Brexit oder was?

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Beitragsfoto: Vereinigtes Königreich aus dem Weltraum betrachtet | © Shutterstock

Von der finanzwirtschaftlichen und politischen Unübersichtlichkeit im Vereinigten Königreich

Als ich mit der Ausarbeitung dieses Papiers begann, hatte Liz Truss, die zu der Zeit neue britische Premierministerin, gerade begonnen, unter dem Druck ihrer Partei und der Öffentlichkeit ihr „Mini-Budget“, mit dem sie die Wirtschafts- und Finanzkrise bekämpfen wollte, wieder zu demontieren. Ich wollte über die Unzulänglichkeiten jenes Programms schreiben, in das viel ideologischer Ballast hineingeflossen war und auch darüber, welchen Anteil der Brexit an der speziellen Krisensituation in Großbritannien hat. Dann kam am 20. Oktober 2022 der zwar erwartete, für Liz Truss aber blamable Rücktritt. Mitten in der Krise stürzte sie ihr Land in ein politisches Chaos. Nun tauchten grundsätzliche Fragen zur Regierungsfähigkeit der britischen Konservativen und zur Zukunft des Konservatismus auf. Wie es in Großbritannien weitergeht ist offen. Ich wage keine Prognose.

Brexit oder was? – Von der finanzwirtschaftlichen und politischen Unübersichtlichkeit im Vereinigten Königreich

Es waren – und sind noch immer – zwei schlimme Plagen, die die Welt und auch die Menschen in Europa heimgesucht haben: Die Corona-Pandemie und seit dem 24. Februar 2022 der russische Überfall auf die Ukraine. Für die rasche Verbreitung von Corona mag man die chinesische Regierung verantwortlich machen, weil sie die Welt nicht rechtzeitig vom Ausbruch der Seuche gewarnt hat. Für den Krieg in Europa trägt der russische Präsident Wladimir Putin die Verantwortung; es ist Putins Krieg. 

Doch als ob zwei Plagen und ihre Folgen nicht genug wären: Im Vereinigten Königreich kommen die Folgen einer dritten Plage hinzu: Die Folgen des Brexit, für die zum einen die konservativen Politikerinnen und Politiker des ehemaligen EU-Mitglieds und zum andern eine knappe Mehrheit der britischen Wählerinnen und Wähler verantwortlich sind, die beim Referendum am 23. Juni 2016 für „Leave“ votiert haben. Die von den Brexiteers versprochene und von vielen erwartete großartige Zukunft ohne die Fesseln der zu Buh-Männern hochstilisierten Bürokraten in Brüssel ist bis jetzt noch nicht sichtbar geworden – im Gegenteil. Während beispielsweise die verbliebenen 27 EU-Mitglieder die Folgen der Pandemie gemeinsam schultern – nicht zuletzt mit dem Europäischen Aufbauplan „Next Generation EU“, für den die EU erstmals in ihrer Geschichte Kredite in großem Stil aufnimmt – steht Großbritannien den dort grassierenden drei Plagen allein gegenüber.  David Cameron, Theresa May und Boris Johnson mussten die Haustürschlüssel zur Downing Street Nr. 10 wieder abgeben und inzwischen wurde auch Liz Truss zum vierten Opfer der Plagen und der eigenen Partei, die sich über die Mittel und Wege der Bekämpfung nicht einig ist. „Wir können nun zusehen, wie die erfolgreichste politische Partei der Weltgeschichte in Echtzeit zusammenbricht“, zitiert die Heilbronner Stimme Richard Murphy von der Sheffield University Management School (Heilbronner Stimme, 6.10.2022:  „Rückhalt für Tories schwindet“).

Hinter dem Scheitern der drei – und inzwischen vier – britischen Premiers mag viel persönliches Unvermögen stecken. Betrachtet man aber den Vermerk des Wissenschaftlers aus Sheffield näher, kommt man zu der entscheidenden Frage: Steht die Konservative Partei im Vereinigten Königreich vor dem Ende? David Cameron wollte mit dem BrexitReferendum seine Partei wieder einen. Er hatte erwartet, dass die Briten gegen den EU-Austritt stimmen würden, hat sich dabei jedoch gründlich verspekuliert. Theresa May hatte mit Brüssel ein detailliertes Austrittsabkommen ausgehandelt, konnte es jedoch nicht durch das Unterhaus bringen. Boris Johnson hat zwar mit dem Slogan „Get Brexit Done“ eine Wahl glänzend gewonnen, ist dann aber an seiner eigenen Sprunghaftigkeit und Unzulänglichkeit gescheitert. Johnsons Nachfolgerin, so stellte die Heilbronner Stimme fest, legte gelinde gesagt einen schlechten Start als Premierministerin hin. „Nur vier Wochen nach ihrem Amtsantritt hatte sie in weiten Teilen der Partei und überdies in der Bevölkerung den Rückhalt verloren.“ Der Austritt aus der Europäischen Union – er ist in der zeitlichen Reihenfolge eigentlich die erste Plage, die die Briten heimsuchte – ist zwar nicht allein an den heutigen Kalamitäten der Tories schuld. Doch sie haben sich an dem vermeintlichen Schnippchen, das sie ihrer Meinung nach der EU geschlagen haben, zu sehr und zu früh berauscht und die Folgen unterschätzt oder klein geredet. 

Auch Liz Truss verfiel diesem Denkmuster als sie am 5. Oktober 2022 auf dem Jahrestreffen der britischen Konservativen in Birmingham erklärte: „Where ever there is change, there is disruption“ – „Immer wenn es Veränderungen gibt, gibt es auch Erschütterungen.“  Verändern will (oder wollte) Truss vor allem die Wirtschafts- und Finanzpolitik ihres Landes. Sie wolle, wie sie sagte, die Zeiten der wirtschaftspolitischen Orthodoxie beenden und eine Zeit des Wachstums einleiten. Die Folgen dieses Ansatzes von Liz Truss beschreibt die New York Times in einem ausführlichen Bericht vom Parteitag der Konservativen in Birmingham: „Im ersten chaotischen Monat ihrer Amtszeit haben die Pläne von Ms. Truss, die Steuern zu senken, die Finanzmärkte durchgeschüttelt, das Pfund auf Talfahrt gebracht, die Abkehr von einem Kernstück ihrer Pläne bewirkt, Konfusion über das Timing bei der Finanzplanung ihrer Regierung erzeugt und eine Runde von Zänkereien zwischen den Ministern ihres Kabinetts und führenden konservativen Abgeordneten ausgelöst, die auf der Jahreskonferenz Erschütterungen verursachten“ (nytimes.com, 5.10.2022: „Liz Truss, Facing Disruption of Her Own, Promises U.K. Rapid Change“). 

Die Süddeutsche Zeitung sah „eine Premierministerin im freien Fall“ und beschreibt im Vorspann ihres Berichts über den Parteitag der Tories in Birmingham die Fehlleistungen von Liz Truss ähnlich wie die New York Times:  „Sie hat Steuersenkungen für Reiche verkündet, die Finanzmärkte geschockt, das Land sowieso. Und beim Parteitag der Tories wird diesmal nicht gesungen, sondern gestritten. Liz Truss und die Frage: Wie viel kann eine Regierungschefin in 29 Tagen falsch machen?“ Für die Aufgeregtheit bei den Tories gibt es einen tieferen Grund: „In den Umfragen liegt die Labour-Partei klar vor den Konservativen, mit 25 – 33 Prozentpunkten, so groß war der Vorsprung zuletzt vor zwanzig Jahren, als Tony Blair die Briten mitriss.  Eine am Mittwoch veröffentlichte Umfrage von YouGov kam zu dem Schluss, dass Liz Truss in der Bevölkerung aktuell nicht nur unbeliebter ist, als Boris JohnsonSondern auch als Jeremy Corbyn, der ehemalige ultralinke Labour-Chef, der als weitgehend unwählbar galt“ (sueddeutsche.de, 5.10.2022: „Eine Premierministerin im freien Fall“).

Liz Truss und ihr Schatzkanzler Kwasi Kwarteng sind mit einem Kernstück ihres Mini-Budgets (Nachtragshaushalt) gescheitert, weil sie in einen Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit gerieten, dem sie nicht gewachsen waren. Mit ihrem Vorhaben, den Höchststeuersatz von 45 Prozent für den wohlhabendsten Teil der Gesellschaft sowie die Obergrenze für Banker-Boni zu streichen, haben Truss und Kwarteng nicht nur taktisch unklug operiert, sie haben auch eine unsichtbare Grenze der Fairness verletzt.  „Woher das Geld für die Steuersenkungen kommen sollte, ließen Truss und ihr Schatzkanzler offen“, schreibt die Süddeutsche Zeitung. „Die Finanzmärkte drehten daraufhin derart durch, dass die Bank of England einschreiten musste, indem sie Staatsanleihen kaufte. Das Pfund stürzte ab, mehrere Banken mussten ihre Kreditangebote zurückziehen“ (sueddeutsche.de, 5.10.2022: „Eine Premierministerin im freien Fall“).

Paul Krugman mahnte in seiner Kolumne in der New York Times, dass in Krisenzeiten die Vorstellung vermittelt werden müsse, dass alle Menschen betroffen sind. Die politischen Ungeschicklichkeiten von Truss und Kwarteng beschreibt Krugman so: „In solchen Zeiten die Steuern für Reiche zu senken, die von höheren Energiepreisen eh weniger betroffen werden als Menschen mit niedrigem Einkommen, vermittelt dagegen die Botschaft, dass nur die kleinen Leute die Belastungen zu tragen haben. Diese Botschaft wirkt besonders giftig, nachdem die britische Öffentlichkeit schon jetzt über Einschränkungen in den öffentlichen Diensten, insbesondere im Gesundheitswesen, verärgert ist … Es ist schwer, effektiv zu regieren, wenn dabei der größere Teil der Bevölkerung verärgert wird“ (nytimes.com, 3.10.2022: „How Liz Truss Did So Much Damage in So Few Days“; Meinungskommentar von Paul Krugman).

Zeitenwende – auch in der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Konservativen?

Ähnlich wie 2008, als der Zusammenbruch der Lehman Bank in New York nicht nur in den USA sondern auch in Europa eine Finanz- und Wirtschaftskrise auslöste – sie hatte sich in den Vereinigten Staaten schon vorher angekündigt – hat der Fehlgriff der britischen Konservativen eine finanzpolitische und auch wissenschaftliche Grundsatzdiskussion ausgelöst. Paul Krugman, der 2008 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt, bittet in seinem Kommentar zunächst um Nachsicht für das Gefühl der Schadenfreude, das die Vertreter der Mitte-Links-Politik (und auch er) gegenwärtig empfinden. Krugman verwendet dabei den deutschen Begriff Schadenfreude, der auch in den USA durchaus verstanden wird. Er verweist darauf, dass Konservative immer wieder vor steigenden Zinsen warnen, die durch die Ankündigung höherer öffentlicher Ausgaben angestoßen würden. Und er beschreibt, was nun im konservativ regierten Großbritannien tatsächlich geschah: Der Markt reagierte nicht auf exzessive Ausgaben, der Markt reagierte auf unverantwortliche Steuersenkungen, die zudem mit Schulden finanziert werden sollten. Zweifel an der Kompetenz von Truss und Kwarteng wurden nicht zuletzt laut, als sie ihren Vorschlag mit der zweifelhaften Behauptung begründeten, dass die Reduzierung der oberen Steuersätze einen starken Wachstumsschub erzeugen würden. 

Marc Beise beschäftigte sich im Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung mit ähnlichen Fragen. Zur Einleitung seines Kommentars schreibt er: „Die neue britische Regierung hat eine spektakuläre Kehrtwende beim Spitzensteuersatz vollzogen. Auch in Deutschland kann man daraus lernen.“ Beise bezeichnet Liz Truss als eine Anhängerin der alten „Trickel-down-These“, die in der Ära des US-Präsidenten Ronald Reagan populär war, wonach der Einkommenszuwachs, den die Reichen in einer Gesellschaft erfahren, nach und nach auch zu den Mittelschichten und den Ärmeren in der Gesellschaft durchsickert, mehr noch: Es wurde sogar behauptet, dass mehr Geld für die Reichen zwingende Voraussetzung für die Einkommenszuwächse beim Rest der Bevölkerung sei. Anders als Paul Krugman, der sich in seinem NYT-Kommentar als „Mitte-Links“ bezeichnet hat, plädiert Beise vor allem für eine ausgewogene Finanzpolitik: „… spätestens in der Finanzkrise 2008 hat die Welt gesehen, dass es nicht klug ist, einseitig auf Banken und Finanzinvestoren zu setzen und von ihnen zu erwarten, dass sie allgemeinen Wohlstand befördern. … Am Ende geht es darum, eine ausbalancierte Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik zu betreiben. Die Regierung Truss beispielsweise hätte es sich einfacher gemacht, wenn ihr Steuerkonzept besser durchdacht gewesen wäre. Den Spitzensteuersatz von 45 Prozent zu kassieren hätte bedeutet, dass gut verdienende Mittelständler denselben Steuersatz gehabt hätten wie Multimillionäre – das ist weder gerecht noch vermittelbar. Die Regierung hätte auch zwingend kluge Maßnahmen zur Entlastung der unteren und mittleren Einkommen vorbereiten müssen. Kluge Politik bedeutet: Dies alles bedenken und in ein Gesamtkonzept zu stecken“  (sueddeutsche.de, 4.10.2022: „Alles für die Topverdiener?“; Kommentar von Marc Beise).  

Der Zusammenhalt der Gesellschaft ist wichtig

Liz Truss und Kwasi Kwarteng  konnten ihre finanz- und steuerpolitischen Vorstellungen der britischen Öffentlichkeit nicht vermitteln und verloren deshalb auch die Unterstützung ihrer Partei, denn auch für Konservative ist der Zusammenhalt der Gesellschaft in Zeiten der Krise wichtig. Wenn der schwächere Teil der Gesellschaft den Eindruck gewinnt, in der Krise allein gelassen und im Vergleich zu den Wohlhabenderen überlastet zu werden, wenn sich der schwächere Teil der Gesellschaft von der Politik unsolidarisch behandelt fühlt, verliert dieser Teil der Gesellschaft nicht nur das Vertrauen in die Vertreter dieser Politik, sondern in das politische System selbst.

Rupert Polenz, der von 1994 – 2013 für die CDU im Bundestag saß, hat sich in einem Beitrag für die Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte mit dem Konservatismus und mit Fragen konservativer Politik in heutiger Zeit beschäftigt. Er leitete seine Betrachtungen ein mit dem Hinweis auf die Menschenwürde, die allen Menschen in gleicher Weise zukommt „allein deshalb, weil sie Menschen sind …. Es gibt keine ‚minderwertigen Menschen’, die man als bloße Objekte behandeln dürfte“, schreibt Polenz. „Menschen sind mündige Subjekte, die eigene Entscheidungen treffen. Diese können richtig oder falsch, gut oder böse sein, denn der Mensch ist weder nur gut noch nur böse – und er kann sich irren.“ Nichts sei beständiger als der Wandel, stellt Polenz weiter fest, aber auch, dass Konservative diesen Wandel verlangsamen wollen, um Bewährtes zu sichern – eine kurze aber kluge Zusammenfassung des konservativen Politikansatzes. 

Liz Truss sang bei ihrer Parteitagsrede in Birmingham am 5. Oktober 2022 ein Loblied auf das Wirtschaftswachstum und nannte dabei eines der Mantras des alten Konservatismus: „Wenn die Regierung eine zu große Rolle spielt, fühlen sich die Menschen klein. Hohe Steuern bedeuten, dass man weniger bereit ist, Überstunden zu machen, nach einer besseren Arbeitsstelle zu suchen oder ein eigenes Geschäft zu eröffnen.“ Hier klingt die alte konservative Zielvorstellung vom „schwachen Staat“ an, der sich vor allem aus dem Geschehen der Märkte heraushalten solle. Vor Jahrzehnten haben die amerikanischen Republikaner diese Zielvorstellung mit großer Härte verfolgt und der Zentralregierung durch den Entzug von Finanzmittel — dies geschah durch Steuersenkungen – zum Abbau seiner Serviceleistungen gezwungen. Spätestens seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 steht diese Zielrichtung auch unter Konservativen nicht mehr ganz oben im Programm. Nicht nur in den USA hat der Staat ins Marktgeschehen eingegriffen, Banken „gerettet“, die Sparguthaben abgesichert und vor allem auch Banken reguliert. 

Liz Truss und ihr Schatzkanzler sind in eine Zwickmühle geraten, die Polenz so beschreibt: „Beim ‚Bewahren des Bewährten’ stehen Konservative in der Gefahr, nur auf die eigene, möglicherweise privilegierte Lage zu schauen und zu übersehen, dass sich für große Teile der Gesellschaft die Zustände gerade nicht bewährt haben.“ (Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2022; Ruprecht Polenz„Die Welt ist nicht schwarz-weiß – Gedanken zu Konservatismus und Fortschritt“). 

Ruprecht Polenz hat hier ein Dilemma beschrieben, Konservative bereits bei der Konzipierung ihres Politikansatzes geraten können: Ihre Politikmaßnahmen sind deshalb nicht zielgenau, weil sie bereits bei der Analyse zu sehr durch die eigene Brille schauen. Ein anderes Dilemma hat Polenz nicht erwähnt: Eine Politik, die sich primär bemüht, ‚Bewährtes’ zu bewahren, gerät in Gefahr, einen Reformstau zu verursachen.  Richard Meng, der Chefredakteur der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte verweist im Editorial des bereits zitierten Heftes dieser Zeitschrift auf die vorherige Bundesregierung und bezeichnet den Politikstil von Angela Merkel als „Management der Gegenwart“.  „Bewahrung von Bewährtem“ – vielleicht liegt hier ein Grund dafür, dass die frühere Kanzlerin auf die EU-Reformvorschläge des französischen Präsidenten oft zurückhaltend reagiert hat. Geht man nicht allzu sehr in die Tiefe, hat die EU seit ihrer Gründung einiges bewegt und erreicht. Warum sollte man also eine schwierige Auseinandersetzung über Veränderungen anstoßen? Doch meines Erachtens ist der Reformstau bei den Strukturen der EU immens geworden und dafür ist nicht nur Merkel verantwortlich. „Die Zeit des Neoliberalismus ist vorbei: Frau Truss ist damit gerade in Großbritannien gescheitert“, sagte dieser Tage Gerhard Baum – Jahrgang 1932 und ein Urgestein der Liberalen – in einem Interview (sueddeutsche.de, 22.10.2022: „Eines Tages wird Putin vor Gericht stehen“).

Hat der Konservatismus eine Zukunft?

Solche und ähnliche Grundsatzfragen werden zwar häufig diskutiert, etwa in anspruchsvollen Zeitschriften oder im Kreis nachdenklicher Menschen. Diese Diskussionen werden jedoch in der Regel kaum registriert von der breiten Öffentlichkeit. Doch das chaotische Scheitern der konservativen Regierung in Großbritannien inmitten einer Krise hat diese Diskussion sehr öffentlich und interessant gemacht. Gustav Seibt, Literaturkritiker, Essayist, Historiker und Mitarbeiter der Süddeutschen Zeitung, schrieb in einer Betrachtung zum jüngsten Geschehen im Vereinigten Königreich: „Das Chaos bei den Tories wirft einmal mehr die Frage auf: Was ist eigentlich konservativ und wofür wäre es gut?“ Seibt erwähnt dazu die Beobachtung: Wo es starke konservative Parteien gibt, haben rechtsradikale Wutbürger und Systemfeinde weniger Zulauf ….  „Ganz allgemein gesprochen, reagiert konservatives Denken und konservative Politik auf wechselnde Fortschrittslagen mit dem Impuls von Bewahrung und Verzögerung. Vor allem stabilisiert sich Konservativismus in traditionellen Milieus.“ Und Seibt stellt dazu die aktuelle Frage: Wie steht es mit den eigentlichen politischen Konservativen? Seine Antwort: „Blickt man in der Welt herum, erscheinen sie inzwischen eher als Kräfte des Umsturzes als der Bewahrung. In Polen und Ungarn bauen sie den Staat zu illiberalen Mehrheitsdemokratien ohne traditionelle Machtbalance um. In den Vereinigten Staaten arrangieren sie sich mit einem ehemaligen Präsidenten, der nicht davor zurückschreckt, geheiligte Verfassungsprozeduren in Gefahr zu bringen, indem er einen Mob zum Sturm aufs Parlament anstachelt.“ 

In Großbritannien hat eine dreifache Krise – das Ausscheiden aus der EU, die Pandemie und Putins Krieg – viel Ungemach gebracht und wird noch mehr bringen. Die dadurch angestoßene Grundsatzdiskussion ist erforderlich; sie wird unter der Überschrift „Zeitenwende“ noch breiter werden. Gustav Seibt erklärt dazu, der Grundaffekt des Konservativen sei nicht der Zorn, sondern die Trauer. „Die Trauer gilt dem unwiederbringlich Verlorenen, der Zorn dagegen hält schmerzhaften Wandel für ein Verbrechen.“ 

Wie ist in diese Grundsatzdiskussion der Brexit einzuordnen? War und ist er Fortschritt oder wird er für Großbritannien Bewahrenswertes bewahren? „Wo liegt in solchen Koordinaten und Unterscheidungen der Brexit?“, fragt Gustav Seibt in seiner SZ-Betrachtung. Ich will dazu seine längere und ernüchternde Aussage zitieren: „Seine Befürworter träumten von einem überkommenen England, dem Reich und Eiland, in Shakespeares Silbersee, mit einem souveränen Parlament, das sich bis zur Magna Carta von 1215 zurückdatiert. Doch darf man bezweifeln, dass Edmund Burke, dessen „Betrachtungen zur Französischen Revolution“ von 1791 die Grundschrift aller Konservativismen wurden, in unserer Zeit ein Anhänger des Brexit wäre. Senn dieser kappte abrupt die in zwei Generationen gewachsenen Verbindungen, Regeln und Routinen, die Großbritannien im Rahmen und zusammen mit der Europäischen Union aufgebaut hatte. Der Brexit war ein revolutionärer Akt im Namen einer idealisierten Vergangenheit. Er war ein Irrtum im Umgang mit historischer Zeit, weil er das Vorvergangene dem Vergangenen vorzog. Der Brexit hatte so von Anfang an einen ideologischen, unpraktischen, im Kern ahistorischen Zug, der ihn als eigentlich unkonservativ erscheinen lässt.“  Und schließlich zieht Seibt das Fazit: „Der Brexit war nur ein Konservativismus-Theater, das jetzt womöglich an sein Ende kommt in einer bitteren Ernüchterung“ (sueddeutsche.de, 21.10.2022:  „Alles umsonst“ von Gustav Seibt).

Ähnlich ernüchternd beschreibt Michèle Auga, die Büroleiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Großbritannien die kurze Regierungszeit von Liz Truss und zieht eine wenig optimistische Verbindungslinie zum Brexit: „Was das Land unregierbar macht, ist eine zutiefst gespaltene Tory-Partei, die von ideologischen Betonköpfen gekidnappt wurde und in der sich pragmatische Stimmen überhaupt kein Gehör mehr verschaffen können.  Wir sprechen von einer fast 200 Jahre alten Partei, die maßgeblich an der Entwicklung der Demokratie in Großbritannien beteiligt war, in der aber die Selbstzerstörungskräfte des Brexit wirken, die zersetzend sind.  Fakt ist: Das Vereinigte Königreich ist seit dem Referendum 2016 instabil. Die Folgen werden jedoch von der Tory-Partei geleugnet. Liz Truss ist nun nach Theresa May und Boris Johnson die dritte Premierministerin, die daran scheitert, die angebliche Brexit-Dividende einzufahren. Stattdessen ist das Land nachhaltig geschädigt worden“ (IPG-Pressedienst, 21.10.2022: „Ein ganzes Land zum Versuchskaninchen gemacht“;  Interview mit Michèlle Auga).  

Auch kleinere, regionale Zeitungen beschäftigen sich mit der Fragen nach der Zukunft des Konservatismus. Am 26.10.2022 kommentierte Norbert Wallet in der Heilbronner Stimme das politische Schauspiel in Großbritannien, „das in seinen bizarren Szenen zwischen Drama und Posse irrlichtert.“ Den rasanten Niedergang der Konservativen beschreibt Wallet wie folgt: „Dabei galten die britischen Konservativen in ihrer wertorientierten Gelassenheit, ihrer nüchternen Pragmatik und ihrem Bekenntnis zu freiem Welthandel und Toleranz als leuchtendes Beispiel eines Konservatismus, der wandlungsfähig und doch grundstabil ist.  Inzwischen aber sind die Tories, so deutlich muss man es sagen, auf den Hund gekommen. Führungslos in der Partei, haltlos in ihren Prinzipien und hemmungslos in der Verfolgung persönlicher Karriereziele.“  (Heilbronner Stimme, 26.10.2022: „Rechtspopulistische Versuchung“; Kommentar von Norbert Wallet).       

Die fachlichen und handwerklichen Fehler der Truss-Regierung  

Zurück ins heutige Großbritannien: Dort haben – über das Grundsätzliche und das Moralische hinaus, für dessen Verletzung die Wählerinnen und Wähler ein feines Gespür entwickelt haben und das die britischen Konservativen gegen die neue Spitze auf die Palme gebracht hat – Truss und Kwarteng auch fachliche und handwerkliche Fehler gemacht, die große Teile der Wirtschaft und der Wissenschaft und selbst der Internationale Währungsfonds (IWF) kritisiert habenEs passe schwer zusammen, dass die Bank of England zusammen mit den Notenbanken in anderen Ländern die Leitzinsen erhöht um die Nachfrage und damit die Inflation zu dämpfen und die britische Regierung gleichzeitig ankündigt, durch Steuersenkungen mehr Kaufkraft und damit auch die Gefahr steigender Inflation zu erzeugen. Die britische Notenbank hatte und hat alle Hände voll zu tun, einen schwierigen Balanceakt zu vollführen, während die Truss-Regierung angesichts ihres primären Zieles „Wachstum“ offenbar eine steigende Inflation in Kauf genommen hat. Auch der bereits zitierte Paul Krugman bezweifelt die fachliche Kompetenz von Truss und Kwarteng: „Es ist nie gut, wenn die Wirtschaftsexperten führender Banken erklären, dass die Regierungspartei des Landes zur Sekte für den Weltuntergang (Doomsday Cult) geworden ist.“    

Die Abschaffung des Spitzensteuersatzes wurde nach wenigen Tagen revidiert. Ein paar Tage danach kam die nächste Kehrtwende: Truss unterstützte nun die von Boris Johnson angekündigte Erhöhung der Unternehmenssteuer, die sie in Birmingham ebenfalls eingestampft hatte. Ob die neue Regierungschefin die längerfristigen finanzpolitischen Probleme und Zusammenhänge verstanden hat, ist nicht ganz klar. Bei ihrer Rede am 5.10.2022 in Birmingham erklärte sie – und ihre Augen wurden dabei immer größer: „Ich habe drei Prioritäten: Wachstum, Wachstum, Wachstum“ (sueddeutsche.de, 5.10.2022: „Ich habe drei Prioritäten:  Wachstum, Wachstum, Wachstum“). Zwar war nun die Senkung des Spitzensteuersatzes vom Tisch. Doch – so berichtete die Süddeutsche Zeitung – „bleiben weitere Vorhaben, die dazu führen sollen, dass die Bürger mehr Geld in der Tasche haben. So wird etwa der so genannte Basissteuersatz von 20 auf 19 Prozent fallen.  Hinzu kommen die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge sowie Steuererleichterungen für Unternehmen.  Das alles soll die Konsumnachfrage ankurbeln, was allerdings dazu führen dürfte, dass die Preise tendenziell steigen – und damit die Inflation“ (sueddeutsche.de, 11.10.2022: „London kämpft um das Vertrauen der Finanzmärkte“). Hier sei nochmals erwähnt: Die Finanzierung all dieser Programmpunkte war ungeklärt;  wahrscheinlich hätten dazu Kredite aufgenommen werden müssen.      

Eine Überschrift in der New York Times beschreibt in wenigen Worten das Dilemma, in das die neue britische Regierung geraten war: „Liz Truss glaubte an die Märkte, aber die Märkte glaubten nicht an sie“. In einem lesenswerten Gastbeitrag beschreibt der kanadische Historiker Quinn Slobodian (seit 2015 am Wellesley College in der Nähe von Boston, Mass. tätig) die Verbindungslinien von Liz Truss und Kwasi Kwarteng zur Vorstellungswelt von Margaret Thatcher, die von 1979 – 1990 britische Premierministerin war. Thatcher und die Anhänger des Thatcherismus – in den USA operierten die Reaganomics mit ähnlichen Annahmen – priesen die Gestaltungskraft der weitgehend unregulierten Märkte und beschäftigten sich daher nicht allzu sehr mit den Lenkungsmechanismen der Wirtschaftspolitik. Quinn Slobodian zitiert in seinem Gastbeitrag Margaret Thatcher mit dem Satz: „Die Wirtschaftswissenschaften sind die Methoden; das Ziel ist, die Herzen und die Seelen zu verändern.“ Für die Thatcherites galt: „Über die Statistikzahlen und die ökonomischen Theorien hinaus bleibt das Gefühl, dass viele Probleme Britanniens ihre Wurzeln in Bereich der kulturellen Werte und der Mentalität haben.“ Die Zukunft müsse daher mit einer Wiederbelebung der Victorianischen Werte von harter Arbeit, Aus- und Weiterbildung und Eigenständigkeit, ohne fremde Hilfe, gestaltet werden. „Britannien ist nun ihr Laboratorium“ zitiert Slobodian einen Journalisten (nytimes.com, 19.10.2022: „Liz Truss Believed in Markets, but the Markets Did Not Believe in Her“; Gastbeitrag von Quinn Slobodian).  

In der aktuellen Situation misslang der Balanceakt zwischen der Finanzpolitik der Regierung, die mit viel Geld das Wachstum ankurbeln wollte, und der Bank of England, die mit höheren Zinsen Kaufkraft abschöpfen wollte, um die Inflation in den Griff zu bekommen. Diese zwei wichtigen Akteure standen und stehen nicht nur in Großbritannien auf Grund ihrer unterschiedlichen Aufgaben in einem Spannungsverhältnis. In der New York Times wird dieses Spannungsverhältnis so beschrieben: „Die Zentralbanken auf der Welt erhöhen die Leitzinsen um die Inflation zu bekämpfen und dies macht es der Regierung schwerer, Geld zu borgen und auszugeben. Dies führt zu Spannungen – wenn nicht zum unmittelbaren Konflikt – zwischen den Zentralbänkern und den gewählten Führungspersönlichkeiten“ (nytimes.com, 4.10.2022: „Economists Nervously Eye the Bank of England’s Market Rescue“). Die beiden Akteure konnten sich offenbar in Großbritannien nicht auf eine gemeinsame Linie einigen und die Märkte gerieten in Panik.  – Kein Wunder, dass der Keynesianer Paul Krugman über all dem „Schadenfreude“ empfindet.

Was für ein Finale …

…. auch für diesen Teil meines Papiers. Die Spitzenmeldung der „ARD-Tagesschau um Fünf“ am Freitag, 14.10.2022 lautete: „Premierministerin Truss entlässt Finanzminister“. Die Medien kommentierten diesen Schritt als klassisches Bauernopfer, denn bereits um 10:25 Uhr meldete die Süddeutsche Zeitung: Tories diskutieren offenbar Absetzung der Premierministerin.“ Es wurde eng für Liz Truss selbst. Die gemeinsame Kehrtwendung von Truss und Kwarteng beim Spitzensteuersatz reichte nicht aus. Kwarteng musste gehen und Truss stand nun allein im Sturm, den sie selbst angeblasen hatte. Sollte es ihr ähnlich ergehen wie ihrem Vorbild Margaret Thatcher, die 1990 ebenfalls von der eigenen Partei abgesetzt worden war?

Und – um das Ende vorwegzunehmen: Nach 44 Tagen im Amt der Premierministerin erklärte Liz Truss am 20.10.2022 ihren Rücktritt. „Truss verlässt das Amt während einer der schwersten Krisen des Landes“, schrieb die Heilbronner Stimme (Heilbronner Stimme, 21.10.2022: „Das Spiel ist aus“).

Brexit – Britanniens unsichtbare dritte Plage

Zurück zu den drei Plagen, die das Vereinigte Königreich am Hals hat und von denen eingangs die Rede war.  Die jetzige Krise hat – wie auch in anderen Ländern – ihre Ursache in der Pandemie und in Putins Krieg.  Darüber streitet in Großbritannien niemand. Auch Liz Truss nannte als die Ursachen der globalen Krise Covid und Putins Krieg in der Ukraine. Die negativen Folgen des Brexit erwähnte sie nicht. Ihr Vorgänger Boris Johnson hatte immer wieder von den großartigen Chancen für die Zukunft des Landes gesprochen, ohne die Gängeleien aus Brüssel. „We want our country back!“, hatten die Brexiteers immer wieder gefordert. Nun haben sie ihr Land zurück – und eine Krise und ein Führungschaos dazu. Vom EU-Programm „Next Generation EU“ profitiert Großbritannien nicht. Das Land ist „draußen“ und auf sich selbst gestellt.

Dass Liz Truss in Birmingham nicht über die negativen Auswirkungen des Brexit für die britische Wirtschaft sprach, ist verständlich. Sie wollte eine „Aufbruch-Rede“ halten; ihr Motto war: „Moving on up“.  „Wir sind die Partei, die den Brexit erledigt hat und wir werden die Versprechungen des Brexit verwirklichen … Wir nutzen die neuen Freiheiten außerhalb der Europäischen Union … Tag und Nacht denke ich darüber nach, wie wir dieses Land in Bewegung bringen können“, sagte Truss am 5.10.2022 in Birmingham. Manchmal klang ihre Rede, als hätten die Konservativen gerade eine Wahl gewonnen und müssten das Land aus dem Tiefschlaf wecken. Aber waren ihre drei Vorgänger – Cameron, May und Johnson – nicht von der gleichen Partei?

Truss sprach im Oktober 2022 über den Brexit ähnlich optimistisch und an der Realität vorbei, wie ihr Vorgänger Boris Johnson im Oktober 2021 – also noch lange vor Beginn des Ukraine-Krieges, als es in Großbritannien „nur“ zwei Krisen gab. Die New York Times hat seinerzeit ausführlich berichtet: „Die Löhne in manchen Industriezweigen steigen, weil die Arbeitgeber nicht genügend Arbeitskräfte finden können.“ Der Bericht enthält Fotos – aufgenommen im September 2021 – von leeren Regalen in einem Supermarkt und von geschlossenen Tankstellen in Manchester. Der Grund war seinerzeit nicht, dass es etwa keine Lebensmittel und keinen Treibstoff gab, der Grund war vielmehr, dass Lkw-Fahrer in großer Zahl fehlten um die Güter von „A“ nach „B“ zu transportieren. Viele Lkw-Fahrer in Großbritannien kamen ursprünglich aus Osteuropa. Als die Betriebe zu Beginn der Pandemie dicht machen mussten, gingen viele in ihre Herkunftsländer zurück. Als sie später wieder gebraucht wurden, hatten sie längst im Heimatland oder anderswo in Europa eine neue Arbeit gefunden. Die wenigen, die nach Britannien zurückkehren wollten hatten nun große Schwierigkeiten mit den neuen Einwanderungsbestimmungen der Nach-Brexit-Zeit. Gewiss war und ist der Arbeits- und Fachkräftemangel nicht nur ein britisches Problem. Doch das Zusammenwirken von Pandemie und Brexit erzeugte in Großbritannien eine ganz besondere Gemengelage: „Der Brexit hat die Einwanderer aus Osteuropa davon abgehalten, als Lkw-Fahrer zu kommen während die neuen Zoll-Formalitäten den Güterverkehr in den Häfen durcheinander brachte“, schrieb die New York Times. Im Gegensatz dazu feierte Boris Johnson diese Kalamität als Teil der dringend benötigten wirtschaftlichen Neuordnung des Landes:  „Der Brexit hat uns einen Vorteil gebracht, den Großbritannien mehr als ein Jahrzehnt vermisst hat:  Steigende Löhne.“ 

Die tatsächlichen Zusammenhänge erläuterten andere: „Bis jetzt ist dies reine Rhetorik. Es gibt keinen konkreten Plan, wie dies (der Aufbau einer gut ausgebildeten und gut bezahlten britischen Arbeitnehmerschaft) tatsächlich realisiert werden soll“, sagte Bernd Brandl, Professor für Management an der Durham-University. Adam S. Posen, ein früheres Mitglied des Ausschusses für Geldpolitik bei der Bank of England beschrieb diesen Anstieg der Löhne als einmalige Sache; die Arbeitnehmerseite sei bei Lohnverhandlung nicht dauerhaft gestärkt worden. „Die grundlegenden Probleme werden nicht behoben“  (nytimes.com, 20./21.10.2022: „Boris Johnson Claims a Positive in Britain’s Shaortages, Economics Disagree“). Mag sein, dass das Arbeitskräfteproblem irgendwann gelöst wird, dass aber eine Reihe internationaler Konzerne ihren europäischen Hauptsitz von der Insel in die Republik Irland oder auf den Kontinent verlegt haben, um weiterhin in der EU präsent zu sein, lässt sich nicht so leicht revidieren. Der amerikanische Chip-Hersteller Intel hatte beabsichtig, in Großbritannien in weitere Betriebe zu investieren.  Intel sieht sich inzwischen in EU-Ländern um (nytimes.com, 20./21.10.2022: „Boris Johnson Claims a Positive in Britain’s Shortages. Economists Disagree“).

Es sei nochmals erwähnt: Vor einem Jahr gab es in Großbritannien zwei Ursachen für die Krise: Brexit und Pandemie, mit denen sich die konservative Regierung auch in der öffentlichen Diskussion auseinandersetzen musste. Doch weit besser als seine Nachfolgerin verstand es Boris Johnson, die Krisenrealität in seinem Sinn umzudeuten. Liz Truss erklärte am 5.10.2022 in Birmingham: Wir sind die Partei, die den Brexit vollzogen hat und werden die Versprechungen des Brexit umsetzen.“ Doch sie ist mit ihrem Wirtschaftsprogramm in Rekordzeit gescheitert. Mit der Feststellung „We are the party who got Brexit done“, wollte Liz Truss dieses Thema, das das Land noch immer verfolgt, endlich abhaken. „Nach sechs Jahren Brexit gibt es im Vereinigten Königreich eine gewisse Sehnsucht nach Ruhe und Stabilität. Aber es gibt keine Ruhe in diesem Land, nicht jetzt, nicht in Birmingham, und schon gar nicht mit Liz Truss“, hält Michael Neudecker den Konservativen und den Brexit-Befürwortern von 2016 entgegen (sueddeutsche.de, 5.10.2022: „Eine Premierministerin im freien Fall“). Die Brexitfolgen und Brexitprobleme werden auch in Zukunft immer wieder sichtbar werden. 

Und es gibt noch ein weiteres Problem, das auf den Brexit zurückgeht und das gerade wieder auftaucht: Die Scottish National Party (SNP) hat ihr Ziel bekräftigt, erneut ein Unabhängigkeitsreferendum abzuhalten um anschließend wieder der EU beizutreten. Nicola Sturgeon, die SNP-Vorsitzende und Chefin der Regionalregierung in Edinburgh hat bereits das Datum für den 19.10.2023 angekündigt. Die britische Regierung in London verweigert dazu ihre Zustimmung zu einem zweiten Referendum und verweist darauf, dass die Schotten bereits 2014 für den Verbleib im Vereinigten Königreich votiert haben. Die schottische Regionalregierung hält dagegen und verweist auf die Brexit-Abstimmung von 2016 bei der die Schotten mehrheitlich für den Verbleib in der Europäischen Union votierten. Um rechtlich auf der sicheren Seite zu sein – eine Situation wie im spanischen Katalonien will Nicola Sturgeon vermeiden – hat sie die Frage, ob Schottland erneut abstimmen darf, dem Obersten Gerichtshof in London vorgelegt. Die Entscheidung wird in einigen Wochen erwartet (sueddeutsche.de, 11.10.2022: „Darf Schottland noch mal abstimmen?“).  

Doch damit nicht genug. In Cardiff, der Hauptstadt von Wales, beobachtet man genau, was in Sachen Loslösung in Schottland geschieht. Im Landesteil Wales gab es beim Referendum 2016 zwar eine knappe Mehrheit für den Brexit, doch insbesondere den Landwirten und vor allem den Schafzüchtern in Wales wurde inzwischen klar, dass aus Brüssel kein Geld mehr fließt. Die Frankfurter Rundschau zitierte im April 2021 Richard Wyn Jones von der Universität Cardiff  mit dem Hinweis, vieles würde davon abhängen, wie sich die Lage in Schottland entwickelt. Würde es trotz des Widerspruchs in London zu einem weiteren Referendum in Schottland kommen, und würden die Schotten dann für eine Unabhängigkeit stimmen, könne dies einen Domino-Effekt auch in Wales auslösen (Frankfurter Rundschau, 26.4.2021: „Brexit: Nach Schottland wendet Wales sich von London ab“). 

Schottland und Wales – es gibt noch ein weiteres ungelöstes innerbritisches Brexit-Problem: Das „Nordirland-Protokoll“. In diesem Teil des Austrittsabkommens zwischen Großbritannien und der EU geht es vor allem um die Rettung des Karfreitagsabkommens von 1998, mit dem die gewalttätigen und auch blutigen Auseinandersetzungen in der zu Britannien gehörenden Provinz Ulster im Norden Irlands beendet und ein Friedensprozess eingeleitet wurde. Unter einer dünnen Schicht von Einsicht und Vernunft brodelt eine lange Geschichte von Intoleranz und Hass zwischen England und Irland, zwischen Katholiken und Protestanten, zwischen „Uns“ und „Denen“ und vieles mehr. In Ulster ging es vor dem Karfreitagsabkommen um die Deutung dieser langen Geschichte, vordergründig auch um Religion, im Grunde aber um die Entscheidungsmacht über die Zukunft der Region. Sie solle ein Teil der Irischen Republik werden, hatten sich die Irish Republican Army (IRA) und auch ihr politischer Arm, die Sinn Fein ins Programm geschrieben. Sie sollte und soll ein Teil des Königreichs bleiben, ist eine der Grundforderungen der Democratic Unionist Party (DUP). Gerry Adams, der Parteichef von Sinn Fein von 1983 – 2018, und der Pfarrer und Politiker Ian Paisley standen für den unerbittlichen Gegensatz, man könnte sagen für den Bruderzwist in der Region. 

Der Brexit brachte das seit dem Karfreitagsabkommen gewachsene zarte Pflänzlein der Versöhnung in ernsthafte Gefahr. Das Ausscheiden von Großbritannien aus der EU musste zur Folge haben, dass dort oben, zwischen Ulster und der Republik Irland eine EU-Außengrenze entsteht, mit allen Konsequenzen:  Grenzkontrollen, Bewachung, Polizei und vielem Weiteren – manchmal mitten durch das Gebiet einer Gemeinde. Mancher Landwirt hätte, um seine Felder auf der anderen Seite zu bestellen, täglich über diese Grenze fahren und die damit verbundenen Prozeduren über sich ergehen lassen müssen. Um diese offene und sichtbare Grenze zu verhindern, wurde das Nordirland-Protokoll ausgehandelt und unterschrieben. Die Warenkontrollen finden nicht zwischen Ulster und dem EU-Mitglied Irische Republik statt, sondern in der Irischen See. Damit wurden nicht die Pendler und der Warenverkehr zwischen Nordirland und der Republik Irland  betroffen – aber ganz Nordirland blieb faktisch Mitglied er Europäischen Zollunion. Für die Hardliner unter den Brexiteers und auch für die DUP ein untragbarer Zustand. „Es ist keine Übertreibung, wenn man behauptet, dass die DUP dieses Protokoll abgrundtief hasst.“ In ihren Augen ist Nordirland seit dem Brexit nicht mehr ein gleichberechtigter Landesteil des Vereinigten Königreichs (sueddeutsche.de, 27.10.2022:  „Blockade in Belfast“). Boris Johnson, der zuvor dem Austrittsabkommen und damit auch dem Nordirland-Protokoll selbst zugestimmt hatte, verlangte von der EU eine Überarbeitung. Die Verhandlungen liefen zäh, wurden im Frühjahr 2022 unterbrochen und dadurch noch komplizierter, dass Johnson erneut die Frage der Zuständigkeit des EuGH bei der Streitentscheidung zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich ins Spiel brachte.

Noch komplizierter wurde die Gemengelage, als der amerikanische Präsident Joe Biden dem britischen Regierungschef Boris Johnson erklärte, dass die USA alle Schritte ablehnen, die das empfindliche Gleichgewicht in Nordirland gefährden könnten. Biden ist dabei sowohl politisch als auch privat involviert.  Das Karfreitagsabkommen war mit tatkräftiger Unterstützung amerikanischer Diplomaten während der Amtszeit von Bill Clinton zustande gekommen. Zudem hat Biden familiäre Verbindungen nach Irland  (nytimes.com, 18.10.2021: „Showdown Over Northern Ireland Has a Key Offstage Player: Biden“).  

Liz Truss setzte die unnachgiebige Linie ihres Vorgängers fort, doch im Lauf ihrer kurzen Amtszeit gab es eine positive Überraschung: „Nach einer Funkstille von sieben Monaten laufen die Verhandlungen zwischen EU und britischer Regierung seit drei Wochen wieder“, berichtet die Süddeutsche Zeitung. Allerdings wird unter der Regierung Sunak in den nächsten Wochen nicht viel geschehen. „Angesichts des Chaos, das Truss an den Finanzmärkten ausgelöst hatte, hat Sunak fürs Erste andere Themen auf der Agenda, als die Situation in Belfast“ (sueddeutsche.de, 27.10.2022:  „Blockade in Belfast“). Dort, in Belfast, weigert sich die DUP seit der Regionalwahl im Mai 2022, in eine Regierung des Wahlsiegers Sinn Fein einzutreten, wie dies das Karfreitagsabkommen vorsieht. Die kleine DUP wird weiter versuchen, auch die neue konservative Regierung in London unter Druck zu setzen.

Trotz Brexit:  Großbritannien ist noch immer ein Teil Europas

Der 1. Januar 2021 war für viele Tories so etwas wie ein Feiertag. Man hatte das Land endlich „zurückgeholt“ und aus den Fesseln der Bürokraten in Brüssel befreit. Die Brexiteers wähnten Großbritannien nun vor einer großartigen Zukunft. Zwar berichteten die Medien über viele kleine und große Probleme, die die Brexiteers vorher überhaupt nicht auf dem Zettel hatten: Etwa, dass für Päckchen in die EU nun eine Zollinhaltserklärung erforderlich wurde oder, dass es für junge Leute nun schwieriger wurde, auf dem Festland zu studieren oder zu arbeiten. Es gab lange Lkw-Schlangen an den britischen Häfen – vor dem 1. Januar 2021 wegen Corona, danach wegen der komplizierter gewordenen Zollvorschriften. Kleinere britische Betriebe konnten den Papierkram nicht mehr leisten und haben den Handel mit dem Kontinent aufgegeben.  Bereits erwähnt habe ich die Abwanderung von Arbeitskräften und auch von internationalen Konzernen von der Insel – die Liste der kleinen und großen Probleme könnte verlängert werden. Manches hat sich zwischenzeitlich wieder normalisiert, manches wird sich nicht mehr ändern. 

Die komplizierten Folgen des Brexit treten jedoch nicht nur in der britischen Innenpolitik zu Tage. Auch außenpolitisch stellen sich Fragen. Welche Stellung wird die Atommacht, das NATO-Mitglied und frühere EU-Mitglied Großbritannien künftig in Europa und in der Welt einnehmen? Die Brexiteers brachten den Begriff „Global Britain“ ins Spiel – gewissermaßen zur konkreteren Beschreibung des „Taking our country back“ in der Außen- und Sicherheitspolitik. Nicholas Westcott vom Centre for International Studies and Diplomacy der SOAS University of London hat diesen Begriff bereits im März 2020 als „nicht genügend definiert“ bezeichnet. „Warme Worte und schöne Phrasen und auch eine Mehrheit von 80 Stimmen im Unterhaus können die Nacktheit der internationalen Stellung von Britannien nach dem Brexit nicht verdecken.“ 

Westcott beschreibt, dass die britische Außenpolitik nach 1945 auf drei Säulen stand:

  • der transatlantischen Allianz,
  • der wirtschaftlichen Integration Europas (seit 1960),
  • der Erhaltung des multilateralen Systems und des internationalen Rechts. 

Der Brexit habe die mittlere Säule zerstört und die beiden anderen zeigten sich schwankend. Daher sei „Global Britain“ als eine alternative Außenpolitik zu ungenau definiert, um zu Hause brauchbar und draußen attraktiv zu sein. 

„Wirtschaftlich steht das Vereinigte Königreich gegenwärtig (2020) auf Rang Sechs in der Welt. Aber auf sich selbst gestellt ist es ein Zwerg im Vergleich zu den USA, der EU und China und ist zur Sicherung des eigenen Wohlstands auf den Handel mit anderen Ländern angewiesen. Der (britische) Export von Gütern und Dienstleistungen beträgt rd. 30 Prozent des britischen Sozialprodukts; der Import umfasst weitere 32 Prozent – 49 Prozent des Im- und Exports geschieht mit EU-Mitgliedstaaten“, stellt Westcott fest und schreibt den von „Global Britain“ schwärmenden Brexiteers ins Stammbuch: „Ohne die Einfuhr von Lebensmittel könnte Großbritannien nicht lang überleben, und ohne den Europäischen Markt wäre es verloren“ (European Council on Foreign Relations – ecfr.eu, 23.3.2020: „The bigsqueeze: British foreign policy after Brexit“; Kommentar von Nicholas Westcott). Es sei an dieser Stelle nochmals vermerkt: Dieser Kommentar wurde im März 2020, also vor dem tatsächlichen EU-Austritt veröffentlicht. Eineinhalb Jahre später wurden – wie bereits zitiert – in der New York Times die Bilder leerer Regale im Supermarkt und einer geschlossenen Tankstelle in Manchester veröffentlicht.

Boris Johnson war Realist genug um zu erkennen, dass er den Begriff „Global Britain“ konkretisieren musste. Dies geschah im März 2021 mit einem 90-seitigen Überblick über die neue Außen- und Sicherheitspolitik des Landes. In dem Bericht ging es vor allem darum, die Eigenständigkeit Großbritanniens zu betonen. Vermerkt ist in den Leitlinien, dass die Obergrenze der nuklearen Sprengköpfe im Arsenal des Landes von 180 auf 260 angehoben werden soll (sueddeutsche.de, 16.3.2021: „Johnsons Traum von neuer Stärke“). Weitere Details sollen hier nicht beschrieben werden, nicht zuletzt deshalb, weil Johnsons Nachfolgerin Liz Truss in ihrer Rede am 5.10.2022 in Birmingham die Außen- und Sicherheitspolitik überhaupt nicht ansprach. Die europäische Wirklichkeit – nicht zuletzt Putins Krieg gegen die Ukraine – hat die Tories inzwischen wieder eingeholt.

Stefan Kornelius schrieb am 16.3.2021 über die damals neuen außenpolitischen Leitlinien Großbritanniens in der Süddeutschen Zeitung: „Großbritanniens direkte Nachbarn finden in dem Dokument lediglich im Zusammenhang mit der NATO Erwähnung. Die Europäische Union kommt mit ihrer gemeinsamen Außenpolitik nicht vor. Die USA werden als engster Verbündeter und bedeutendster militärischer Partner genannt. China und vor allem Russland werden als Bedrohung dargestellt, China allerdings auch als wichtiger Handelspartner, mit dem es pragmatisch umzugehen gelte. Großbritannien werde sich der indo-pazifischen Region zuwenden, so Johnson im Parlament.“ Ferner betonte Johnson, dass Investitionen in die Forschung dem Land einen außenpolitischen Vorteil verschaffen würden. Er sprach in diesem Zusammenhang von einer „Wissenschaftssupermacht“ (sueddeutsche.de, 16.3.2021: „Johnsons Traum von neuer Stärke“; Bericht von Stefan Kornelius).

„Traum von neuer Stärke“ und „Zuwendung zur indo-pazifischen Region“ – auch in anderen Berichten und Kommentaren wird die Rückwärtsgewandtheit des neuen Ansatzes vermerkt. „Großspurig und nostalgisch“ überschrieb Stefan Kornelius einen weiteren Bericht in der Süddeutschen Zeitung: „Die Regierung Johnson erlässt außenpolitische Grundsätze, bei denen die Ambitionen im krassen Widerspruch zur Realität stehen.  Die EU kommt, natürlich, nicht darin vor – als könne man sie sich wegwünschen“ (sueddeutsche.de, 16.3.2021: „Großspurig und nostalgisch“; Bericht von Stefan Kornelius). Und der Autor und Fernsehjournalist Paul Mason berichtete aus London: „Großbritannien bewertet seine Stellung in der Welt radikal neu.  Überheblichkeit schlägt dabei Realitätssinn – schlechte Nachrichten für Europa“ (IPG-Pressedienst,  22.3.2021: „Empire verzweifelt gesucht“). 

Ein Jahr später – man könnte von einer tragischen Ironie des Schicksals sprechen – hat Putin die Politiker in London wieder nach Europa zurückgeholt. Angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine trägt auch die britische Regierung die Strategie der NATO mit und steht bei den Sanktionen gegen Russland in einer Reihe mit der EU – fast so, als sei Großbritannien noch immer dabei. 

Aber es wäre viel zu früh und geradezu vermessen, jetzt von so etwas wie der „Rückkehr des verlorenen Sohnes“ nach Europa zu träumen. Der neue britische Premierminister Rishi Sunak hatte zwar mit seinem Rücktritt als Finanzminister in der Regierung Johnson dessen Abgang ausgelöst und wird daher von manchen Tories als Verräter gesehen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Sunak mit Johnsons politischer Zielrichtung über Kreuz wäre. Zu Beginn seiner Amtszeit als neuer Premier erklärte Sunak, er wolle Integrität, Professionalität und Verlässlichkeit ins Zentrum seiner Arbeit stellen. Dies ist zweifellos notwendig; er ist der fünfte Tory-Premier in sechs Jahren. Doch wie hält er es mit Europa? Michael Neudecker bezeichnet Sunak in einem Kommentar in der Süddeutschen Zeitung als überzeugten Brexiteer. Beim Auftritt im Unterhaus am 26.10.2022 beschuldigte er die Opposition, die Brexit-Wahl nicht zu respektieren. „Er klang dabei nicht wie jemand, der dieses polarisierte Land endlich vereinen könnte, sondern, zumindest in manchen Momente, wie eine ernstere Version von Boris Johnson“, schrieb Neudecker (sueddeutsche.de, 26.10.2022: „Rishi Sunak spricht von Integrität – handelt aber anders“). Die europäische Nagelprobe wird kommen, wenn Sunak in der Nordirland-Frage Entscheidungen treffen muss.

Die nächsten Parlamentswahlen in Großbritannien sind spätestens 2025 fällig. Nach heutigem Stand würden die Tories haushoch verlieren, doch zwei Jahre sind eine lange Zeit und was dann das Kernthema des Wahlkampfes sein wird, ist nicht vorhersehbar. Was wäre wenn es vorher vorgezogene Wahlen gäbe und Labour würde diese gewinnen und den Premierminister stellen? (Eine zweifelhafte Fragestellung, denn die Wirklichkeit ist anders: Die Tories werden keinen politischen Selbstmord begehen und vorgezogenen Neuwahlen ansetzen). Aber trotzdem: Was wäre wenn …? Auch die Labour Party hat sich in den Auseinandersetzungen um den Brexit nicht gerade überzeugend europäisch gezeigt. Doch ich traue dem jetzigen Oppositionsführer Sir Keir Starmer mehr Realitätssinn zu als Boris Johnson und Liz TrussEine treffende Aussage machte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz am 15.10.2022 beim Kongress der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) in Berlin: „Eine geeinte Europäische Union aus 27, 30, 36 Staaten mit dann mehr als 500 Millionen freien und gleichberechtigten Bürgerinnen und Bürgern kann ihr Gewicht in dieser Welt noch stärker zur Geltung bringen“ (sueddeutsche.de, 15.10.2022: „Scholz: EU mit 36 Staaten wäre schlagkräftiger“). Könnte Großbritannien dann noch abseits stehen? Ein klein Bisschen Hoffnung gibt es auch nach dem ersten Treffen der von Macron angestoßenen „Europäischen Politischen Gemeinschaft“ am 6.10.2022 in Prag. Aus Großbritannien war Liz Truss – zu der Zeit noch britische Premierministerin – dabei, um nach Wegen zur Kooperation mit Europa außerhalb der verschmähten Europäischen Union zu suchen und hat sogar angeboten, das nächste Treffen der European Political Community in Britannien auszurichten. Im Vorbericht zum Prag-Treffen schreibt die New York Times, die post-Brexit Blues des Landes hätten in letzter Zeit zugenommen (nytimes.com, 6.10.2022: „Macron’s New Europe Debuts in the Shadow of War“). Ein klein wenig europäische Zukunftshoffnung sei auch mir erlaubt …

Doch die aktuellen Realitäten in Britannien sehen anders aus. Am 4.7.2022 zitierte die britische Tageszeitung The Telegraph Sir Keir Starmer mit der Aussage, er strebe nicht an, dem europäischen Markt oder einer Zollunion beizutreten. Starmer sprach sich dafür aus, to „make Brexit work“ – den Brexit umzusetzen.  Allerdings erhielt Starmer dafür Gegenwind von Sadiq Khan, dem Bürgermeister von London und weiteren Labour-Politikern. Der Telegraph schrieb von einer Labour-Revolte beim Thema Brexit (telegraph.co-uk, 4.7.2022: „Sir Keir Starmer clashes with Labour over Brexit“). Was am Ende bei dieser Diskussion bei Labour herauskommt, ist offen. Aber wenigstens wird auf der Insel – noch oder wieder – über Europa diskutiert. Der überzeugte Europäer schöpft daraus ein wenig Hoffnung – und bekanntlich stirbt die Hoffnung zuletzt.

Nachbetrachtung: Keine rosigen Aussichten – Zwei Kommentare

Am 25.10.2022 hat König Charles III Rishi Sunak zum neuen Premierminister ernannt. Sunaks Aufruf zur Geschlossenheit – es sei seine höchste Priorität, die Konservative Partei und das Land wieder zusammenzubringen – zeigt, es ist nicht alles zum Besten bestellt im Vereinigten Königreich. „Es gibt einen bedeutenden Teil der konservativen Partei, der nicht unter Rishi dienen wird“, schreibt die Heilbronner Stimme und berichtet über kritische Stimmen aus der Tory-Partei (Heilbronner Stimme, 25.10.2022: „Sunak soll den Scherbenhaufen beseitigen“). Welche Chancen hat Sunak und wie wird er mit den Brexit-Folgen umgehen? Dazu wage ich keine Prognose, will vielmehr zwei kritische Kommentare zitieren, einen von der Insel und den anderen vom Kontinent.

Voll bitterem Sarkasmus schreibt der britische Schriftsteller und Drehbuchautor Nick Hornby in der Süddeutschen Zeitung: „Das erschreckende Kuddelmuddel der vergangenen Jahre geht natürlich auf den Brexit zurück. Es liegt aber nicht allein daran, dass der Brexit eine politische und wirtschaftliche Katastrophe darstellt, von der wir uns womöglich nie mehr erholen werden. Wahnsinn oder Dummheit sind inzwischen notwendige Bedingungen, um überhaupt einen Posten zu ergattern. Seit dem Amtsantritt von Boris Johnson muss jedes einzelne Kabinettsmitglied, will es nicht als Verräter gebrandmarkt werden, nachweisen, dass es bedingungslos an den Brexit glaubt. Mittlerweile ist erwiesen, dass Politiker entweder verrückt oder dumm sein müssen, wenn sie im Ernst denken, der Brexit bringe etwas anderes als Schande und Untergang.“  (sueddeutsche.de, 23.10.2022: „Die Tories haben sich selbst zerstört. Niemand weint ihnen eine Träne nach.“ Gastbeitrag von Nick Hornby).

Ebenfalls in der Süddeutschen Zeitung schreibt Stefan Kornelius einen ähnlich bitteren Kommentar:  „Langsam, sehr langsam, erwachen die Tories aus dem populistischen Rausch, in den sie sich seit 2016 hineingesteigert haben. Boris Johnson hat diesen Populismus von der UKIP-Partei eines gewissen Nigel Farage ins Zentrum des Systems getragen und die Tories zur Partei des EU-Austritts gemacht – ein Mehrgenerationen-Thema, das die britische Politik auch weiter beschäftigen wird. Nach dem Brexit tat sich für Johnson allerdings ein Problem auf, das früher oder später alle Dagegen-Populisten befällt: Wofür eigentlich steht er, was ist das konstruktive Ziel seiner Politik? Als charismatischer Alleinunterhalter schafft man keine Arbeitsplätze und löst kein Energieproblem. Und wenn dann noch Charakterschwächen hinzukommen, dann steht jeder Populist in einer vernunftbegabten Gesellschaft mit einer funktionieren (Medien-)Öffentlichkeit schnell nackt da.“ Zum Schluss seines Kommentars stellt Kornelius mit Blick auf den neuen Premier die Frage: „Ob er die Tories von ihrem Fluch befreien kann und eine zeitgemäße, auch internationale Rolle für sein Land findet? Sechs Jahre nach dem Brexit-Votum wäre das keine schlechte Nachricht“ (sueddeutsche.de, 24.10.2022: „Rishe Sunak, die letzte Hoffnung der Konservativen“). 

Vor dem neuen britischen Premier liegt eine Herkulesaufgabe. Kornelius schreibt, dass es Sunak war, der vor Truss’ selbstmörderischen Steuersenkungsplänen warnte und dafür als unpatriotisch und fast schon links verspottet wurde. „Heute ist er der Prophet, der mit jeder Silbe recht bekommen hat.“ Truss hatte angekündigt, die Details ihrer Zukunftspläne am 31.10.2022 bekannt zugeben. Sunak hat dies inzwischen auf den 17.11.2022 verschoben. Die New York Times schreibt von einer nicht sehr beneidenswerten Aufgabe, die Glaubwürdigkeit Britanniens auf den internationalen Märkten wieder herzustellen (Nytimes.com, 26.10.2022:  „Rishi Sunak, New U.K. Leader, Delays Major Economic Plan“). Ich bin gespannt, wie Sunak und sein Schatzkanzler Jeremy Hunt mit dem Brexit und seinen Folgen umgehen werden.


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