Krieg – Ungereimtheiten, Irrationales und Emotionen

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Beitragsfoto: Deutsche Flagge | © Pixabay

Der seit über 3 Monaten tobende Krieg Russlands gegen die Ukraine führt nach wie vor zu allen möglichen Debatten und Diskussionen in der deutschen Politik, in der Öffentlichkeit und in den Medien. Ich will mich in diesem Papier mit einer besonderen Thematik beschäftigen: Der emotional aufgeladenen Debatte über die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine und über die Rolle, die manche Medien dabei spielten. Zunächst hatte ich Hemmungen, in diesen Kriegszeiten, in denen auch Journalisten ums Leben kamen, über Medienmacht und Medienverantwortung zu schreiben. Doch der außergewöhnliche Gastbeitrag des Philosophen Jürgen Habermas hat mich ermuntert, dieses Thema — trotz des Krieges und seiner Gefahren — aufzugreifen.  

Ich habe unter anderem aus einem Pressekommentar zitiert: „Es gibt keine Demokratie ohne freie Presse.  Und es gibt keine Diktatur mit freier Presse.“ Diese Aussage bedeutet für den Journalismus immer wieder Verantwortung und Verpflichtung zugleich.

Putins Krieg – Ungereimtheiten, Irrationales und Emotionen

Verfolgte man in den letzten Wochen die Diskussionen in Talkshows, Zeitungsspalten und Zeitschriften, so konnte man den Eindruck gewinnen, dass „alle“ schon lange wussten, was Putin im Schilde führt, dass „alle“ gewarnt haben und schon vor dem 24.2.2022 wussten, was über die Ukraine und auch über Europa hereinbrechen würde aber dass die Politiker in Europa, insbesondere in Deutschland das Menetekel an der Wand nicht sehen und auf die Warnungen nicht hören wollten, weil sie rückwärtsgewandt hofften, dass der russische Machthaber zwar drohte aber letztlich vor einem heißen Krieg zurückschrecken würde. Doch die Ursachen dieses Krieges, die Hintergründe und Zusammenhänge und vor allem die Frage, wie und wann der Krieg hätte noch abgewendet werden können, lassen sich nicht in einer kurzen Talkshow aufarbeiten. Darauf hat der renommierte Philosoph Jürgen Habermas in einem Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung hingewiesen, von dem später noch die Rede sein soll.

Am Donnerstag, den 24.2.2022 ist es dann geschehen! Mit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine hat der russische Präsident die europäische Sicherheitsarchitektur, die vor allem darauf baute, dass Grenzen nicht mit Gewalt oder Androhung von Gewalt verändert werden können und dürfen, auf den Kopf gestellt. Wladimir Putin redet immer wieder davon, Russland werde von der Ukraine und der Nato militärisch bedroht. Die Realität sieht grundlegend anders aus: Weder die Ukraine noch die Nato sind in Russland einmarschiert. Die russischen Machthaber fühlen sich in Wirklichkeit nicht vom westlichen Militär sondern vom westlichen Wertesystem bedroht, das auf Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und eine pluralistische und aktive Zivilgesellschaft baut. Die Ukraine hat sich in Richtung auf dieses Wertesystem auf den Weg begeben. Putin & Co fürchten, das ukrainische Beispiel könnte auf die russische Gesellschaft ansteckend wirken und die kleine Gruppe der Herrschenden im Kreml von den Schalthebeln der Macht und den Fleischtöpfen der Wirtschaft verdrängen. 

Die New York Times hat vor kurzem in einem Bericht den schrecklichen Widersinn von Putins Krieg beschrieben und auf die Gefahr einer weltweiten Hungerkrise hingewiesen. In den Getreidesilos der Ukraine, einem der größten Getreideproduzenten weltweit, lagern etwa 14 Millionen Tonnen, doch die Verschiffung ist nicht möglich, weil Russland die ukrainischen Häfen am Schwarzen Meer blockiert. David Beasley, der Exekutivdirektor des UN-Welternährungsprogramms hat es auf den Punkt gebracht: „Die Getreidesilos der Ukraine sind voll, während 44 Millionen Menschen dabei sind zu verhungern.“ (nytimes.com, 6.5.2022:  „Turning Tables on Russia With West’s Arms, Ukraine Goes on Offense“).

Am 27.2.2022 hat Bundeskanzler Olaf Scholz im deutschen Bundestag von einer Zeitenwende gesprochen:

 „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen …“

Olaf Scholz, 27. Februar 2022

Deutschland ist nun bereit, auch schwere Waffen an die Ukraine zu liefern – in Abkehr von dem seit Jahrzehnten geltenden Grundsatz, keine Waffen in Spannungsgebiete zu schicken. Die Ukraine ist weit mehr als ein Spannungsgebiet, in der Ukraine tobt ein furchtbarer Krieg und Deutschland wird aus diesem Grund in absehbarer Zeit seine Militärausgaben drastisch erhöhen.

Doch die Zeitenwende geht weit über Deutschland hinaus. Ein Merkzeichen dafür ist auch, dass traditionell neutrale Länder wie Schweden und Finnland nach intensiver Diskussion kurz vor dem Nato-Beitritt stehen, und dass die neutrale Schweiz sich wieder stärker auf die EU zu bewegt. Am 12.5.2022 veröffentlichte der finnische Präsident Sauli Niinistö und die Regierungschefin Sanne Marin eine gemeinsame Erklärung, unter anderem mit dem Hinweis, angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine die Bündnisfreiheit des Landes aufzugeben und der Nato beizutreten. Am 18.5.2022 haben beide Länder den offiziellen Antrag zur Aufnahme in die Nato gestellt. Das Nato-Mitglied Türkei legt sich quer und will aus innenpolitischen Gründen der Aufnahme der beiden Länder nicht zustimmen. Die Heilbronner Stimme traf am 19.5.2022 mit einer Karikatur des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan genau den Punkt: Bakschisch!“ 

Die Reaktionen aus Moskau können mit dem Begriff „hanebüchen“ treffend beschrieben werden. Das russische Außenministerium beklagte eine „radikalen Wechsel des außenpolitischen Kurses“ in Helsinki. Ein Beitritt des Nachbarn zur Nato werde den russisch-finnischen Beziehungen schweren Schaden zufügen.  „Russland wird gezwungen sein, entsprechend zu antworten – in militärisch-technischer und in anderer Hinsicht – um den Gefahren mit Blick auf seine nationale Sicherheit Rechnung zu tragen“, hieß es in einer Mitteilung des Ministeriums (sueddeutsche.de, 12.5.2022: „Finnland will der Nato beitreten“). Die Einlassungen aus Moskau sind ein klassisches Beispiel für die Verdrehung von Ursache und Wirkung. Weder Finnland noch Schweden haben vor dem russischen Einmarsch in der Ukraine eine Nato-Mitgliedschaft ernsthaft erwogen. Wie lange wird die russische Öffentlichkeit solchen und ähnlichen Propaganda-Formulierungen noch folgen?

„Das hat Putin nun davon“, überschrieb Kai Strittmatter seinen Kommentar in der Süddeutschen Zeitung: „Mit aller Macht wollte die russische Führung sich den Westen vom Leib halten. Doch wegen des Überfalls auf die Ukraine wird Finnland wohl der Nato beitreten. Damit verdoppelt sich die Landgrenze Russlands zum Verteidigungsbündnis.“ Dies sei ein spektakuläres Beispiel für die Fehlkalkulation von Russlands Führung, die mit ihrem Angriffskrieg das genaue Gegenteil von dem erreicht, was sie sich als Ziel vorgegeben hat“, stellte Kai Strittmatter fest (sueddeutsche.de, 12.5.2022: „Das hat Putin nun davon“).

Krieg in Europa

Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben,
Wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.

Friedrich Schiller: „Wilhelm Tell“

Die Wünsche und Hoffnungen in Europa gingen nicht in Erfüllung. In den Wochen vor dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine hatten eine Reihe westlicher Politiker versucht, am Telefon und durch Reisen nach Moskau den – wie sich später herausstellte – im Kreml längst beschlossenen Lauf der Dinge zu stoppen. Mit ihren Besuchen wollten der französische Präsident Macron und der deutsche Bundeskanzler Scholz dem russischen Machthaber Putin vor allem klarmachen, welche Konsequenzen ein Krieg für Russland aber auch für Europa haben würde.

Am 24.2.2022 – knapp 77 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs hat die Atommacht Russland das Nachbarland Ukraine völkerrechtswidrig angegriffen. Die Begründung war an den Haaren herbeigezogen:  Die Ukraine solle entmilitarisiert und entnazifiziert werden. Aus russischer Sicht sind alle, die dieser Argumentation nicht folgen „Nazis“. 

Die Handlungsgrundlage der Nato und der EU lässt sich in drei Punkten zusammenfassen:

  • Solidarität und jede mögliche Unterstützung der Ukraine bei der Verteidigung des Landes.
  • Größtmögliche Geschlossenheit des Westens und ständige Kooperation und Koordination der Gegenmaßnahmen.
  • Die Nato wird jeden Millimeter des Territoriums ihrer Mitgliedstaaten gemeinsam verteidigen, jedoch nicht aktiv und als Kriegspartei in den Ukrainekrieg eingreifen.

Die Entscheidung des Westens, nicht aktiv in den Krieg einzugreifen, war und ist in der deutschen Politik, in der Öffentlichkeit und auch in der veröffentlichten Meinung weitestgehend akzeptiert. Doch angesichts des Kriegsgeschehens, insbesondere nach Aufdeckung der russischen Gräueltaten in Butscha und andernorts, entwickelte sich hierzulande und auch über Deutschland hinaus eine heftige Debatte – man könnte sie als eine Art Ersatzkrieg beschreiben – darüber, ob und unter welchen Voraussetzungen Deutschland schwere Waffen an die Ukraine liefern sollte oder müsste. Darüber soll im Rahmen dieses Papier später noch die Rede sein.

Putins Fehleinschätzungen

Die russischen Truppe wurden am 24.2.2022 im Norden der Ukraine mit dem Befehl und der Erwartung über die Grenze geschickt, die Ukraine zu „befreien“; die Truppen würden von den Menschen mit Blumen begrüßt. Doch die Wirklichkeit war völlig anders als sie von der russischen Propaganda erzählt worden war.  Die Truppen wurden nicht mit Blumen und Fahnen als Befreier begrüßt sondern mit heftigem Widerstand des ukrainischen Militärs und auch der Bevölkerung. Offenbar hatte Putin geplant, in wenigen Tagen in die Hauptstadt Kiew durchzustoßen und dort ein Marionettenregierung zu installieren. Dieses Vorhaben ist gescheitert. Die russischen Truppen mussten sich zurückziehen ehe sie Kiew erreicht hatten. Die Verluste an Menschen und Material waren hoch. Der Nimbus unschlagbarer Stärke der russischen Truppen war verloren.  In Butscha und in anderen Orten, die vorübergehend besetzt waren, kamen unbeschreibliche Gräueltaten ans Licht. Russland hat sein Ansehen als Kulturnation mutwillig zerstört.

Das Kriegsgeschehen hat sich inzwischen vom Norden des Landes in den Osten (Donbas) und Süden (Mariupol) verlagert, „wo die russischen Truppen alles daran setzen, um ihrem Präsidenten Wladimir Putin etwas zu präsentieren, das er einen Sieg nennen könnte“, stand vor kurzem in der New York Times (nytimes.com, 5.5.2022: „Putin’s Forces Battle in East Ukraine to Feed His Hunger for a Victory“). An diesem Tag, dem 5.5.2022 war der Krieg 71 Tage alt geworden – eine Lösung oder gar ein Ende war und ist nicht in Sicht. Dennoch verbreitet sich im Westen eine gewisse Zuversicht: Putin und seine Generale scheinen sich militärisch in eine Sackgasse manövriert zu haben. Der russische Präsident hat vor allem die Geschlossenheit des Westens falsch eingeschätzt. Er mag vor dem 24.2.2022 aus seiner Sicht einen schlüssigen Plan gehabt haben, doch dieser Plan ging aus einer Reihe von Gründen nicht auf. Nach 71 Tagen Krieg und Zerstörung lautet das Zwischenergebnis: Putin ist nicht zu trauen; seine Handlungen sind nicht vorhersehbar – doch die russische Fahne weht nicht über dem Präsidentenpalast in Kiew. 

In einer Betrachtung des Deutschlandfunks, in der das Buch „Der Krieg“ des preußischen Generals Carl von Clausewitz abgehandelt wird, das 1832 erschienen ist, wird der aktuelle Stand der Auseinandersetzung zwischen Putins Russland und dem Westen wie folgt beschrieben:

„Sanktionen wie gegenwärtig zwischen der Europäischen Union und Putins Russland, sind halb Frieden und halb Krieg. Hybrid-Krieg ist der neue Name des alten Spiels, das permanent Mittel und Ziele wechselt, die Elemente der Politik und der Psychologie ausspielt und den Gegner im Unklaren lässt, wieweit man zu gehen bereit wäre.  Insofern die Lage Krieg niedriger Intensität ist, Wirtschaft statt Waffen, gelten die Clausewitzschen Lehren in all ihrer Strenge:”

„Der Krieg ist nichts als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel. Wir sagen mit Einmischung anderer Mittel um damit zu behaupten, dass dieser politische Verkehr durch den Krieg selbst nicht aufhört, nicht in etwas ganz Anderes verwandelt wird, sondern dass er in seinem Wesen fortbesteht (…) Der Krieg hat freilich seine eigene Grammatik, aber nicht seine eigene Logik.”

Carl von Clausewitz

Clausewitz formulierte damals kompliziert und für die heutige Zeit schwer verständlich. Zum besseren Verständnis fügt der Deutschlandfunk erläuternd an: „Bücher haben ihre Schicksale. Das gilt auch für den General von Clausewitz und seine Abhandlung „Vom Krieg“. Sie mag an die 200 Jahre alt sein. Indem sie die Politik für den Frieden in Haftung nimmt, kann sie aktueller nicht sein.“

Und um die Erläuterungen fortzusetzen: Eines Tages werden Verhandlungen stattfinden (müssen) und mit am Tisch wird jener unberechenbare Putin sitzen, dem nicht zu trauen ist – es sei denn, im Kreml gibt es eine Palastrevolution. Doch dies ist nicht zu erwarten. Deshalb werden die Verhandlungen – mit jenem Wladimir Putin am Tisch – äußerst erfahrene Diplomaten erfordern, die in der Lage sind, ein weitsichtiges  diplomatisches Meisterstück zu vollbringen. Emotionale Appelle die den Nerv der Öffentlichkeit treffen sollen, werden dabei nicht ausreichen. 

Claudia Major, Expertin für Sicherheits- und Verteidigungspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin, erwartet in nächster Zeit keine solche Verhandlungen:

„Derzeit glauben beide Seiten noch, sie gewinnen mehr, wenn sie weitermachen, als wenn sie aufhören. … Wenn Putin jetzt Frieden schließt, muss er das zu Hause als Erfolg verkaufen können. Und gerade glaubt die russische Führung, sie könnte noch mehr gewinnen. … Für Russland ist ein schlechter Krieg gerade besser als ein schlechter Frieden“ 

sueddeutsche.de, 4.5.2022: „Schlechter Krieg statt schlechter Frieden“

Emotionen um die Lieferung schwerer Waffen

Ansprechen will ich hier weniger das Wechselbad der Gefühle, in das die Menschen durch den Krieg geworfen wurden: Da ist zum Beispiel das Bild vom David gegen den Goliath und die Bewunderung für den Mut und die Entschlossenheit der ukrainischen Soldaten und der Bevölkerung. Weniger ansprechen will ich auch den Zynismus von Putin und seine Begründung des Krieges und die Verlogenheit der russischen Staatspropaganda: Wie plump war die Aussage des russischen Außenministers Lawrow im italienischen Fernsehen, Hitler habe jüdisches Blut in den Adern gehabt (sueddeutsche.de, 2.5.2022: „42 Minuten Propaganda“). Wenig will ich hier schreiben über das durch den Krieg ausgelöste Flüchtlingselend und wenig auch über die Fernsehreden des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskij. Ein Fragezeichen will ich jedoch setzen hinter manchen Auftritt des Botschafters der Ukraine in Berlin, Andrij Melnyk, der nicht immer diplomatisch sondern aus der Not und Bedrängnis seines Landes heraus agiert und formuliert. Es war gewiss nicht weitsichtig, den deutschen Bundeskanzler eine „beleidigte Leberwurst“ zu nennen oder zu versuchen, mitten im Krieg die bisherige deutsche und die europäische Russlandpolitik aufarbeiten zu wollen. Jürgen Habermas schrieb dazu in seinem viel beachteten Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung: „Die Vernachlässigung der historisch begründeten Differenzen in der Wahrnehmung und Interpretation von Kriegen führt nicht nur, wie im Falle der brüsken Ausladung des deutschen Bundespräsidenten, zu folgenreichen Fehlern im Umgang miteinander. Sie führt, was schlimmer ist, zu einem reziproken Missverständnis dessen, was der andere tatsächlich denkt und will.“ 

Die Entspannungspolitik vor und nach dem Ende der Sowjetunion beschreibt Habermas als erfolgreich. Ein Fehler sei es aber gewesen, sie gegenüber einem unberechenbar gewordenen Putin fortzusetzen. Ein Fehler deutscher Regierungen sei auch gewesen, „sich auch unter dem Druck der Wirtschaft von billigen russischen Ölimporten abhängig zu machen.“ Daran anschließend gibt Habermas den weisen Rat: „Über das kurze Gedächtnis der heutigen Kontroversen wird eines Tages das Urteil der Historiker entscheiden.“  (sueddeutsche.de, 28.4.2022: „Krieg und Empörung“; Gastbeitrag von Jürgen Habermas).

In all diesen Stichworten und Tatbeständen stecken eine Menge Emotionen und Gefühle, die den kühlen Blick auf die Dinge verstellen können. Ansprechen will ich im Folgenden ein ganz spezielles Beispiel dafür: Die aufgeladenen Diskussionen in Deutschland um die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. In dieser Diskussion steckt alles, was Politik bieten kann: Heftige Diskussionen auf allen denkbaren Ebenen, im Politischen und in den Medien, es gab und gibt Beispiele für politische Strategie und Taktik, es gab und gibt einen zweifelhaften Schlagabtausch und jede Menge Emotionen. Die Entscheidung über die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine wurde zwar durch den mit großer Mehrheit gefassten Beschluss des Bundestags vom 28.4.2022 getroffen – dafür stimmten 586 Abgeordnete, dagegen waren 100 – doch die Diskussionen waren und sind auch danach nicht beendet.

Googelt man die Begriffe „Bundeskanzler Scholz“, „Zögerer“ und „Zauderer“, so erhält man reihenweise Angebote, deren Ton sich fortschreitend mehr und mehr steigerten. In der Fachsprache heißt dies „unter Druck setzen.“ Dabei wurden die militärischen Erfordernisse der zweiten Kriegsphase aufgeladen mit den abscheulichen russischen Gräueltaten in Butscha – sie wurden von russischer Seite als Fake und Inszenierung abgetan, was auch bei mir zu ungläubigem und zornigen Kopfschütteln führte. Treffend überschrieb Josef Kelnberger in der Süddeutschen Zeitung dazu seinen Bericht über die ARD-Talkshow Anne Will vom 1.5.2022 „Deutschland im Waffenfieber.“

Zum Zeitpunkt dieser Talkshow, dem 1.5.2022, war der Siedepunkt der Waffendebatte eigentlich bereits überschritten, nachdem der Bundestag am 28.4.2022 zugestimmt hatte. Beim Interview mit dem Spiegel, das am 22.4.2022 veröffentlicht wurde, hatte sich der Bundeskanzler noch gegen die Lieferung schwerer Waffen durch Deutschland ausgesprochen und gesagt, in dieser Lage „braucht es einen kühlen Kopf und gut abgewogene Entscheidungen.“ Er habe schon früh darauf hingewiesen, „dass wir alles tun müssen, um eine direkte militärische Konfrontation zwischen der Nato und einer hochgerüsteten Supermacht wie Russland, einer Nuklearmacht, zu vermeiden. Ich tue alles, um eine Eskalation zu verhindern, die zu einem dritten Weltkrieg führt. Es darf keinen Atomkrieg geben“  zitiert aus karenina.de: Olaf Scholz: „Es darf keinen Atomkrieg geben“ – Der Spiegel 17/2022, 22.4.2022. Wenige Tage später hat er seine Haltung geändert. Die von den Amerikanern am 26.4.2022 in Ramstein veranstaltete Konferenz dürfte wesentlich dazu beigetragen haben. In Ramstein hatten viele Länder – auch über die Nato-Mitglieder hinaus – ihre Bereitschaft zur Unterstützung der Ukraine. Scholz dürfte dadurch die Entscheidung leichter gefallen sein. Der Kanzler habe sein Position „weiterentwickelt“, sagte Saskia Esken (SPD) bei Anne Will.

Zur Einleitung seines Berichts „Deutschland im Waffenfieber“ nahm Josef Kelnberger Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) ins Visier, die Scholz zuvor immer wieder heftig kritisiert hatte. Die folgende Kelnberger-Passage spiegelt die angespannte und unsichere und uneinheitliche Debattensituation auch innerhalb der Ampel wider. Seine Formulierungen erinnern an Goethes Gedicht „Der Zauberlehrling“. Kelnberger schreibt:  „Doch, doch, das wird schon noch mit den Deutschen und diesem Krieg, glaubt Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Das ganze Land sei ja nur im „Waffenfieber“, sei vertieft in die „große und die kleine Waffenkunde“. Und am Ende werde Deutschland die Angst vor Putin, vor einem Dritten Weltkrieg, vor einem russischen Atomschlag verlieren. Die FDP-Politikerin ist da nun – ja, was? Frohen Mutes?“ Gegen Ende seines Berichts zitiert der Journalist die zu Anne Will zugeschaltete Außenministerin Annalena Baerbock, die einräumte, dass die Drohungen Putins sie nicht kalt lassen. Aber Deutschland und Europa müssten alles tun, dass Putin „nie wieder einen Angriffskrieg gewinnt“. Und dazu gehöre die Lieferung schwerer Waffen.  Ganz zum Schluss dann eine Aussage von Johann Wadephul, dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Union, der es bereits für einen „schweren politischen Fehler“ hielt, dass Olaf Scholz vom möglichen Atomkrieg überhaupt geredet hat. Dazu der letzte Satz des Berichts: „Das wäre natürlich auch eine Art, mit den Ängsten der Menschen umzugehen: einfach totschweigen.“

Sollte all dies noch nicht genügen, um die schwer durchschaubare und unsichere Situation vor der Entscheidung im Bundestag am 28.4.2022 zu beschreiben, seien im Folgenden noch ein paar Presseüberschriften zitiert, die am vermeintlichen Zögern des Kanzlers kaum ein gutes Haar ließen:    

  • „Jetzt geht es um Panzerlieferungen“ Details zur Militärhilfe für die Ukraine bleiben Verschlusssache – Opposition erkennt in Regierungskommunikation vor allem Chaos und Verschleierung (Heilbronner Stimme, 7.4.2022)
  • „Waffen, mehr Waffen und noch mehr Waffen“ Nato will ihre militärische Unterstützung für die Ukraine deutlich verstärken – Noch unklar, ob auch Panzer geliefert werden sollen (Heilbronner Stimme, 8.4.2022)
  • Olaf Scholz’ Zaudern bei schweren Waffen ist kaum nachvollziehbar“ Bei der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine gerät Olaf Scholz immer weiter unter Druck. Der Kanzler sollte seine Zurückhaltung aufgeben (tagesspiegel.de, 14.4.2022: Kommentar von Maria Fiedler)
  • „Auf den Jubel folgt Enttäuschung“ Kanzler Scholz unter Druck – Bei Waffen Uneinigkeit in Europa, der Koalition und in der SPD „Wir liefern Waffen, die alle anderen auch liefern“, sagt Scholz. Bei der Frage, ob er auch die Lieferung schwerer Waffen wäre, reagiert er stets ausweichend. Er sagt Sätze wie: „Wir werden keinen Alleingang machen. Deutschland wird nicht anders agieren als andere Länder.“ Das Problem ist, dass inzwischen nicht mehr ganz klar ist, was eigentlich die gemeinsame Linie der Nato ist. Es gibt Berichte, dass einzelne Länder bereits schwere Waffen in die Ukraine liefern. Tschechien soll mehrere Dutzend Panzer der sowjetischen Bauart T-72 sowie BMP-1-Schützenpanzer auf den Weg gebracht haben. Polen und die Slowakei haben sich bereiterklärt, Kampfjets sowjetischer Bauart in die Ukraine zu liefern, was bisher von Deutschland, aber auch den USA abgelehnt wird.“ (Heilbronner Stimme, 16.4.2022)  
  • „Zögerer Scholz“ Der Bundeskanzler gerät in der Frage von Waffenlieferungen unter Druck. Meint unser Autor: „Während das Sterben in Mariupol, Lwiw und Charkiw unvermindert weitergeht und die russischen Aggressoren ihre Großoffensive starten, lässt der Kanzler die Ukraine und die Öffentlichkeit im  Unklaren darüber, ob Deutschland zur Lieferung schwerer Waffen bereit ist. (Heilbronner Stimme, 19.4.2022;  Meinungskommentar von Jürgen Paul).
  • „Erbarmen mit Olaf Scholz!“ „Nach Ausrufung der Zeitenwende lautet die bange Frage nun, ob die kürzlich erst gewählte deutsche Regierung in der Lage sei, einer solch pathetischen Formel überhaupt gerecht zu werden. Für viele ist die Sache bereits klar: Bundeskanzler Olaf Scholz erweist sich ihnen als kläglicher Zauderer, der weder den Erwartungen seiner Bürgerinnen und Bürger zu entsprechen vermag noch den verzweifelten Wünschen der Ukrainer nach Waffenlieferungen. Der Kanzler und seine in Kungeleien mit Russland verstrickte Partei als unsichere Kantonisten eines Landes, das sich eben noch stolz darin wähnte, eine quälende Schuld bearbeitet zu haben? Droht hier die Wiederkehr des Verdrängten durch die Anhäufung neuer Schuld?“ (fr.de – Frankfurter Rundschau, 25.4.2022;  Kommentar von Harry Nutt).

Die Aufzählung von Zeitungsüberschriften und Zitaten ließe sich weiter fortsetzen. Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine? Ich suchte nach überzeugenden Argumenten und Antworten und fand häufig nur mehr oder weniger gelungen Formulierungen. Nicht nur Politikerinnen und Politiker äußerten sich recht vage, auch die öffentliche Meinung veränderte sich rasch. „Kurz nach Kriegsbeginn waren die Bürger dagegen – doch mittlerweile hat sich Stimmung gedreht“, berichtete die Süddeutsche Zeitung und nannte Zahlen, die die Unsicherheit der Öffentlichkeit zum Thema schwere Waffen belegen: „Im März hatten sich erst 31 Prozent positiv und noch 63 Prozent negativ zu der damals noch hypothetischen Waffenlieferungsfrage geäußert.“  Nach der Entscheidung des Bundestags am 28.4.2022 hielten 56 Prozent der Befragten die Entscheidung, zu der sich  Bundesregierung und Bundestag … durchgerungen haben, für richtig. Immerhin 39 Prozent halten solche Waffenlieferung für falsch. (Der hier verwendete Begriff „durchgerungen“ beschreibt den Entscheidungsprozess sehr genau). Allerdings sei, so der SZ-Bericht, „die Zustimmung zu einer harten Politik gegenüber dem Aggressor durchaus ambivalent. 54 Prozent der befragten Deutschen befürchtet, dass Russland noch weitere Länder angreifen wird. Und gar 59 Prozent glauben, das mit Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine die Gefahr eines russischen Angriffs auch auf westliche Länder steigt“  (sueddeutsche.de, 29.4.2022: „Mehrheit der Deutschen für Lieferung schwerer Waffen“).

Die Waffenfrage ließ und lässt sich meines Erachtens nicht klar und eindeutig mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten. Der Bundestag hat dazu einen Beschluss gefasst, doch über den Entscheidungsprozess und insbesondere über die Behandlung der Problematik durch den Kanzler wurde weiter geredet und geschrieben. Die Be- oder Verurteilung von Olaf Scholz wurde zu einem trefflichen Medienthema. Scholz wurde zum Zögerer und Zauderer abgestempelt. Er sollte zu einer raschen Entscheidung gedrängt werden, weil dieses Drängen in der breiten Öffentlichkeit womöglich gut ankommen würde. Mehr Zeit zum sorgfältigen Abwägen, vor allem auch der Folgen der Entscheidung, erschien überflüssig. Und als Scholz schließlich entschied und der Bundestag am 28.4.2022 mit großer Mehrheit beschloss, schien die Welt nur fürs Erste wieder in Ordnung.

Richard Meng, der Chefredakteur der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, fasste das Ganze so zusammen: „Es gibt viel zu diskutieren in diesen Tagen. Mit rationalen Analysen und Argumenten hoffentlich, weil alleine die verbreitete Gefühlsdebatte rund um den Ukrainekrieg nicht weiterführt“ (Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 5/2022; Editorial von Richard Meng).

Jürgen Habermas und Kurt Kister mahnten zum Nachdenken

Angesichts all dieser politischen und emotionale Kriegs- und Nebenkriegsschauplätze und auch angesichts der Vermengung der von mehreren Bundesregierungen getragenen Beziehungen zu Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit den möglichen Ursachen von Putins Krieg gegen die Ukraine war mir der in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichte ausführliche und durchdachte Gastbeitrag von Jürgen Habermas absolut willkommen (sueddeutsche.de, 28.4.2022: „Krieg und Empörung“; Gastbeitrag von Jürgen Habermas). Bereits in den einleitenden Sätzen seines Beitrags steckt Habermas das umfangreiche Betrachtungsfeld ab: „Schriller Ton, moralische Erpressung: Zum Meinungskampf zwischen ehemaligen Pazifisten, einer schockierten Öffentlichkeit und einem abwägenden Bundeskanzler nach dem Überfall auf die Ukraine.“ 

Einen Tag später veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung eine ausführliche Betrachtung von Kurt Kister, von 2011 – 2020 Mitglied der Chefredaktion der SZ, mit der Überschrift „Gefühle am Anschlag“. Kister leitet seinen Beitrag ein mit der Feststellung: „Die Emotion zählt heute zum schweren Geschütz. Logisch, aber misslich, dass es Olaf Scholz da schwer hat. Über Deutschland im Dreieck von Affekt, Effekt und Vernunft.“  Speziell zur umfänglichen Kritik an Scholz in Sachen schere Waffen für die Ukraine stellt Kister die Frage:  „Kann einem Politiker in Deutschland, gar einem Bundeskanzler, etwas Besseres passieren, als von Jürgen Habermas verteidigt zu werden?“ (sueddeutsche.de, 29.4.2022: „Gefühle am Anschlag“, von Kurt Kister).    

Dies sind zwei großartige Beispiele für die besondere Stärke der Printmedien: Das Ausleuchten von Hintergründen einer Entwicklung, das Aufzeigen von Zusammenhängen, die Vermittlung von Einsichten, wie dies die flüchtigen Bilder auf dem Bildschirm kaum leisten können. Beide Texte haben mir geholfen, die Gedanken und Schlussfolgerungen zu Putins Krieg und speziell zur Frage der Waffenlieferung an die Ukraine zu ordnen. Die Analysen von Habermas und Kister werden in einigen Jahren, wenn die Aufarbeitung des gegenwärtigen Geschehens ansteht, eine wichtige Rolle spielen.

Ähnlich wie andere Betrachter dieses Krieges beschreibt Jürgen Habermas – Kister hat ihn als das Urbild  des öffentlichen Intellektuellen mit einer enormen Prägekraft in den großen Debatten über Verfassung und Staat, über Freiheit und Beschränkungen, über Moral und Religion, über Nation und Geschichtsbilder bezeichnet – zum Einstieg seine persönliche Erschütterung über Putins Entscheidung zum Krieg,

„Nach 77 Jahren ohne Krieg und 33 Jahre nach Beendigung eines nur im Gleichgewicht des Schreckens bewahrten, wenn auch bedrohten Friedens sind die aufwühlenden Bilder eines Krieges zurückgekehrt – vor unserer Tür und von Russland willkürlich entfesselt. Wie nie zuvor beherrscht die mediale Präsenz dieses Kriegsgeschehens unseren Alltag. Ein ukrainischer Präsident, der sich mit der Macht der Bilder auskennt, sorgt für eindrucksvolle Botschaften. Die täglich neuen Szenen von roher Zerstörung und aufrüttelndem Leiden finden in den sozialen Medien des Westens ein selbstverstärkendes Echo. Das Neue an der Veröffentlichung und kalkulierten Öffentlichkeitswirksamkeit eines unberechenbaren Kriegsgeschehens mag uns Ältere dabei mehr beeindrucken als die mediengewohnten Jüngeren.“

Jürgen Habermas

Man spürt beim Lesen dieser Sätze geradezu die Fragen, die Habermas umtreiben: Wie kann es sein, dass ein Land und die Führung eines Landes nach zwei verheerenden Kriegen und deren Folgen, die gerade dieses Land getroffen haben, einen neuen Krieg entfesselt? Wo bleibt die Vernunft, das Verantwortungsbewusstsein, der Blick auf die Folgen? Wo bleibt die besondere Moral, die auch bei politischen Entscheidungen eine Rolle spielen sollte? Fragen, die kein Wegschauen zulassen, die geradezu zwingen, „etwas“ zu tun. „So wächst unter den Zuschauern im Westen die Beunruhigung mit jedem Toten, die Erschütterung mit jedem Ermordeten, die Empörung mit jedem Kriegsverbrechen – und der Wunsch, auch etwas dagegen zu tun. Der rationale Hintergrund, vor dem diese Emotionen landesweit aufwallen, ist die selbstverständliche Parteinahme gegen Putin und eine russische Regierung, die einen massiven völkerrechtswidrigen Angriffskrieg vom Zaune gebrochen haben und die mit ihrer systematischen menschenverachtenden Kriegführung gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen.“

Habermas erwähnt die Forderungen der Ukraine an den Westen und denkt dabei sicher auch an die medienwirksamen Auftritte des Präsidenten Selenskij und seinen Berliner Botschafter Melnyk: „Die Forderung der unschuldig bedrängten Ukraine, die die politischen Fehleinschätzungen und falschen Weichenstellungen früherer Bundesregierungen umstandslos in moralische Erpressungen ummünzt, sind so verständlich, wie die Emotionen, das Mitgefühl und das Bedürfnis zu helfen, die sie bei uns allen auslösen, selbstverständlich sind.“

Habermas stellt diesen berechtigten Forderungen und dem verständlichen Mitgefühl und all den Emotionen seine eigene Einsicht entgegen: „Und doch irritiert mich die Selbstgewissheit, mit der in Deutschland die moralisch entrüsteten Ankläger gegen eine reflektiert und zurückhaltend verfahrende Bundesregierung auftreten.“ Habermas verweist auf eine rote Linie, die sich der Westen selbst gezogen hat: Wir werden in diesem Krieg nicht zur aktiven Kriegsparte! Nüchtern beschreibt er, was dies auch für die Unterstützungsleistungen des Westens bedeutet: „Wer ungeachtet dieser Schwelle den Bundeskanzler in aggresiv-selbstgewissem Tenor in diese Richtung immer weiter vorantreiben will, übersieht oder missversteht das Dilemma, in das der Westen durch diesen Krieg gestürzt wird;  denn dieser hat sich mit dem auch moralisch gut begründeten Entschluss, nicht Kriegspartei zu werden, selbst die Hände gebunden… Das Dilemma, das den Westen zur risikoreichen Abwägung von Alternativen im Raum zwischen zwei Übeln – einer Niederlage der Ukraine oder der Eskalation eines begrenzten Konflikts zum dritten Weltkrieg – nötigt, liegt auf der Hand.“

Es würde den Rahmen dieser Betrachtung sprengen, wollte ich aus dem Habermas-Gastbeitrag all die scharfsinnigen Details zitieren. So beschreibt er, wie sehr viel leichter es ist, von der Tribüne anzufeuern als selbst zu kämpfen: „Die kriegstreiberische Rhetorik verträgt sich schlecht mit der Zuschauerloge, aus der sie wortstark tönt. Denn sie entkräftet ja nicht die Unberechenbarkeit eines Gegners, der alles auf eine Karte setzen könnte. Das Dilemma des Westens besteht darin, dass er einem gegebenenfalls auch zu atomaren Eskalation bereiten Putin nur durch eine sich selbst begrenzende militärische Unterstützung der Ukraine, die diesseits der roten Linie eines völkerrechtlich definierten Kriegseintritts bleibt, den Grundsatz signalisieren kann, dass er auf der Integrität staatlicher Grenzen in Europa besteht.“   

Lesenswert ist der letzte Abschnitt des Gastbeitrags, in dem der Europäer Habermas beschreibt, welche Konsequenzen die Europäische Union aus der aktuellen Entwicklung ziehen sollte: „Immerhin nicht zufällig sind die Autoren der „Zeitenwende“ jene Linken und Liberalen, die angesichts einer drastisch veränderten Konstellation der Großmächte – und im Schatten transatlantischer Ungewissheiten – mit einer überfälligen Einsicht Ernst machen wollen: Eine Europäische Union, die ihre gesellschaftliche und politische Lebensform weder von außen destabilisieren noch von innen aushöhlen lassen will, wird nur dann politisch handlungsfähig werden, wenn sie auch militärisch auf eigenen Beinen stehen kann. Macrons Wiederwahl markiert eine Galgenfrist. Aber zunächst müssen wir einen konstruktiven Ausgang aus unserem Dilemma finden. Diese Hoffnung spiegelt sich in der vorsichtigen Formulierung des Zieles, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren darf.“

Wie viel Zeit braucht eine schwierige Entscheidung?

Ich will noch einmal zurückkommen zu den „Zögerer“- und „Zauderer“- Vorwürfen an die Adresse des Bundeskanzlers und zu Josef Kelnbergers kritischer Überschrift „Deutschland im Waffenfieber.“ Jürgen Habermas schreibt, „… in Deutschland ist ein schriller, von Pressestimmen geschürter Meinungskampf über Art und Ausmaß der militärischen Hilfe für die bedrängte Ukraine ausgebrochen.“ Auch Kurt Kister beschäftigt sich in seiner Betrachtung „Gefühle im Anschlag“ mit diesem Aspekt. Kister untersucht die Einstellung führender Politikerinnen und Politiker zum Waffenthema und beschreibt, wie sie in ihrer je spezifischen Art der Kommunikation wahrgenommen werden:

Olaf Scholz ist der vernünftige Zauderer, der nicht ankommt; Annalena Baerbock ist die Weltreisende in Sachen Entschiedenheit; Robert Habeck ist der intellektuelle Yogalehrer, dem man vertrauen möchte.“ … „In einer Zeit, in der Empörung verständlicherweise ein Kriterium der Politik ist, tun sich Emphatikerinnen wie Baerbock leichter als Schwerenöter wie Scholz.  Wenn der Affekt mitregiert, gilt es als „Erfolg“ konstant, ein sehr beliebter Begriff, „Druck auszuüben“.  Dann werden Worte als Taten verstanden, und Toni Hofreiter wird zum national beachteten Außenpolitiker.“

Kurt Kister

Kister verweist auf das „Reiz-Reaktions-Modell“ aus der behavioristischen Psychologie, nach dem wichtige Teile der Ukrainepolitik der Bundesregierung bisher verlaufen seien: „Mit jeder Woche der live vermittelten Gräuel und Verbrechen russischer Truppen in der Ukraine (externer Reiz) sind die Wir-müssen-etwas-tun-Reaktionen auch in der Bundesrepublik stärker geworden (interner Reiz). Die Reaktionskette, jeweils unterbrochen von immer stärkeren Reizen, lautete so: zuerst Verurteilung und Empörung, dann Flüchtlingsaufnahme und finanzieller Unterstützung der Ukraine, dann Export von so genannten Defensivwaffen, dann so genannte schwere Waffen (erst mal fünf bis 50 ältere Flakpanzer). Der nächste Schritt wird wohl ein Energie-Embargo werden, zuerst Öl, dann auch Gas.“

Die Bezeichnungen „Zögerer“ und „Zauderer“ verwendet Kister nicht als Vorwurf oder gar als Forderung an den Bundeskanzler. Er benennt vielmehr jene Tatbestände, die Scholz jeden weiteren Schritt sorgfältig abwägen lassen: „Der vorletzte Schritt wäre in diesem Modell die Kriegsbeteiligung des Westens, also auch der Bundesrepublik. Dies fürchtet der Kanzler Scholz genauso wie der Philosoph Habermas.“ Bei der Beschreibung der einzelnen Schritte, bis hin zur „Kriegsbeteiligung“ gibt es ein entscheidendes Problem: „In der Wahrnehmung der politischen und militärischen Führung Russlands ist der Westen, ist die Nato, sind die USA längst Kriegsparteien, weil sie die Ukraine unterstützen.“ Auch Habermas spricht diese Problematik an:  „Der Westen, der ja schon mit der Verhängung drastischer Sanktionen von Anbeginn keinen Zweifel an seiner faktischen Kriegsbeteiligung gelassen hat, muss deshalb bei jedem weiteren Schritt der militärischen Unterstützung sorgfältig abwägen, ob er damit nicht auch die unbestimmt, weil von Putins Definitionsmacht abhängige Grenze des formalen Kriegseintritts überschreitet.“ 

Schon das Lesen dieser Beschreibung der Kette möglicher Konsequenzen einer Entscheidung ist schwierig.  Wie schwierig mag der Entscheidungsprozess in der Ampel-Regierung gewesen sein? Gefühlsausbrüche und große Emotionen dürften dabei wenig hilfreich gewesen sein. All jenen die meinten, Scholz als „Zögerer“ und „Zauderer“ beschreiben zu müssen, sollte der Schlusssatz in Kisters Betrachtung zu Denken geben: „Nach dem vorletzten Schritt gibt es nur noch einen letzten Schritt. Der besteht entweder im Einlenken Russlands und einem vollständigen Rückzug (solange Putin an der Macht ist, ist das nicht so wahrscheinlich). Oder im Dritten Weltkrieg.“

Kurt Kister schrieb zu Beginn seiner Betrachtung: „Kann einem Politiker in Deutschland, gar einem Bundeskanzler, etwas Besseres passieren, als von Jürgen Habermas verteidigt zu werden?“ Man kann diese Frage auch anders stellen: „Was läuft schief, wenn der bedeutendste deutsche Denker und Philosoph den Bundeskanzler verteidigen muss?“

Eine wichtige Rolle im Abwägungsprozess und auf dem Weg zur Schwere-Waffen-Entscheidung des Kanzlers dürfte die Ukraine-Konferenz am 26.4.2022 auf dem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt Ramstein gespielt haben. Auf Einladung der USA kamen dort Entscheidungsträger aus mehr als 40 Staaten zusammen; es ging vor allem um weitere Militärhilfen. Der Teilnehmerkreis ging weit über die Nato hinaus; vertreten waren auch traditionelle neutrale Staaten wie Schweden und Finnland und auch Australien, Japan und die EU. Der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin konnte in Ramstein verkünden, dass mehr als 30 Regierungen der Ukraine Militärhilfe im Gegenwert von gut 5 Mrd. US-Dollar geleistet haben. 

Von der Ramstein-Konferenz werden wenigstens zwei Punkte in Erinnerung bleiben:

  1. Die Aussage des US-Verteidigungsministers, die USA würden weiterhin „Himmel und Erde“ in Bewegung setzen, um der Ukraine die Waffen zu liefern, die sie brauche. Darüber hinaus Austins cool klingend Feststellung: „Die Ukraine ist überzeugt, dass sie den Krieg gewinnen kann, und das tut jeder hier.“
  2. Die Mitteilung der deutschen Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, in Berlin sei am Vortag – also am 25.4.2022 – entschieden worden, dass Deutschland die Lieferung von Gepard-Flugabwehrpanzer möglich machen werde. Über einen Ringtausch liefert Slowenien Panzer aus russischer Produktion , die das ukrainische Militär problemlos bedienen kann. Slowenien erhält dafür Panzer aus dem Bestand der Bundeswehr. Ferner werde es der Ukraine ermöglicht, bei deutschen Rüstungsfirmen Waffen einzukaufen, die dann von Deutschland bezahlt werden.

Ein paar Tage später sagte Deutschland die Lieferung von Panzerhaubitzen zu – als Teil eines Gesamtpakets mit Ausbildung und Munition sowie möglichen Beiträgen weiterer Nato-Partner (Heilbronner Stimme, 7.5.2022: „Lieferung von Panzerhaubitzen bestätigt“). Die Entscheidung über die Lieferung schwerer Waffen war damit offiziell erledigt; die „Zauderer-und-Zögerer-Diskussion war es nicht. 

Hatte der Bundeskanzler zu lange gebraucht, um diese Entscheidung zu treffen? Christine Lambrecht wies darauf hin, es sei keine leichte Entscheidung gewesen, dass sich Deutschland „von einer jahrzehntelangen Praxis der Zurückhaltung bei Rüstungsexporten in Kriegs- und Krisengebiete verabschiedet habe  (Informationen und Zitate aus einem Bericht der Deutschen Welle, dw.com, 26.4.2022: „Deutschland will nun doch schwere Waffen an die Ukraine liefern“). Damit war ein weiterer Schritt in der „Zeitenwende“ erfolgt; es war gewiss taktisch klug, die Kehrtwende im großen Kreis der Ramstein-Konferenz bekannt zu geben.

Tag der Pressefreiheit in Kriegszeiten

In die Zeit der Ausarbeitung dieses Papiers fiel am 3.5.2022 der Tag der Pressefreiheit. Angesichts der Unterdrückung freier und unabhängiger Medien und der Verfolgung von Journalisten in manchen Ländern – auch in der EU gibt es in Sachen Pressefreiheit „schwarze Schafe“ – wurde in den Kommentarspalten der Zeitungen zurecht auf die Bedeutung freier und unabhängiger Medien hingewiesen.

„Es gibt keine Demokratie ohne freie Presse. Und es gibt keine Diktatur mit freier Presse“, schrieb Jürgen Paul in der Heilbronner Stimme. „In einem demokratischen Rechtsstaat sorgen die Medien als sogenannte Vierte Gewalt dafür, dass den Mächtigen auf die Finger geschaut wird, dass Entscheidungen transparent werden, dass Korruption und Machtmissbrauch öffentlich gemacht werden und Konsequenzen für die Verantwortlichen haben“ (Heilbronner Stimme, 2.5.2022: „Demokratie braucht freie Presse“;  Kommentar von Jürgen Paul).

Dieser Beschreibung der staats- und gesellschaftspolitischen Bedeutung freier und unabhängiger Medien will ich ergänzen mit dem Ersten Gebot aus den „Zehn Geboten des Journalismus der demokratischen Gesellschaft“ (Schwarzkopfs Dekalog), die anlässlich des 160. Jubiläums der Deutschen Journalistenschule am 29.6.2009 in München verkündet wurden:

„Du sollst dir das Selbstverständnis zu Eigen machen, das deine legendären Vorbilder sich in den vergangenen Jahrzehnten in der Assimilation klassischer (US-) amerikanischer angelsächsischer Berufsgrundsätze erworben haben: Journalismus dient der Information der mündigen Bürgerinnen und Bürger, sie sich auf die Sachlichkeit, Zuverlässigkeit und Fairness der Journalisten verlassen können.“

Schwarzkopfs Dekalog, München, 29.6.2009

Ein Blick auf Realität journalistischer Arbeit: In der weltweiten Rangliste der Lage der Presse- und Informationsfreiheit, die von der Journalistenorganisation Reporter ohne Grenzen zusammengestellt wurde, ist Deutschland um drei Plätze auf den 16. Platz abgerutscht. Grund für diesen Abfall war weniger ein etwaiger „Druck von oben“ durch staatliche Maßnahmen wie etwa im EU-Mitgliedsland Ungarn oder in der Türkei. In Deutschland kommt der Druck auf Journalisten vielmehr „von unten“, aus Teilen der Zivilgesellschaft. Im Jahr 2016 wurden in Deutschland 18 körperliche Angriffe auf Journalisten registriert, 2021 waren es 80 Vorfälle. Dabei rechnet „Reporter ohne Grenzen“ mit einer hohen Dunkelziffer. 

Journalistenarbeit, etwa bei Corona-Demos, kann durchaus gefährlich werden. Allein bei Demonstrationen im Querdenker-Milieu wurden zwei Drittel der Angriffe registriert. Ein nicht akzeptabler Tatbestand in einer Demokratie, in der eine freie Presse unerlässlich ist (sueddeutsche.de, 3.5.2022: Gewalt gegen Journalisten nimmt zu“). Lebensgefährlich ist Journalistenarbeit in Kriegszeiten. Nach Angaben des ukrainischen Institute of Mass Information (IMI) wurden seit dem russischen Einmarsch sieben Journalisten getötet, neun verwundet und mindestens 15 werden vermisst (ver.di publik, 3-2022:  Der Krieg diktiert die Regeln“). 

Ist vor diesem Hintergrund, insbesondere in Kriegszeiten, Medienkritik angebracht? Ich fühlte mich zunächst auf dünnem Eis, als mir Teile der „Zögerer-und-Zauderer-Diskussion“ als Medienmache erschien, bei der es weniger um das Abwägen von Argumenten und um das Aufzeigen von Zusammenhängen und möglicher Folgen ging, als vielmehr um das Ausbreiten von Stimmungen und Emotionen, die in der Öffentlichkeit gerade wuchsen. Jürgen Habermas schrieb in der Süddeutschen Zeitung von einem schrillen, von Pressestimmen geschürten Meinungskampf über Art und Umfang der militärischen Hilfe für die bedrängte Ukraine. Diese Habermas’sche Formulierung nahm ich als Bestätigung dafür auf, dass auch in der aktuellen Kriegszeit eine kritische Diskussion über Medienmacht und Medienverantwortung möglich ist. Medienkritik ist nicht Schimpfen um des Schimpfens willen; nicht bloße Kritik an Journalisten, die meine Sicht der Dinge nicht teilen. Konstruktive Medienkritik bedeutet, die Arbeit von Journalisten an den Maßstäben zu messen, die sie sich selbst gesetzt haben: „Journalismus dient der Information der mündigen Bürgerinnen und Bürger, die sich auf die Sachlichkeit, Zuverlässigkeit und Fairness des Journalisten verlassen können.“  Oder: „Du sollst von Gesellschaft und Politik die Unabhängigkeit des Journalismus einfordern und diese Distanz auch gegen die Wortführer deines Berufs praktizieren und dazu beitragen, dass deine Redaktion sich nicht als Glaubensfestung einzelner Richtungen versteht“ (Schwarzkopfs Dekalog; München, 29.6.2009).

Mit Habermas und Putins Krieg leitet Carsten Brosda, Senator für Kultur und Mewdien seine Rede zur Eröffnung des Mediendialogs am 3./4.5.2022 in Hamburg ein. Eine gekürzte Fassung wurde als Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht (sueddeutsche.de, 3.5.2022: „Wir müssen reden“; Gastbeitrag von Carsten Brosda). Auch für Brosda war die Habermas-Betrachtung offensichtlich eine Aufforderung zum Mitdenken und Debattieren – ähnlich wie sie für mich ein wichtiger Denkanstoß war. Auch Brosda ist enttäuscht über manche Reaktionen, vor allem in den sozialen Medien: 

„Am Freitag hat Habermas einen abwägenden Artikel in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht. Tastend versucht er darin, die Dimensionen der deutschen Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu differenzieren. Ein solcher Essay ist ein Angebot – mitzudenken, zu widersprechen zu debattieren und im Gespräch darüber gemeinsam klüger zu werden. Doch was passierte?

Zumindest in den sozialen Medien wurde die komplexe Argumentation des Philosophen binnen Stunden auf 280 Zeichen Reaktion heruntergekocht, die Differenzierung verdampfte. Übrig blieben bewusst herbeigeführte Missverständnisse. Erklären kann man das nur damit, dass Wut und Polarisierung besser „klicken“ als der Versuch, zu differenzieren und die Dinge zu verstehen.  Die Ökonomie digitaler Medien verengt hier den demokratischen Diskurs fundamental.“

Carsten Brosda

Brosda verknüpft diese Aussage mit dem in Brüssel diskutierten Digital Service Act, an dem die EU-Kommission gegenwärtig arbeitet und sagt klar und deutlich, wie dieser aussehen sollte und wie nicht: 

„Wenn es schlecht läuft, entsteht dadurch eine quasi staatliche Medienaufsicht bei der Europäischen Kommission, die die in vielen Kompromissen errungenen Regelungsrahmen in den Mitgliedstaaten jedenfalls teilweise überflüssig zu machen droht. … Wut und Empörung, Freund/Feind-Denken und Lust an der immer schärferen Zuspitzung sind keine guten Ratgeber. Wir können stattdessen aushalten, dass Dinge komplizier, uneindeutig und widersprüchlich sind. Deshalb brauchen wir keine staatlich organisierten Gatekeeper, die Richtigkeit und Wahrheit vorher prüfen, sondern wir brauchen starken und freien Journalismus.“ 

Carsten Brosda

Brosda zitiert dazu zwei alte Hasen des Journalismus – Peter Glotz und Wolfgang R. Langenbucher, aus deren 1969 erschienen Buch „Der missachtete Leser“: „Die öffentliche Aufgabe des Journalisten besteht nicht in der öffentlichen Kundgabe seiner privaten Gesinnung, sondern sie liegt in der Betreuung, Förderung und Beförderung gesellschaftlicher Zeit-Kommunikation.“

Zum heutigen Journalismus kommend wählt Brosda eine herausfordernde Überschrift: „Wenn russische Journalisten diese Freiheiten hätten, würden sie sie so nutzen wie wir?“ Und kommt zurück auf die aktuellen Herausforderungen des heutigen Journalismus: 

„Leider wird auch Journalismus heute manchmal hinweggetragen, von den Zwängen der Medien. Wenn Berichterstattung im 280-Zeichen-Gehechel stattfindet, wenn Twitter-Eskalation die Besetzung der Talkshows bestimmen und jede noch so profilneurotische Polarisierung zum Grundsatzstreit hochgejazzt wird, dann klingen eigentlich demokratische Prozesse plötzlich hohl. Unsere Gesellschaft ist aber angewiesen auf Journalistinnen und Journalisten, die nicht an der Eskalationsschraube drehen, die nicht „mad as hell“ werden, sondern die in höllischen Zeiten einen klaren Kopf bewahren. Gesellschaftliche Diskursanwälte können es ermöglichen, die Kakophonie öffentlicher Äußerungen auszuhalten. Eben weil wir darauf vertrauen können, dass jemand die Fragmente zu einem Mosaik zusammenfügt und uns vernünftige Deutungsangebote unterbreitet.“

Carsten Brosda

Kann aus all dem, was ich hier zusammengetragen habe, aus der vielstimmigen und manchmal zweifelhaften Diskussion um die Lieferung schwerer Waffen, aus den Betrachtungen von Habermas, Kister und Brosda, letztlich eine neue Debatte über Medienfreiheit und Medienverantwortung entstehen? Es wäre zu wünschen!

An Stelle eines Schlussworts ein Blick in eine ungewisse Zukunft

Ich will die Ukraine ansprechen und die USA. Beide Länder liegen sehr weit auseinander; ihre Zukunft könnte unterschiedlicher nicht sein. Und doch berührt das, was in den nächsten Jahren in der Ukraine und in den USA geschieht, die Zukunft Europas und der Europäischen Union ganz unmittelbar.

Zunächst zur Ukraine: Wird Putin die Atomkarte ziehen? Ich kann diese Frage nicht beantworten. Ein Experte mit wesentlich größerer Erfahrung und Einsicht äußerte sich vor kurzem im IPG-Journal der Friedrich Ebert Stiftung ausführlich zu dieser Frage. Helmut W. Ganser, Brigadegeneral a. D., Diplom-Psychologe und ehemaliger stv. Leiter der Stabsabteilung Militärpolitik im Verteidigungsministerium sowie militärpolitischer Berater des deutschen Ständigen Vertreters bei der Nato in Brüssel schrieb: „Die wirksame Unterstützung der Ukraine in ihrer Abwehr der russischen Aggression ist völkerrechtlich legitim und politisch geboten. Sie darf jedoch nicht grenzenlos ein. Denn der russische Präsident verfügt über die reale Option einer atomaren Eskalation.“  Das Gravitationszentrum der militärischen Unterstützung der Ukraine liege eindeutig in Washington und nicht in den europäischen Hauptstädten. Es seien primär die umfangreichen amerikanischen Bestandsleistungen, die strategische Wirkung auf den Kriegsverlauf ausüben. 

Und gerade angesichts dieser Tatsache sieht Ganser ein Dilemma für die europäischen Verbündeten der USA: „Vor diesem Hintergrund wächst der europäische Abstimmungsbedarf mit den Vereinigten Staaten über Zweck, und Ziel aller Unterstützungsmaßnahmen und deren Risiken für die europäische Sicherheit. Es geht bei diesem Krieg letzten Endes um das Schicksal Europas. Daraus folgt, dass die europäischen Nato-Partner eine mitgestaltende Rolle suchen müssen, und das Ruder nicht nur Washington überlassen dürfen.“ Ganser benutzt zur Beschreibung dieser Situation ein anschauliches Bild: „Auf der Vorderbühne sind Russland und die Ukraine Kriegsparteien. Auf der Hinterbühne des Geschehens, wo Regie geführt wird, wird die dominierende geopolitische Ebene des Konflikts immer offensichtlicher: das machtpolitische Ringen zwischen Moskau und Washington.“

Ganser wünscht sich vom westlichen Bündnis mindestens zwei Klärungsschritte:

  • In einem strategischen Diskurs, der diesen Namen verdient, muss zunächst höchstmögliche Klarheit von Ziel und Zweck der Unterstützung (der Ukraine) erreicht werden …  Formulierungen wie „Putin darf nicht siegen“ oder „Die Ukraine darf nicht verlieren“ müssen nach Auffassung von Ganser konkretisiert werden.
  • Eine (überfällige) politische Debatte darüber, welche künftige europäische Sicherheitsordnung überhaupt angestrebt wird.  Wie können die unvermeidliche Konfrontation und Instabilität im Verhältnis zu Russland in den kommenden Jahren bewältigt werden? Wie stellt sich die – perspektivisch durch Finnland und Schweden verstärkte – Nato in diesem Zusammenhang auf?

Speziell zu Putins atomarer Drohung schreibt Helmut W. Ganser: „Natürlich ist es das Ziel der russischen Warnungen, eine Abschreckungswirkung auf westliche Staaten zu erzeugen. Ängste in Politik und Bevölkerung zu schüren sowie den Westen von der weiteren Unterstützung des ukrainischen Militärs abzuhalten. Es wäre jedoch verwegen und verantwortungslos, die Glaubwürdigkeit und Entschlossenheit der Führung im Kreml mit Spekulationen oder Glaubenssätzen kleinzureden.“ (In meinen Augen liefert der Militärexperte hier eine nachträgliche Bewertung der „Zögerer“ und „Zauderer-Diskussion“ in Deutschland).

Um Putin von einer nuklearen Eskalation abzuhalten plädiert Ganser nicht vorrangig für noch mehr Waffen sondern für Geheimdiplomatie: „Um dies (die nukleare Eskalation) zu verhindern, ist die permanente, vertrauliche strategische Kommunikation zwischen Washington und Moskau auf der Ebene des Weißen Hauses und des Kreml sowie zwischen beiden Generalstäben von größter Bedeutung. Man kann nur hoffen, dass diese Kommunikation weiter funktioniert, wie beispielsweise in der Kubakrise.“ Allerdings befürchtet Ganser, „dass Washington sich schrittweise an die Schwelle herantastet, an der der Kreml eine Teil seiner zahlreichen taktische Atomstreitkräfte in Bewegung setzt.“

Nochmals auf die Debatten in Deutschland zurückkommend: „Vor diesem Hintergrund greift die deutsche Debatte um die Lieferung vergleichsweise weniger schwerer Waffen an die Ukraine zu kurz. Die entscheidende Prüffrage ist, inwieweit deutsche Waffentransfers heut und morgen in Verbindung mit den Leistungen anderer Staaten zum erfolgreichen Abwehrkampf Kiews beitragen, ohne dass sich Moskau in Reaktion darauf fatalen Eskalationsentscheidungen nähert. … Denn im Kern geht es um das verantwortungsbewusste, rationale Navigieren in einer politisch-moralischen Dilemmasituation, in der es keine eindeutig richtigen Wege aus der Gefahr gibt“ (IPG-Journal, 24.5.2022; Helmut W. Ganser: „Apokalypse gleich“).  

Dieser außergewöhnlichen Analyse des Militärexperten will ich eine Frage anfügen: Wie ist es möglich, solche komplexen Zusammenhänge im Rahmen einer 60 oder 90 Minuten dauernden Talkshow aufzuarbeiten, die bewusst – um das Publikum am Schirm zu halten – mit kontrovers diskutierenden Leuten besetzt wurde?

Bemerkenswert ist, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der immer lauter nach Waffen rufen muss, zu einer ähnlichen Schlussfolgerung wie Helmut W. Ganser kommt. Am 21.5.2022 erklärte er im Fernsehen, der Krieg in der Ukraine könne letztlich nur durch Diplomatie beendet werden. Dies ist zweifellos richtig; doch wann, wie und mit wessen Vermittlung dies geschehen wird, ist völlig offen. Es wäre vermessen, darüber zu spekulieren. Putin hat sein Land mit dem Überfall auf die Ukraine in eine Sackgasse geführt. Er wird einen wesentlich Beitrag dazu leisten müssen, dass Russland in dieser Sackgasse nicht verkommt.  Doch auch im Westen ist Weitsicht und viel diplomatisches Geschick gefragt. 

Es war klug, die in den letzten Wochen immer wieder aufflammenden Diskussionen über alle möglichen Fehler in der bisherigen Russlandpolitik des Westens, insbesondere auch Deutschlands, auf Sparflamme zu halten. Ob der ukrainische Präsident bewusst versucht hat, eine solche Bewältigungsdiskussion zu starten – etwa durch die Ausladung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und mit Verweis auf seine Politik als Kanzleramtschef und Außenminister – kann ich nicht beurteilen. Andrij Melnyk, der ukrainische Botschafter in Berlin hatte am 12.4.2022 noch nachgelegt, als er einem deutschen TV-Sender erklärte, der Bundeskanzler solle statt Steinmeier nach Kiew kommen (Heilbronner Stimme, 13.4.2022: „Steinmeier in Kiew unerwünscht“; Heilbronner Stimme, 13.4.2022: „Überraschungscoup gescheitert“). Bereits vor der Steinmeier-Ausladung hatte Selenskyj mit der Vergangenheit operiert: „Ich lade Frau Merkel und Herrn Sarkozy ein, Butscha zu besuchen und zu sehen, wozu die Politik der Zugeständnisse an Russland in 14 Jahren geführt hat. Sie werden die gefolterten Ukrainer und Ukrainerinnen mit eigenen Augen sehen.“  (zdf.de, 4.4.2022: „Deutschland und Frankreich verhinderten Nato-Beitritt“). Der SZ-Journalist Nico Fried fasste später zusammen, um was es bei einem solchen Versuch der Aufarbeitung der Vergangenheit gehen wird: „Ihr (Merkels) Kontakt zu Putin war intensiv, stets offen, häufig kontrovers. Als Regierungschefin hat sie gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkosy der Ukraine einen frühen Beitritt in die Nato verwehrt. Zusammen mit Francois Hollande und später Emmanuel Macron vermittelte sie seit 2014 im Ukraine-Konflikt, ohne dass sie ihn beilegen konnten. Sie setzte sich für die Gaspipeline Nord Stream 2 ein, lehnte aber Waffenlieferungen an die Ukraine ab. Wann wird Merkel sprechen? Wird sie Fehler einräumen, ihre Entscheidung verteidigen – oder beides?“ (sueddeutsche.de, 28.4.2022: „Das Schweigen der Kanzlerin a. D.“).

Ich halte es für richtig, gegenwärtig, während der heißen Phase der Krieges, diese Vergangenheits-Diskussion nicht zu führen. Jürgen Habermas schrieb in seinem Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung:  „Über das kurze Gedächtnis der heutigen Kontroversen wird eines Tages das Urteil der Historiker entscheiden“. Würde man im Westen eine solche Diskussion – parallel zu allen anderen Problemen, die der Krieg aufwirft – gegenwärtig führen wollen, könnte sich Putin im Kreml vergnügt die Hände reiben, wenn sich die Staaten, die sich nun geschlossen gegen ihn stellen, auf einmal gegenseitig ihre früheren Entscheidungen um die Ohren schlagen würden: Der Westen in Selbstbeschäftigung.

Eine Katastrophe für Europa: Donald Trump wieder im Weißen Haus

Zur Katastrophe für Europa und zum Befreiungsschlag für Putin könnte eine ganz andere Entwicklung werden, auf die die Europäer kaum Einfluss haben. Ich will sie als Frage formulieren: Was wäre wenn im November 2022 die Trump-Republikaner die Mehrheit im US-Kongress zurückgewännen und Donald Trump 2024 als Präsident wieder ins Weißen Haus einzöge? Mit Selenskyj hat Trump noch ein Hühnchen zu rupfen.  Von ihm wollte Trump Dreck gegen seinen damaligen Widersacher Joe BidenDie erhoffte Wahlkampfmunition hat ihm Selenskyj nicht geliefert; die Affäre führte vielmehr zum ersten Impeachment-Verfahren gegen Trump. 

Der Wiederaufstieg Trumps und seiner Partei in den USA hätte unmittelbare Auswirkungen auf die EU.  Bereits seit einiger Zeit pflegen führende Republikaner und konservative Gruppen der USA enge Kontakte zu Viktor Orban und der ungarischen Regierungspartei Fidesz. Diese Zusammenarbeit, so scheint mir, geschieht so gut wie unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit in Europa. Die amerikanischen Konservativen feiern Orban als Held und Vorbild. Im August 2021 ging Tucker Carlson, der Chefideologe des konservativen TV-Senders Fox News von Budapest auf Sendung, unter anderem mit einem umfänglichen Auftritt von Victor Orban. Die Botschaft von Carlson an seine amerikanischen Landsleute lautete: „Wenn Ihnen die westliche Zivilisation am Herzen liegt, Demokratie, traditionelle Familien, und Sie der grausame Angriff globaler Einrichtungen auf alle drei empört, dann sollte Sie Ungarn interessieren.“ Im Interview revanchierte sich Orban für das Lob: Trumps „America First“ sei in Zentraleuropa als sehr positive Botschaft aufgenommen worden, denn so seien die Chancen für eine „Ungarn zuerst“-Politik gestiegen (tagesschau.de, 7.8.2021:  „Wie Fox News Orban huldigt“). 

Mitte Mai 2022 war der Eröffnungsredner bei einer Großveranstaltung der Conservative Political Action Conference (CPAC) in Budapest der ungarische Premierminister Victor Orban. Er erklärte seinen amerikanischen Freunden, wie er die „internationale liberale Linke“ besiegt hat. Die New York Times berichtete darüber mit einem Gastbeitrag des Professors für Soziologie und Internationale Angelegenheiten an der Princeton University, Kim Lane Scheppele, der seinen Beitrag überschrieb mit „What Donald Trump and Ron DeSantis Are Learning About the Politics of Retribution“ (nytimes.com, 24.5.2022). In freier Übersetzung könnte diese Überschrift lauten: „Von Victor Orban lernen heißt siegen lernen“. Scheppele schreibt, die Regeln der Retribution (Vergeltung) seien ganz einfach: „Lasse Deine Gegner zahlen und Deine Freunde prosperieren.“ Tucker Carlson formulierte dies 2021 so: „Man könne auch von einer kleinen Nation wie den Ungarn lernen, was zu tun sei um die Zerstörung eines Landes zu verhindern: Grenzen dicht, Fremde, schon gar aus anderen Kulturen unerwünscht, Christentum und Kleinfamilie als gesellschaftliches Idealbild“ (tagesschau.de, 7.8.2021: „Wie Fox News Orban huldigt“). Donald Trump 2024 wieder im Weißen Haus? In der Europäischen Union hätte er ein strategisches U-Boot mit Namen Victor Orban“.  

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