Beitragsfoto: Weihnachtsbaum auf Hand | © Pixabay
Vor Kurzem befanden sich beide Söhne zeitgleich auf der Durchreise in Heilbronn und stellten erstaunt fest, dass der Advent bei uns im Hause noch nicht angekommen war. Keine fünf Minuten später hatte ich den Weihnachtsbaum aus dem Keller geholt, aufgeklappt und mit Strom versorgt. Auch der Adventskranz war sehr schnell aufgestellt, denn er ist ebenfalls aus Metall und lagert wie der Baum im Keller. Zum Glück hatte ich nach letztem Silvester sämtliche im Haus vorhandenen Wachsreste zu Kerzen gegossen, sodass auch die erste Kerze angezündet werden konnte.
Gegossen und nicht wie bei Bienenwachs üblich gezogen, da ich die neuen Kerzen dem bereits vorhandenen Adventskranz anpassen wollte. Beim Gießen ignorierte ich die in meiner Kindheit gemachten Erfahrungen und verwandte einfach die Dochte, die ich gerade fand, was zu einem Missverhältnis zwischen beiden Umfängen führte. Aber da ich die daraus resultierenden Reste wieder einschmelzen kann, ist dies nur eine kleine Un-Schönheit, die zudem dem heutigen bundesdeutschen Esprit gaulois entspricht: mehr Schein als sein.
Die besagte Durchreise unserer beiden Söhne lässt mich sogleich zu den positiven Dingen dieses nunmehr ausklingenden Jahres kommen. Der Älteste hat sich dieses Jahr verlobt, gleich nachdem er seine akademische Ausbildung erfolgreich beendet hatte und sich nun Pädagoge mit einem entsprechenden Universitätsabschluss nennen darf. Dabei stellte er meine damalige Leistung in den Schatten, da er zwei Tage weniger für seine Abschlussarbeit benötigte und zudem dafür auch noch eine bessere Gesamtnote erzielte. Inzwischen hat er auch seine Ausbildung zum Infanterieoffizier abgeschlossen und verfügt nun zusammen mit seinem früheren Abschluss als Notfallsanitäter über gleich drei vollwertige Berufsabschlüsse.
Der Jüngste trat im letzten Monat in Stuttgart, nachdem er zwei Studien erfolgreich abgeschlossen hat, seine erste Arbeitsstelle in einem Ministerium an und bezog dort auch gemeinsam mit seiner besseren Hälfte seine erste Wohnung — einmal von den verschiedenen Studentenbuden abgesehen.
Das dürfte es aber auch mit dem Erfreulichen in diesem Jahr gewesen sein. Und so war die Adventszeit auch schnell wieder vergessen. Erst als gestern spät abends die Anfrage kam, wo denn mein monatliches Rundschreiben bliebe, wurde ich erneut an das bevorstehende Jahresende erinnert. Keine zwanzig Minuten später war das Dezemberrundschreiben der EUROPA-UNION Heilbronn verschickt und ich ärgerte mich sofort ein wenig darüber, dass ich es vor dem Versenden nicht nochmals durchgelesen hatte. Es gibt dort ein paar Rechtschreib- und Grammtikfehler zu viel, sodass ich nun auf die Idee kam, schon jetzt meinen Weihnachtsbrief für dieses Jahr zu verfassen — ich gehe davon aus, dass sich in den kommenden Tagen mein Jahr nicht mehr viel ändern wird.
Schon seit längerem hatte sich meine Mutter verstärkt um meinen Vater gekümmert, der aufgrund seines fortgeschrittenen Alters immer mehr Unterstützung benötigt. Im September geschah dann das Unerwartete, nämlich dass meine Mutter stürzte und sich dabei schwere Hirnverletzungen zuzog. Als Resultat davon befindet sie sich nun in einem Pflegeheim und mein Vater besucht sie dort täglich. Gäbe es meine bessere Hälfte nicht, wüsste ich nicht, wie ich mit der aktuellen Situation zurechtkommen könnte. Kaum sind die eigenen Kinder aus dem Haus, darf man sich um die eigenen Eltern kümmern. Der Unterschied dabei ist, dass sich Kinder zum Positiven entwickeln.
Aber auch hier gibt es Erfreuliches zu berichten, denn ich habe nun wieder mehr Verbindung zu jenen Familienteilen, die schon länger Heilbronn den Rücken gekehrt haben. Manchmal frage ich mich selbst, ob es wirklich schlau war, wieder nach Heilbronn zurückzukehren.
Das wirklich Spannende für mich ist es aber, dass sich meine Eltern bis heute noch selber um ihre „beruflichen“ Angelegenheiten kümmern und ich dieses nun in einem fliegenden Wechsel mit übernehmen darf. Und so war es vielleicht gar nicht so schlecht, dass ich im Juni von meinen Mitbürgern nicht zum Gemeinderat gewählt wurde und auch ganz folgerichtig mein Amt als Vorsitzender der Freien Wähler zur Verfügung stellte; so hoffe ich, dass ich bis zum Jahresende in Gänze von dieser Aufgabe entlastet bin. Zumindest die Stadtverwaltung hat vor Kurzem ihre Verfolgung eingestellt, was durchaus hoffen lässt, dass wir in diesen schwierigen Zeiten auch bei uns noch über ausreichend Reste von Demokratie, Recht und Ordnung verfügen.
Dieses Jahr habe ich weitere meiner ehrenamtlichen Tätigkeiten eingestellt, auch wenn ich manchmal noch das Vorlesen an der Grundschule und anderen Einrichtungen vermisse. Weniger die Nachhilfestunden bei den etwas älteren Schülern, denn diese wollen tatsächlich keine Hilfe, sondern streben ihren Eltern nach, die als völlig unnütze Mitglieder unserer Gesellschaft höchstens als Verbraucher ihre eigene Existenz rechtfertigen können. Da man Menschen nicht verhungern lassen kann, bleibe ich meseno weiterhin erhalten.
Meine Aktivitäten bei der EUROPA-UNION habe ich auch dieses Jahr beibehalten, wobei aber meine bessere Hälfte und ich uns immer mehr auf die lokalen Aktivitäten beschränken. Die Gründe hierfür sind vielfältig und sicherlich auch der Gesamtsituation geschuldet. Interessanter Weise habe ich dieses Jahr mein Engagement an der Hochschule Heilbronn sogar ein wenig ausgebaut, werde es aber aufgrund der dort gemachten Erfahrungen wieder zum Status quo ante bringen. Die Vorstellungen der dortigen Studenten sind mit meinen eigenen Vorstellungen über Bildung und Wissen einfach nicht kompatibel — wie das die weit qualifizierteren Dozenten aushalten oder gar verarbeiten können, bleibt mir ein Rätsel.
Rückblickend muss ich feststellen, dass dieses Jahr mein Familienleben und mein eigenes Wohlbefinden viel zu kurz kamen, mein Grill bisher kein einziges Mal in Betrieb genommen wurde und ich nicht einmal auf ein Weihnachts- oder gar Silvestergrillen — Halt! sGwuwl werde ich nun letzteres noch möglich machen.
Mancher Kamerad und Freund hat auch dieses Jahr weiterhin mit mir Verbindung gehalten, selbst wenn von meiner Seite aus nichts dazu beigetragen wurde — diesen guten Menschen schulde ich Dank und bitte hiermit sogleich um eine gerechte Bestrafung.
Irgendwie klappte es dann auch nicht, dass meine bessere Hälfte und ich wenigstens einmal ein Wochenende für uns freihalten konnten, von ein paar Tagen Urlaub ganz zu schweigen. Zumindest ich vermisse meine Zeit im Jacuzzi sehr, zumal wir in Heilbronn und Umgebung über keine Badekultur verfügen — die Römer sind einfach viel zu lange wieder weg. Nur ein „Bad“ vor den Ortsnamen anzufügen ist genau so wenig zielführend wie sich aus dem mir nichts, dir nichts heraus „Universitätsstadt“ zu nennen.
Ich meckere aber auf hohem Niveau, in welcher Stadt kann man schon ganz ohne Arbeit und eigenem Einkommen den gesamten Tag über in Luxusmobilen die Allee hoch und runterfahren und wenn einem dies nicht ausreicht, auch noch durch die Fußgängerzone touren? Wie wahr, wir leben in einer Region der unbegrenzten Möglichkeiten! Alles Meckern ist völlig überflüssig, denn wer bei uns noch arbeitet, der ist selber schuld — das wissen u. a. die Mitarbeiter unsere Stadtverwaltung nur allzu gut.
In anderen Regionen sieht es da schon ganz anders aus. Die Ukrainer — zumindest jene, die nicht den gesamten Tag über bei uns die Allee hoch und runterfahren — kämpfen seit 2022 um das nackte Überleben. Ähnlich geht es den Menschen in Syrien und vielen anderen Teilen der Welt. Und wer aktuell noch vom Krieg verschont ist, kämpft derweil mit den klimatischen Veränderungen und deren Folgen.
Nur ein ganz kleiner Teil der Menschen, wie wir Heilbronner selbst auch, kann sich noch auf einer „Insel der Glückseligen“ wähnen und ist demzufolge wirklich zu allem bereit, um diesem Wahn noch möglichst lange nachhängen zu können — da wählt man auch Politiker, von denen man ganz genau weiß, dass sie einen nur belügen und betrügen! Die Trumpisten bestimmen auch bei uns den politischen Alltag, überall in der Westlichen Welt sind Demokraten auf dem Rückzug.
Und bei uns in Heilbronn hat man dies bereits zur Kunst erhoben! Vorne im Rathaus huldigt man einem Nazi und hinten im Rathaus gedenkt man den Opfern des Nationalsozialismus — wir machen es schon viel zu lange viel zu vielen viel zu bequem, Hauptsache man muss selbst nichts dabei tun oder gar verantworten. Es sind ganz alleine die faulen Kompromisse, die unsere Demokratien an den Rand des Untergangs geführt haben. Und bis es soweit ist, schreiben — nein, lassen schreiben — die dafür Hauptverantwortlichen noch schnell eine eigene Autobiografie und sahnen nochmals ab.
Allerdings sieht es dieses Mal nicht danach aus, dass man seine Untaten oder sein Nichtstun weiterhin einfach nur aussitzen kann und spätestens nach einer Legislatur erneut an die Futtertröge gewählt wird, denn irgendwann gehen selbst die größten Vorräte zur Neige — das Scheitern der aktuellen Regierung darf als Menetekel gesehen werden. Und eigentlich freue ich mich schon so richtig darauf wie die derzeitige Opposition, welche mit allen Mitteln an der sogenannten Schuldenbremse festhalten will, diese sofort nach ihrem Regierungsantritt aussetzen wird. Und im selben Augenblick wird die dann neue Opposition, welche gerade noch das Aufheben der Schuldenbremse als absolut notwendig bewirbt, genau diese als „deutsches Kulturgut“ mit allen Mitteln verteidigen — wir Wähler wollen es einfach nicht anders!
Für die meisten von uns und ganz besonders für die Politiker ist Demokratie nur noch ein „Dschungelcamp“ — die deutscheste der deutschen Realityshows! Zumindest so lange wie die anderen im Mittelmeer ertrinken oder in den Schützengräben fallen. Und das ist auch nur allzu menschlich, denn man glaubt erst daran, dass es einen selbst erwischen kann, wenn es einen selbst erwischt hat!
Und dies dürfte meine einzige Erkenntnis der letzten zweiundsechzig Weihnachten sein: es war schon immer so und wird immer so bleiben. Auch wenn die meisten von uns wissen, wie man die Welt zumindest ein wenig besser machen könnte, wenigstens ein ganz klein wenig in der eigenen Umgebung, wir machen dies nicht.
Dabei wäre es doch so einfach, wenn jeder nur versuchen würde, sich selbst zu sein, für seine eigene Existenz aufkommen, vielleicht auch noch für jene sorgen würde, die ihm ganz persönlich am Herzen liegen und ansonsten seinen Nachbarn das nicht neiden, was diese vielleicht sogar unverdient erreichen.
Man muss überhaupt nicht versuchen, die Welt insgesamt zu retten, es reicht bereits völlig aus, wenn man es schafft, sich selbst zu retten. Und sollte jemand die Kapazitäten haben, um weit mehr zu erreichen, dann wäre es bereits völlig ausreichend, wenn er dabei seinen Nachbarn nicht auf die Füße tritt.
Die Welt ist so schön und so einfach zu handhaben, wenn es nur uns Menschen nicht gäbe! Dies sollte uns allen ein wenig zu denken geben — gerade vor Weihnachten.
„There is no liberal world order anymore, and the aspiration to create one no longer seems real.“
Anne Applebaum (2024: 175)