnahme auf die Erziehung und Bildung der Kinder – seien sie tatsächlich vorhanden oder auch nur eingebildet oder maßlos übertrieben.  „Wer entscheidet, was Kinder lernen?“ fragt Arnn und vertieft seine Frage ganz speziell: „Wer entscheidet, was wir den Kindern über Sex erklären? … Wird dies entschieden durch professionelle Erzieher, die vorgeben, die Experten zu sein? Oder sind dafür die Eltern zuständig, die sich auf ihren gesunden Menschenverstand und ihre fürsorgliche Liebe verlassen können?“ 

Der Hillsdale-Präsident überträgt die alte konservative Forderung nach „weniger Staat“ auf die Bildung und entwickelt daraus einen tiefen Gegensatz zwischen dem Erziehungsrecht der Eltern und den Vorgaben des „Verwaltungsstaates“: Die öffentliche Bildung sei eine wichtige Komponente, um das Verwaltungssystem am Leben zu halten. „Die Wurzeln dieses Systems liegen in Washington D. C. und seine Ranken reichen bis in jede Stadt und jedes Dorf, das eine öffentliche Schule hat.“ (Hillsdale College; Presseveröffentlichung vom 22.3.2022: Hillsdale College Hosts National Leadership Seminar, „America’s Uncertain Future“; Larry P. Arnn: “Education as a Battleground”;  veröffentlicht in der College-Zeitschrift Imprimis, November 2022, Band 51, Ausgabe 11).     

Solche auf das öffentliche Bildungssystem zielenden Anwürfe sind auch in den Aussagen des Gouverneurs von Florida häufig zu finden. Am 31.1.2023 kündigte er an, das staatliche höhere Bildungssystem zu überarbeiten und – wie er sich ausdrückte – die „ideologische Konformität“ zu eliminieren. Dabei soll der inhaltliche Schwerpunkt auf den „Westen“ und sein Wirtschaftssystem gelegt werden, ferner auf das Denken westlicher Philosophen und auf die Kultur der Griechen und der Römer. Ein Kurs über die Zivilisation des Westens soll verpflichtend werden. Kritiker dieses Vorhabens weisen darauf hin, dass dabei die Schwächen des westlichen Denkens beschönigt und die Philosophen der nicht-westlichen Zivilisationen ignoriert werden sollen. Programme zur Förderung von Vielfalt, Gerechtigkeit und Inklusion, wie sie gegenwärtig bei der Ausgestaltung des Lehrkörpers zu berücksichtigen sind, werden verboten und der Schutz des im Dienst erreichten Besitzstandes der Lehrkräfte wird abgebaut. Eine Folge davon wird sein, dass Lehrkräfte leichter entlassen werden können.

Mitte Februar 2023 haben republikanische Mitglieder des Abgeordnetenhauses von Florida den inzwischen heiß diskutierten Entwurf des „House Bill 999“ auf den gesetzgeberischen Weg gebracht. Dieses breit angelegte Gesetz enthält neben verwaltungsrechtlichen Bestimmungen für das Schul- und Bildungssystem vor allem auch Vorschriften zum Inhalt des Curriculums. Ein vom Gouverneur zu ernennendes Gremium soll das Recht erhalten, den rechtlichen Status und Besitzstand jedes Mitglieds einer Fakultät zu überprüfen und berechtigt werden, ohne Rücksicht auf etwaige Einwände der Fakultät letztlich über Einstellungen zu entscheiden. 

Jamelle Bouie beschreibt das neue Gesetz in der New York Times als Teil des Krieges von Gouverneur DeSantis gegen das öffentliche Bildungssystem und – wie er es immer wieder benennt – gegen die Wokeness. Das Ziel dabei ist, die staatlichen Colleges und Universitäten einer strikten politischen Kontrolle zu unterwerfen. In den inhaltlichen Vorgaben zur Gestaltung des Curriculums für das Fach „Amerikanische Geschichte“ wird festgelegt, den Aufbau der neuen Nation „übereinstimmend mit den universellen Prinzipien“ zu beschreiben, „die in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 verankert sind.“ Verständlicher ausgedrückt:  Die amerikanische Geschichte soll als großes Werk der Gründerväter dargestellt werden, an dem es nichts zu kritisieren oder gar zu verurteilen gibt oder anders formuliert: Die amerikanische Geschichte soll als den Aufbau einer perfekten und „schönen neuen Welt“ vermittelt werden, in der alles im Lot war und auf die man noch heute stolz sein muss.

Jamelle Bouie weist darauf hin, dass diese Vorstellung und vor allem der Verweis auf die Unabhängigkeitserklärung keineswegs der gängigen Auffassung über die Geschichte der jungen Nation entspricht. Bouie zitiert dazu keinen Geringeren als Abraham Lincoln: „Die Behauptung, dass alle Menschen gleich geschaffen wurden, hatte bei der Loslösung von Großbritannien keine praktische Bedeutung und wurde in die Unabhängigkeitserklärung nicht deshalb – zur Begründung der Loslösung – sondern für spätere Zeiten eingebaut.“ Kermit Roosevelt III, Professor für Verfassungsgeschichte an der University of Pennsylvania, formulierte noch deutlicher: „Hier wird die Unabhängigkeitserklärung falsch verstanden! Die Declaration of Independence war weder eine Erklärung über abstrakte Menschenrechte noch eine Erklärung über konkrete Menschenrechte. Bei der Declaration of Independence ging es ganz einfach um Unabhängigkeit.“ (Quellenhinweise: nytimes.com, 31.1.2023: „DeSantis Takes On the Education Establishment, and Builds His Brand“; nytimes.com, 26.2.2023; Jamelle Bouie„1776 Is Not Just What Ron DeSantis Wants It to Be”).

Am 9.3.2023 hat die American Historical Association (AHA), gestützt auf die Unterschriften von 84 Organisationen, eine scharfe Stellungnahme zum Entwurf des Florida House Bill 999 veröffentlicht. Zur Darstellung der Bedeutung des Protestschreibens will ich aus der englischen Originalfassung der AHA zitieren:

„We express horror (not our usual „concern“) at the assumptions that lie at the heart of this bill and its blatant and frontal attack on priciples of academic freedom and shared governance central to higher education in the United States. Florida’s legislature has on its agenda a dagger to the heart of an American institutional framework that has long been the envy of the world (and a source of billions of dollars in revenue from international students”).

(„Wir erklären unser Entsetzen (nicht unsere übliche „Beunruhigung“) über die zentralen Annahmen dieses Gesetzentwurfs und seinen eklatanten und frontalen Angriff auf die Prinzipien akademischer Freiheit und gemeinsamer Kontrolle, die von zentraler Bedeutung für die höhere Bildung in den Vereinigten Staaten sind. Floridas Gesetzgeber planen einen Stich ins Herz eines amerikanischen Rahmenwerks, für das uns die Welt seit Langem beneidet (und das die Quelle ist für Milliarden Dollar an Staatseinnahmen von internationale Studierenden ist“).

American Historical Association (9.3.2023)

Der Potest der AHA richtet sich sowohl gegen die nie da gewesene Kontrolle der Lehrkräfte bei der Behandlung der Amerikanischen Geschichte als auch gegen das Verbot, bestimmte wissenschaftliche Ansichten, etwa die Critical Race Theory im Unterricht vorzutragen. „Die Vorstellung, dass Rassismus ein zentraler Tatbestand in der geschichtlichen Entwicklung Amerikas ist – und in den Institutionen, Kulturen und in der Praxis auch immer gegenwärtig ist – gehört zweifellos zum Mainstream der historischen Lehre …  Bemerkenswert ist, dass das House Bill 999 den Begriff Critical Race Theory öfter nennt als die Begriffe Demokratie, Freiheit (Freedom) und persönliche Freiheit (Liberty) zusammen … Hierbei geht es nicht nur um Florida. Es geht um das Herz und die Werte der höheren öffentlichen Bildung in den Vereinigten Staaten und über die Rolle von Geschichte, Historikern und des Geschichtsbewusstseins im Leben der nächsten Generation in Amerika“ (SHS Statement Opposing Florida House Bill 999 (March 2023).

Die heftige Kritik der American Historical Association, die ich hier in Auszügen zitiert habe, lässt sich in einer Reihe von Fragen zusammenfassen:

 Um diese Fragen geht es in Florida:

  • Wer hat das Recht zu bestimmen, wie Geschichte zu lehren und auszulegen ist?
  • Wie frei sind Geschichtswissenschaftler, zu forschen und zu publizieren und wie gebunden sind die Lehrkräfte in ihrer alltäglichen Arbeit, diese oder jene Auslegung zu verwenden?
  • Wie frei ist die Geschichtswissenschaft und was kann die Obrigkeit anordnen?

In Florida ist eine Auseinandersetzung darüber in Gang gekommen, die an die Zeiten von Galileo Galilei erinnert. Dabei besteht der Unterschied lediglich darin, dass Galilei um sein Leben fürchten musste, die Historiker im heutigen Florida aber lediglich um ihren Job.

DeSantis macht Ernst – Der Umbau des New College of Florida

Der Gouverneur von Florida und Hoffnungsträger für Teile der Republikanischen Partei in Amerika hält nicht nur Culture War-Reden, er hat damit begonnen, seine Vorstellungen über die Umgestaltung der höheren Bildung in die Tat umzusetzen. Der Umbau des New College of Florida in Sarasota, Fla. ist in vollem Gang und hat landesweite Aufmerksamkeit geweckt. Die New York Times hat mehrfach darüber berichtet. Gouverneur DeSantis hat als Ziel vorgegeben, das New College in einen Stützpunkt des Konservatismus im Sinne von Hillsdale umzubauen. Das New College of Florida mit etwa 700 Studierenden sah sich bisher als progressiv und als „Gemeinschaft von Freidenkern“. Die Pläne der Regierung von Florida werden als Angriff auf die akademische Freiheit bezeichnet. 

Zwei Tatbestände mögen erklären, warum dieses kleine und nicht sehr bekannte College ins Visier der Culture Warrior geriet und nun zu deren Experimentierfeld werden soll:

  • Das New College of Florida wird in Fachkreisen als progressivste Schule der 12 öffentlichen Universitäten des Bundesstaats angesehen. Es hat jedoch Schwierigkeiten, genügend Studierende zu erreichen. DeSantis kritisierte die Aufnahmeregeln des College: Diversity and Equity (Vielfalt und Gerechtigkeit/Billigkeit) – sei der „ideologischen Filter“, durch den Studierende von der Schule ferngehalten werden sollen.
  • Die New York Times zitiert die Mutter eines Studierenden, der sich als L. G. B. T. Q. geoutet hat: „Er wurde in der High School drangsaliert und fand nun einen kleinen sicheren Ort in diesem immer feindlicher werdenden Bundesstaat.“ Sie habe darum gebetet, dass DeSantis das College nicht ins Visier nehme – „Aber er tat es.“

Wie kann es gelingen, innerhalb kurzer Zeit – die New York Times schreibt von „25 tumultreichen Tagen im Januar“ – ein College total auf den Kopf stellen? 

Zunächst entließ der Gouverneur 6 der 13 Trustees (Mitglieder des Verwaltungskuratoriums) und ersetzte sie mit seinen Verbündeten aus dem streng konservativen Lager, darunter Matthew Spalding, ein Professor für Verwaltungsrecht aus Hillsdale. Matthew Lepinski, der bisherige Rektor, hatte zunächst gehofft, mit dem neuen Kuratorium einen Modus Vivendi zu finden. Er wurde am 31.1.2023 entlassen. 

Einer der neu ernannten Trustees, Christopher Rufo vom Manhattan Institute – im Gastbeitrag  von Thomas B. Edsall in der New York Times wurde er als „konservativer Ideologe“ bezeichnet – beschreibt die Zukunftspläne für das New College of Florida wie folgt: „Wir werden die schlecht arbeitenden ideologisch unterwanderten akademischen Bereiche schließen und neue Lehrkräfte einstellen. Die Studentenschaft wird sich im Laufe der Zeit verändern: Einige der jetzigen Studenten werden freiwillig gehen; andere werden ihren Abschluss machen; dann werden wir Studenten aufnehmen, die unserer Mission zustimmen.“ (Quellen zu diesem Abschnitt: nytimes.com, 31.1.2023: „DeSantis Takes On the Education Establishment, and Builds His Brand“; nytimes.com, 14.2.2023: „DeSantis’s Latest Target:  A Small College of ‘Free Thinkers’”; American Historical Association: AHA Statement OpposingFlorida House Bill 999 (March 2023); nytimes.com, 8.3.2023; Gastbeitrag von Thomas B. Edsall„The Death Knell for Higher Education in Florida“; nytimes.com, 29.4.2023; Michelle Goldberg„This Is What the Right-Wing Takeover of a Progressive College Looks Like”).

Culture War gegen Mickey Mouse

Vielleicht folgt Floridas Gouverneur dem alten Spruch „Viel Feind’ viel Ehr”. Vielleicht will er seiner Basis auch beweisen, dass er sich nicht scheut, mit dem größten Arbeitgeber und Betreiber der beliebtesten Einrichtung im Bundesstaat, der Walt Disney Company und dem Walt Disney World Resort in Orlando eine Fehde auszufechten. Vielleicht hat er sich auch einfach nur übernommen. Bei Walt Disney in Orlando sind 75.000 Menschen beschäftigt. Weitere 13.000 Arbeitsplätze waren geplant, stehen jedoch seit Kurzem auf der Kippe. Der Konzern hat 2022 dem Bundesstaat 1,2 Mrd. Dollar Steuern bezahlt. (sueddeutsche.de, 27.4.2023: „Micky Maus gegen Ron DeSantis“). Selbst die eigenen Parteifreunde verstehen nicht, warum DeSantis ausgerechnet die Mickey Mouse aufs Korn genommen hat. Nikki Haley aus South Carolina,  die frühere UN-Botschafterin unter Trump – sie hat bereits ihre Kandidatur für 2024 angekündigt – sagte wahrscheinlich mit einem Augenzwinkern: „Hey Disney, mein Heimatstaat wird die 70.000 + Jobs gerne annehmen, wenn ihr Florida verlassen wollt.“ Donald Trump bezeichnete das Vorgehen von DeSantis als einen unnötigen politischen Stunt. Beim Lesen der Berichte über den Streit mit Disney fragte ich mich, ob es in Florida keine größeren Probleme gibt. 

Florida hat der Walt Disney Company vor Jahren besondere Steuervergünstigungen und für die Gestaltung und Verwaltung des Geländes in Orlando große Selbständigkeit – eine Art Selbstverwaltungsrecht – eingeräumt. Darum geht es aber bei bereits im vergangenen Jahr ausgebrochene Fehde nicht. Diese hat ideologische Gründe und ist inzwischen seit dem 26.4.2023 gerichtshängig. „Disney ist DeSantis zu links.  oder zu woke, wie das heute und vor allem von DeSantis genannt wird“, schreibt die Süddeutsche Zeitung.  „Gouverneur DeSantis will den Freizeitpark des Disney-Konzerns in Florida stärker kontrollieren, weil dieser ihm zu woke ist“ – will heißen: zu liberal, berichtet die Zeitung. (sueddeutsche.de, 27.4.2023: „Micky Maus gegen Ron DeSantis“).   

Der Streit hatte relativ harmlos begonnen. Angestoßen durch ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hatte die Spitze von Disney im vergangenen Jahr das von der republikanischen Mehrheit in Florida verabschiedete Gesetz kritisiert, das verbietet, an Grundschulen über sexuelle Orientierung und Genderidentität aufzuklären. Auch andere amerikanische Unternehmen beobachten die gesellschaftlichen Entwicklungen im Land genau und beteiligen sich immer wieder an der Diskussion sozio-kultureller Fragen. Die Süddeutsche Zeitung beschrieb die Reaktionen der Regierung von Florida so: Walt Disney wurde für DeSantis zu Woke Disney und wollte Vergeltung üben. Der Jahrzehnte alte Vertrag, der Disney eine Art Souveränität über das Parkgebiet einräumt, sollte gekündigt werden und als DeSantis damit drohte, die Steuervergünstigungen zu kassieren, reichte der Konzern Klage ein. Falls sich die Kontrahenten nicht außergerichtlich verständigen, wird es zu einem hochkarätigen Rechtsstreit kommen, bei dem es nicht in erster Linie um Geld, sondern um das im Ersten Zusatzartikel der US-Verfassung verankerte Recht auf freie Meinungsäußerung geht. Disney fühlt sich durch die Drohungen der Obrigkeit in der Ausübung dieses Rechts verletzt. Dazu gibt es ältere Präzedenzentscheidungen, die den Gouverneur vor Gericht schlecht aussehen lassen könnten. „Disney hat seine Meinung zur staatlichen Gesetzgebung geäußert und wurde dann vom Staat bestraft“, steht in der Klagebegründung. Zwar weiß man nie, wie ein Gerichtsverfahren endet. Aber das O’Hare-Urteil des Supreme Court von 1993 macht deutlich: „Die Verweigerung von staatlichen Vorteilen ist eine Form staatlicher Kontrolle und wenn dies mit dem ausgesprochenen Zweck geschieht, jemand zu bestrafen, der das Recht auf freie Meinungsäußerung ausübt, dann wird die US-Verfassung verletzt …  Dies gilt heute und es wird – falls Disney gewinnt – weiterhin gelten. Sollte Disney jedoch verlieren, ist Amerikas erstes Freiheitsrecht in Gefahr und der Culture War eskaliert außer Kontrolle.“ (Quellen zu diesem Abschnitt: nytimes.com, 26.4.2023: „Man vs. Mouse: Ron DeSantis Finds Taking On Disney Is a Dicey Business“; sueddeutsche.de, 27.4.2023: „Micky Maus gegen Ron DeSantis”; nytimes.com, 30.4.2023; David French„Disney v. DeSantis:  How Strong Is the Company’s Lawsuit?”).

Disney zieht die Reißleine 

Nach den ständigen Sticheleien von DeSantis und seinen Unterstützern setzte der Konzern noch einen drauf. Am 18.5.2023 kündigten Robert A. Iger und Josh D’Amaro an, Disney werde die 2021 beschlossene Verlegung einer Abteilung des Konzerns von Kalifornien nach Florida nicht weiter verfolgen. Geplant war, dafür 1,3 Mrd. Dollar in der Nähe des Disney World Resort in Orlando zu investieren und 2.000 Arbeitsplätze zu verlegen. Disney hatte die Entscheidung damals – gegen den heftigen Protest der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – mit dem wirtschaftsfreundlichen Klima in Florida begründet. Der Orlando Business Journal hatte noch im Januar das Projekt als „einen wichtigen Antrieb für die Region“ bezeichnet.

Die Rücknahme der Verlegung wurde von Disney mit „veränderten Geschäftsbedingungen“ begründet. Ohne DeSantis namentlich zu nennen, machte Robert A. Iger, der oberste Disney-Chef, jedoch in Frageform klar, was letztlich den Ausschlag gab: „Will der Bundesstaat, dass wir mehr investieren, mehr Personal beschäftigen und mehr Steuer zahlen oder nicht?“ Schon im März hatte Disney den Gouverneur als „wirtschaftsfeindlich“ bezeichnet.  

Die New York Times hat über die Entscheidung von Disney und die möglichen Hintergründe ausführlich berichtet. Zitiert wird unter anderem ein Sprecher des Gouverneurs, der erklärte, Disney habe zwar vor knapp zwei Jahren das Projekt verkündet, aber inzwischen sei nichts geschehen. Angesichts finanzieller Probleme des Konzerns – rückläufige Märkte und fallende Börsenkurse – sei es nicht überraschend, dass nun eine wirtschaftliche Umstrukturierung erfolge und das erfolglose Projekt gestrichen werde. Ob dies so zutrifft oder ob es sich dabei darum handelt, den Gouverneur aus der Schusslinie zu bringen, wird im NYT-Bericht nicht weiter ausgeführt. Ein Körnchen Wahrheit mag im Hinweis auf wirtschaftliche Probleme bei Disney liegen, denn ursprünglich sollte der neue Standort in Florida bereits im kommenden Jahr in Betrieb gehen. Doch angesichts einer auf die Pandemie zurückzuführenden Verzögerung war bereits im Juli 2022 die Verschiebung auf 2026 beschlossen worden. Falsch ist jedoch die Aussage des Sprechers von DeSantis, es sei bei dem Projekt „nichts“ geschehen. Disney teilte mit, bereits mehrere Millionen Dollar aufgewendet zu haben, einschließlich der Umzugskosten für ca. 200 Arbeitskräfte, die bereits nach Florida verlegt wurden. Der Bürgermeister des Orange County, zu dem Orlando gehört, sagte, dies seien die Konsequenzen dafür, dass es kein Klima der Zusammenarbeit zwischen dem Bundesstaat Florida und der Wirtschaft gebe. Bedeutend schärfer formulierte die Demokratin Anna Eskamani aus Orlando, DeSantis sei ein Arbeitsplatz vernichtender Schwachkopf, der sich mehr um seine politischen Ambitionen und Kulturkriege kümmert als um Florida und seine Zukunft.“ (Quellen für diesen Abschnitt: nytimes.com, 18.5.2023: „Disney Pulls Plug on 1 Billion Dollar Developement in Florida“; sueddeutsche.de, 19.5.2023: „Dann gibt es eben keine Milliarde Dollar von Disney”).

Disney mag nur ein Nebenkriegsschauplatz der politischen Auseinandersetzungen in Florida sein. Deutlich wird dabei jedoch, dass DeSantis bei seiner Kampagne um die Präsidentschaft 2024 voll auf die Thematik des Culture War setzen wird. Von Verhandlungen zwischen Florida und Disney zur Rettung des Verlegungsprojekts wird in der von mir eingesehenen Presse nicht berichtet.   

In einem Essay beleuchtet Anthony Zurcher, der Nordamerika-Korrespondent der BBC auf deren Website die Hintergründe des Konflikts der Regierung von Florida mit dem Disney-Konzern. Was verspricht sich Ron DeSantis davon, den größten und renommiertesten Arbeitgeber in Florida auf die Hörner zu nehmen?  Anthony Zurcher zitiert Prof. Aubrey Jewett von der University of Central FloridaJewett geht davon aus, dass das traditionelle Konzept, das die Republikaner bisher zusammenhielt – die konservativen Vorstellungen über den freien Markt – heute nicht mehr trägt. „Es gibt heute eine signifikante Anzahl Republikaner, die dies nicht mehr unterschreiben.“ Untersuchungen der Wahl von 2016 haben ergeben, dass die wesentliche Trennlinie zwischen Donald Trump und Hillary Clinton nicht wirtschaftlich, sondern sozio-kulturell begründet war. 

Darauf baut DeSantis und stellt Culture War – Themen in den Vordergrund seiner Kampagne. Deshalb erscheint es auch folgerichtig, dass DeSantis – so Erin Huntley, die Vorsitzende des Republican Executive Committee for Orange County, in dem der Disney Park liegt – nicht nachgibt. Für Huntley geht es bei der Auseinandersetzung mit Disney um Elternrechte, Erziehung und Bildung, bei der auf der einen DeSantis und auf der anderen Seite Disney steht. Diese Vorstellung macht deutlich, dass sich die Rangfolge der Themen bei den Republikanern verschoben hat: Das Wirtschaftliche ist nach hinten gerutscht, sozio-kulturelle Themen traten in den Vordergrund und wurden ideologisch angeheizt.

Eine Ipsos-Umfrage vom April diesen Jahres bestätigt diese Veränderung: 64 Prozent der Republikaner glauben, dass DeSantis zu Recht versucht, den Sonderstatus von Disney World abzubauen. Nur 35 Prozent sind der Meinung, dass DeSantis Disney bestraft, weil es von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch macht. Allerdings sieht dies in der breiten Öffentlichkeit anders aus: 82 Prozent der Demokraten und 63 Prozent der Republikaner sind gegen politische Kandidaten, die Gesetze unterstützen, durch die Unternehmen für ihre sozio-kulturelle Einstellung bestraft werden. 

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Aussage von Randy Ross, der 2016 im Orange County den Wahlkampf für Donald Trump geleitet hat und der im Essay der BBC als homosexuell beschrieben wird. Ross bezeichnet die Disney-Fehde von DeSantis als entscheidenden Fehler, der die Republikaner zu weit nach rechts verschiebt. Dadurch erhalte Florida ein Bibel-Gürtel-Image, wie dies die Rechten wünschen. „DeSantis hat sich Feinde unter den unabhängigen und den moderaten Republikanern gemacht.“ Der nächste Satz im BBC-Essay enthält meines Erachtens eine vernichtende Kritik für DeSantis: „In der mangelnden Bereitschaft, die Sache hinter geschlossenen Türen zu regeln, zeigt sich die dürftige politische Urteilsfähigkeit des Gouverneurs.“ (BBC.com, 26.4.2023; Anthony Zurcher: „Ron DeSantis thinks his feud with Disney will pay off. Here’s why”). 

Donald Trump hat vor allem 2026 – und auch später – die Wissenschaft und auch die politischen und Verwaltungseliten in Washington D. C. angegriffen. DeSantis greift Teile der Wirtschaft an, weil sie seine sozio-kulturellen Vorstellungen kritisiert. Vor dieser Entwicklung wird verstehbar, warum die republikanische Mehrheit im Repräsentantenhaus sich trotz heftiger Warnungen aus der Wirtschaft und von der Wall Street beim Streit um die Schuldenobergrenze sich ungeheuer schwertut und den Eindruck erweckt, ein Einbruch der US-Wirtschaft kümmere sie überhaupt nicht. Diese Auseinandersetzung mag den Eindruck bestätigen, die Wirtschaft und die Wall Street hätten an Gewicht verloren.

Neben den persönlichen Auftritten der Kandidatinnen und Kandidaten dürften ihre Aussagen während der Kampagne 2024 hoch interessant werden   

DeSantis will 2024 kandidieren

Am 24.5.2023 hat der Gouverneur von Florida seine Kandidatur für die Präsidentschaft 2024 bekannt gegeben. Was als ganz außergewöhnliches Ereignis zusammen mit Elon Musk auf Twitter geplant war, wird vor allem wegen aufgetretener technischen Schwierigkeiten in Erinnerung bleiben. Die New York Times schrieb, der lang erwartete offizielle Einstieg von DeSantis in den Präsidentschaftswahlkampf 2024 sei beim Start durcheinandergeraten. (nytimes.com, 24./25.5.2023: „In Shaky Start, Ron DeSantis Joins 2024 Race, Hoping to Topple Trump“).

Unmittelbar nach der Erklärung von DeSantis begann in den Medien die Diskussion darüber, wer von den Beiden – Trump oder DeSantis – die größten Chancen haben könnte, der Kandidat der Republikaner zu werden. Die Meinungen sind verständlicherweise geteilt.

Am 24.5.2023 veröffentlichte die New York Times zwei Gastbeiträge zu diese Thema:

Rick Lowry, der Herausgeber der National Review sieht Vorteile für Ron DeSantis. Lowry hält aus einer Reihe von Gründen trotz des starken Abfalls von DeSantis bei den Umfragewerten eine Trendwende für möglich und überschrieb seinen Beitrag mit „He’s Not Dead Yet“ („Er ist noch nicht tot“). 

Ganz anders ist die Einschätzung von Frank Bruni in seinem NYT-Meinungsbeitrag mit der Überschrift „The DeSantis Delusion“ („Die DeSantis Täuschung“). Bruni beginnt seinen Beitrag mit dem Thema Abtreibung: „Angeblich ist Ron DeSantis wählbarer als Donald TrumpAber warum hat er dann für Florida ein Verbot fast aller Abtreibungen ab der sechsten Schwangerschaftswoche unterschrieben? Dies ist zwar Manna für christliche Konservative, die bei den Vorwahlen der Republikaner von Bedeutung sind, aber es wird zur Belastung bei Moderaten und Unabhängigen, die danach entscheiden werden. Dies widerspricht der Aussage von DeSantis, er sei die Version von Trump, die Biden tatsächlich schlagen könne. Sein Versuch wird zu einem traurigen kleinen Pfannkuchen.“ 

Und Bruni stellt eine gewichtige Frage: „Wollen die republikanischen Wählerinnen und Wähler überhaupt eine Alternative zu Trump? Die Umfragen belegen das Gegenteil.“

Ich bleibe bei meiner Prognose, dass Trump letztlich der Kandidat der Republikaner sein wird. Dies ist – nach Abschätzung der aktuellen Ausgangslage – meine Einschätzung, bedeutet aber nicht, dass ich Trump für den besseren Kandidaten halte. Weder Trump noch DeSantis sollten nach der Wahl 2024 ins Weiße Haus einziehen. 

Und ich bleibe bei meiner Prognose, dass Biden auch der nächste Präsident der Vereinigten Staaten sein wird. Denn ich schätze die Mehrheit der amerikanischen Wählerinnen und Wähler so bedachtsam und so pragmatisch ein, dass sie das Experiment Trump nicht wiederholen werden. 

Noch ist  Florida nicht verloren …

Kontrolle – wenn nicht Zensur – von Bibliotheken, Themen, die im Schulunterricht nicht behandelt werden dürfen, Umbau der höheren Bildung, Umdeutung und Weichspülung von Teilen der amerikanischen Geschichte, ideologische Fehden mit Wirtschaftsunternehmen … Die Liste ließe sich verlängern. Insbesondere der Gouverneur von Florida, aber auch seine Republikanische Partei irrlichtern herum und scheinen auszutesten, mit welchen Themen die Wählerschaft erreicht werden kann. Eine allseits verbindliche Agenda gibt es nicht. Culture War-Themen mögen DeSantis und seiner Partei bei den Vorwahlen Erfolge einbringen. Ob damit die eigentliche Wahl im November 2024 zu gewinnen ist, ist zumindest fraglich.  

„Der Woke-Verstandes-Virus frisst das Hirn der Republikaner auf“, schrieb der New York Times- Kolumnist Jamelle Bouie am 2.5.2023. Nicht wenige Konservative reden gegenwärtig in einer Sprache und vertreten Vorstellungen, die bei vielen Amerikanern nicht ankommen. Ronna McDaniel, die Vorsitzende des Republican National Committee hat die Kandidatinnen und Kandidaten ihrer Partei aufgerufen, das Thema Abreibung 2024 frontal anzugehen. Sie sollten sich nicht zieren und offen sagen: „Ich bin stolz, für das Leben einzutreten.“ DeSantis hat in Florida ein Gesetz unterschrieben, das eine Abtreibung ab der 6. Schwangerschaftswoche verbietet. Trump sagte dazu: „Er unterschrieb 6 Wochen und viele Leute der Pro-Life-Bewegung meinen, dies sei zu hart.“

Jamelle Bouie zitiert DeSantis’ Aussagen über den  Woke-Mind-Virus, der eine Form des kulturellen Marxismus sei. Was immer dies auch konkret bedeuten mag: Kultureller Marxismus in Amerika? Bouie stellt dazu fest: „Die Republikanische Partei ist sonderbar geworden. Nicht nur die Politik der Republikaner bewegt sich außerhalb des Mainstream, die Partei selbst ist sehr merkwürdig geworden.“ Jerry Falwell Jr., der frühere Präsident der evangelikalen Organisation Liberty und stramme Trump-Anhänger macht sich lustig über den religiösen Eiferer Ron DeSantis:„Ich habe überhaupt nichts gegen DeSantis, doch ich denke, er ist noch nicht geeignet für die Hauptsendezeit“ und fügte geringschätzig hinzu, der Gouverneur sehe aus wie ein kleiner Junge.

Mit Culture War allein mag DeSantis eventuell der Kandidat der Republikaner für 2024 werden – falls er taktisch und rhetorisch geschickt genug ist, um Donald Trump bei den republikanischen Vorwahlen zu schlagen, doch er wird damit kaum Wechselwählerinnen und Wähler gewinnen können. Eine kleine Notiz unter „Klatsch & Tratsch auf der Bunten Seite der Heilbronner Stimme zeigt, wie weit sich die Culture Warrior in den USA von der Wirklichkeit ihres Landes entfernt haben. Die in Köln geborene Transgender Sängerin Kim Petras (30) hat im Februar zusammen mit dem Sänger Sam Smith einen Grammy in der Kategorie Pop Duo gewonnen. Die in Los Angeles lebende Deutsche ist die erste Transgender-Künstlerin, die in dieser Kategorie gewinnen konnte. Mit Verboten und Diskriminierung wollen die Culture Warrior die L .G. B. T. Q.- Community an den Rand der Gesellschaft drängen, doch die Gegenbewegung läuft. DeSantis hat zwar innerhalb weniger Wochen das kleine New College of Florida umkrempeln können. Doch mit dem Umkrempeln des gesamten Systems der höheren Bildung in Florida wird er bis zur Wahl 2024 nicht fertig sein. 

Um eine Chance bei der Wahl 2024 zu haben muss DeSantis bis zum Ende der Vorwahlen und darüber hinaus in den Schlagzeilen bleiben. Ich wage die Prognose, dass nicht DeSantis sondern Donald Trump das Rennen um die republikanische Kandidatur machen wird. Dann kommt es zur Neuauflage des Duells Biden ./. Trump. Bei der letzten Wahl war das Rennen völlig offen. Nach heutigem Stand ist der angeschlagene Donald Trump erneut schlagbar. Joe Biden hat zwar noch immer schlechtere Umfragewerte, doch er hat innen- und außenpolitisch einiges vorzuweisen. Außenpolitisch hat er die westliche Welt wieder geeint und erreicht, dass die USA die unangefochtene Führungsmacht des Westens sind. Das Duell Trump ./. DeSantis um die Kandidatur der Republikaner dürfte hässlich werden und DeSantis dürfte es nicht als strahlender Sieger verlassen. Trump ist der erfahrenere Showman und er wird DeSantis einfach lächerlich machen. (Quellen für diesen Abschnitt: nytimes.com, 14.4.2023: „DeSantis Attempts to Woo Young Evangelicals“; nytimes.com, 25.4.2023: „Analyses: Biden Faces Headwinds, but Democrats See Reasons for Optimism”; nytimes.com, 2.5.2023; Jamelle Bouie: „The ‘Woke Mind Virus’ Is Eating Away at Republicans’ Brains”; Heilbronner Stimme, 17.5.2023: „Klatsch & Tratsch – Kim Petras).


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