Wutbürger

4.7
(3)

Beitragsfoto: Weiblicher Aktivist | © Shutterstock

Manche meinen, dass ein Wutbürger das reine Gegenstück zum Mutbürger sei, den man gerade in schwierigen Zeiten immer wieder finden kann und welcher sich trotz oder gerade wegen der vorherrschenden Unterdrückungssituation vor Ort zu Wort meldet und seine ureigenen Bürgerrechte einfordert.

Als sehr gute Beispiele können derzeit die Mutbürger aus China — und hier ganz besonders Hongkong — oder der Russischen Föderation angeführt werden, die wegen ihrer Aktionen vom Staat ermordet, zumindest aber weggesperrt, vergewaltigt oder gefoltert werden.

Wutbürger hingegen findet man eher in unseren offenen Gesellschaften, wo diese ihre gefühlte oder tatsächliche Empörung lauthals an allen denkbar möglichen Orten kundtun dürfen und auch immer öfters von diesem Recht Gebrauch machen.

Der Fehler dabei ist, diese Wutbürger als Gegenstück zum Mutbürger anzusehen, denn das Gegenstück zum Mutbürger ist tatsächlich der „Egal-Bürger“, gerade jenem Bürger, dem alles egal ist, so lange er nur irgendwie seine Grundbedürfnisse gedeckt bekommt (Primärprozessler) oder möglichst ungestört seine eigenen Gewinne maximieren kann (Krisengewinnler); genau so wie Gleichgültigkeit, nicht Hass, das Gegenteil von Liebe ist.

Was macht also den Wutbürger aus?

Ein Wutbürger ist ein Bürger, dem erstens „sein Staat“ nicht egal ist und der zweitens mit der derzeitigen Situation im Land ganz und gar nicht zufrieden ist. Und dazu kommt drittens die Ohnmacht, dass er nicht mehr glaubt, auf den bisher eingeschlagenen und teilweise auch sehr ausgetretenen demokratischen Wegen eine Veränderung erreichen zu können.

Wirklich schlimm dabei ist, dass die gesamtgesellschaftlichen Probleme in unserem Land inzwischen so groß, vielfältig und umfangreich geworden sind, dass die Bürgerschaft insgesamt kaum noch daran glaubt, eine Änderung zum Positiven bewirken zu können – die weiterhin fallenden Zahlen der Wahlbeteiligung dürfen als Indiz dafür gesehen werden.

Noch schlimmer ist, dass sich die „stille Mehrheit“ der Bürgerschaft als „Egal-Bürger“ gebären und weiterhin am Irrglauben festhalten, dass es zumindest für sie selber noch reichen wird. Die sinkenden Mitgliederzahlen bei allen politischen Parteien und die gebetsmühlenhaft vorgetragenen Zusicherungen, dass die Renten sicher seien, sind zwei Indizien dafür.

Am schlimmsten aber ist, dass obwohl inzwischen Parlamente und Verwaltungen aus allen Nähten platzen und immer weitere staatliche, halbstaatliche und staatsabhängige Institutionen geschaffen werden, die ein „gesundes“ prozentuales Verhältnis zwischen Staatsapparat und Bürgerschaft immer weiter zum Schlechten kehren — was letztendlich zum einen alle Bürger entmündigt und zum anderen auch unbezahlbar ist –, bestehende und kommende gesamtgesellschaftliche Probleme weder adressiert noch nach gangbaren Lösungsmöglichkeiten gesucht wird.

Genau diese fehlende Zukunftsfähigkeit und der scheinbare Unwillen der derzeit handelnden Personen, auch nur über Lösungen nachzudenken — was übrigens Regierungspolitiker immer wieder gerne kolportieren („Lösungen für bekannte Probleme werden erst dann gesucht, wenn es dezidiert und über Wochen hinweg von der Bildzeitung gefordert wird.“), bringen interessierte Bürger zur Verzweiflung. Auch wenn ich selbst davon überzeugt bin, dass es kein Unwillen, sondern nur blanke Unfähigkeit der verantwortlichen Personen ist, ändert es nichts an den Auswirkungen.

Und selbst wenn ein Bürger versucht, Änderungen durch einen „Marsch durch die Instanzen“ — besser: „durch die Parteien“ zu bewirken, muss er schnell feststellen, dass er alleine keine Chance hat, um überhaupt nur sein Wissen und seine Expertise dort einbringen zu können, denn dies ist prinzipiell überhaupt nicht gefragt, noch für Parteien in irgendeiner Form relevant; sie beschäftigen sich inzwischen alleine mit sich selbst und den von ihnen geschaffenen Regularien und Traditionen — eine Welt für sich, die jeglichen Bezug zur Realität verloren hat.

Für die zweite Alternative, einen „Marsch durch die Verwaltungen und Apparate“, kommen meist die Absicht und der Versuch zu spät, um selbst noch etwas bewirken zu können, denn die Bürokratie rekrutiert sich seit Langem selbst. Und spätestens wenn man deren beiden Credos „eine Verwaltung kann nie groß genug sein, und der Bürger ist für die Verwaltung da“ in Zweifel zieht, ist man dort eine Persona non grata.

Die dritte Alternative, nämlich eine eigene Partei oder gar Bewegung zu gründen, ist nicht nur sehr, sehr langwierig und mühsam, sondern wird von allen Seiten her zumindest mit Misstrauen goutiert. Und auch hier gilt, wenn man diesen Weg beschreitet, dann bereits in sehr jungen Jahren und einer hohen eigenen Opferbereitschaft.

So bleibt meist nur die vierte Alternative, die Besetzung des öffentlichen Raums (virtuell und tatsächlich), wobei dieser in offenen Gesellschaften richtiger Weise auch für alle da ist und deshalb eine Besetzung desselben schwieriger als vermutet ist.

Diese Besetzung des öffentlichen Raumes ist es nun, die sich viele Wutbürger zur Aufgabe gemacht haben. Und mit ausreichend Verve, Kraft und Ausdauer werden sie in einer offenen Gesellschaft damit auch wirksam werden und Änderungen herbeiführen können.

Allerdings muss jedem Wutbürger dabei klar sein, dass dieser Weg mindestens genau so schwierig und steinig ist wie die anderen Alternativen auch. Da der öffentliche Raum im Gegensatz zu etablierten Parteien und Institutionen keine eigenen Regeln hat, müssen diese zumindest rudimentär geschaffen werden, um letztendlich eine öffentliche Meinung generieren und auch weitertragen zu können. Erschwerend kommt hinzu, dass man diesen öffentlichen Raum mit allen anderen Geschöpfen, ob Aluminiumhutträger oder Götterdämmerungsverkünder, teilt und die auch hier unter Menschen zwingend notwendigen Gespräche, Diskussionen, Abstimmungs- und Dokumentationsprozesse deshalb wesentlich länger als sonst üblich dauern.

Letztendlich aber ist es aller Mühen wert, weil es vielleicht doch so einige der „Egal-Bürger“ wachrüttelt, aber bestimmt mittel- bis langfristig Parteien und Institutionen zum eigenen Handeln zwingt, um nicht selbst weiter in die Bedeutungslosigkeit zu fallen.

Und genau dieser Mut zum innergesellschaftlichen Konflikt ist es, welcher meines Erachtens den Wutbürger auszeichnet, und im Falle, dass die meisten der Wutbürger Freiheit und Demokratie an sich wertschätzen, dazu führen wird, dass sich unsere Gesellschaft wieder in Bewegung setzt und derzeitige als auch künftige Probleme anerkennt und gemeinsam nach gangbaren Lösungsmöglichkeiten sucht.

Wunderbar wäre es, wenn wir dies allesamt auf dem Boden unserer bestehenden freiheitlich demokratischen Grundordnung durchleben könnten, denn dies erspart uns allen die existenzielle Frage, ob wir, wenn es dann darauf ankommt, auch Mutbürger wären!

Seit den 2. Hertensteiner Gesprächen 2018 versuchen wir uns auch dem „Phänomen“ Wutbürger zu nähern und dabei dessen Herkunft, Sinn und Zweck besser zu ergründen. Mit einer ersten Gesprächsrunde zum Thema „Der Mensch, seine Bedürfnisse und Ängste als Triebfeder und Grenze von Politik“ machten wie den Anfang und führten dieses Thema 2019 weiter fort. Dieses Jahr werden wir uns dem Thema unter dem Titel „Europa als Projekt – was heißt das für die Europäer von heute?“ aus einem weiteren Blickwinkel heraus betrachten.

La politique est la science de la liberté: le gouvernement de l’homme par l’homme, sous quelque nom qu’ il se déguise, est oppression; la plus haute perfection de la société se trouve dans l’union de l’ordre et de l’ anarchie.“

 Pierre Joseph Proudhon, Qu’est-ce que la propriété? (1840: 346)

Wie hilfreich war dieser Beitrag?

Klicken Sie auf die Sterne, um den Beitrag zu bewerten!

Durchschnittliche Bewertung 4.7 / 5. Anzahl Bewertungen: 3

Bisher keine Bewertungen.

Es tut mir leid, dass der Beitrag für Sie nicht hilfreich war!

Lassen Sie mich diesen Beitrag verbessern!

Wie kann ich diesen Beitrag verbessern?

Seitenaufrufe: 9 | Heute: 1 | Zählung seit 22.10.2023

Weitersagen: