Zeit für ein Gedicht

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Beitragsfoto: Kaffeegenuss | © Pixabay

Heute ist Totensonntag und die Kirchenglocken sind längst verklungen. Eigentlich wollte ich mir heute eine kleine Auszeit gönnen und Kraft für die restlichen Wochen des Jahres schöpfen. Vielleicht nur kurz einmal über das letzte Protokoll einer Sitzung schauen, einen Beitrag über eine Veranstaltung schreiben und den Tag beim Tanzen ausklingen zu lassen.

Auch weiß ich, dass Detlef Stern großes Verständnis dafür hat, dass ich unser letztes sehr nettes Gespräch und auch über dessen Ergebnis nicht schreibe, denn u. a. hatten wir über das Kürzertreten gesprochen. Dann aber sitze ich so gemütlich am Tisch, erfreue mich an den Leckereien, die meine bessere Hälfe aufgetischt hat, und schon strömen die unterschiedlichsten Wortfetzen bei mir zusammen, die mir seit Freitag zu Gehör kamen. „Blauäugigkeit“ (Thomas Zimmermann), „tendenziös“ (Thomas Randecker), „grundsätzlich“ (Rainer Hinderer), „gemeinsam“ (Herbert Burkhardt) und „Lore-Ley“ (Hans Müller).

Wie schon geschrieben, die Kirchenglocken sind schon längst verklungen und wir haben allesamt wirklich riesige, gar weltbewegende und alleine kaum lösbare Probleme auf dem Tisch liegen, darunter eine paar waschechte Kriege, eine unvergleichbare Umweltkatastrophe — wenn man die Dinosaurier einmal außen vor lässt — und daraus resultierende gesamtwirtschaftliche Herausforderungen, welche die eigenen persönlichen Probleme und Herausforderungen wie auch die aus dem nächsten Umfeld klein erscheinen lassen müssten. Aber es sind gerade diese kleinen lokalen und uns persönlich betreffenden Probleme, die uns tatsächlich bewegen. Und so lange wie wir uns weiterhin mit Schuldenbergen, Raubbau und gegenseitigen Schuldzuweisungen aushelfen können, werden die wirklichen lebensbedrohlichen Probleme einfach ausgeblendet.

Ich konnte das noch nie — einer meiner größeren Fehler — und wollte deshalb einfach nur eine kleine Auszeit von meinen (lokalen) Problemchen nehmen. Unsere drei großen und miteinander verwandten Religionen helfen dabei schon lange nicht mehr, ganz im Gegenteil, anstatt in diesen Zeiten alle an einem Strang zu ziehen und ihre wenigen tatsächlich existierenden Gläubigen für ihre gemeinsame Sache unter einen Hut zu bringen, schüren sie allesamt — hier lasse ich das Judentum in Deutschland aber außen vor, da dieses leider bei uns kaum bis keine Bedeutung mehr hat — das Feuer. Und seit diesem Freitag schürt die Heilbronner Stimme wieder heftig mit.

Ich befürchte, dass, wenn Rabbiner, Priester, Pfarrer und Imame in diesen wirklich schlimmen Zeiten nicht unisono zumindest hier bei uns auf lokaler Ebene zusammenstehen und ihre noch vorhandenen Schäfchen zusammenführen, um einen zumindest temporären Burgfrieden einzuklagen, dann benötigen wir diese allesamt nicht mehr. In Tagen, wo wirklich alles bei uns schiefzulaufen scheint, streiten wir uns jetzt dieses Wochenende wieder einmal über den Neubau einer Moschee. Und ich kann froh sein, dass unsere jüdischen Mitbürger nicht auf eine Synagoge bestehen — Heilbronn würde vermutlich brennen!

Religionen könnten die Welt tatsächlich etwas besser machen — viele ihrer offiziellen Vertreter machen das Gegenteil. Demokratie würde die Welt verbessern — viele ihrer offiziellen Vertreter machen das Gegenteil. Wir Menschen könnten ein Paradies auf Erden schaffen — viele von uns machen das Gegenteil!

Und so hämmern mir die Worte Heinrich Heines durch den Kopf „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ — Hans Müller kam darauf, bereits vor Tagen zu sprechen. Heinrich Heine schuf 1824 das Gedicht von der „Lore-Ley“, welches ein zentrales Motiv der Romantik, das Vanitas-Motiv, behandelt. Der Vanitas-Gedanke stammt aus dem Alten Testament, hatte seinen Höhepunkt sicherlich im Barock, aber dennoch auch heute seine Gültigkeit: hinter der Maske der Schönheit (auch bei uns in Heilbronn) lauert der Tod.

Friedrich Silcher vertonte das Heinrich-Heine-Gedicht bereits 1837 und machte es damit sehr schnell allgemein bekannt. Wie Hans Müller schrieb, selbst die Nationalsozialisten konnten es nicht mehr aus der Welt schaffen.

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Daß ich so traurig bin; 
Ein Märchen aus alten Zeiten, 
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.

Die Luft ist kühl und es dunkelt, 
Und ruhig fließt der Rhein; 
Der Gipfel des Berges funkelt 
Im Abendsonnenschein.

Die schönste Jungfrau sitzet 
Dort oben wunderbar; 
Ihr goldnes Geschmeide blitzet, 
Sie kämmt ihr goldenes Haar.

Sie kämmt es mit goldenem Kamme 
Und singt ein Lied dabei; 
Das hat eine wundersame, 
Gewaltige Melodei.

Den Schiffer im kleinen Schiffe 
Ergreift es mit wildem Weh; 
Er schaut nicht die Felsenriffe, 
Er schaut nur hinauf in die Höh.

Ich glaube, die Wellen verschlingen 
Am Ende Schiffer und Kahn; 
Und das hat mit ihrem Singen 
Die Lore-Ley getan.

Heinrich Heine, Buch der Lieder (1827)

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